Manfred Kloiber: Maximilian Schönherr, Sie waren auf beiden Veranstaltungen. Welchen Stellenwert haben sie für Forschung und Wissenschaft?
Maximilian Schönherr: Die Leitkonferenz für Computer-Visualisierungen (und nichts anderes sind Computerspiele nun einmal) war und ist die amerikanische Siggraph. Auf der Siggraph stellen Wissenschaftler ihre Spitzenforschung, wie sonderbar und speziell sie sein mag, erstmals vor. Die Algorithmen für Bewegungsunschärfe, die Polygonreduktion von 3D-Objekten, künstlicher Nebel und spiegelnde Oberflächen wurde alles erstmals auf einer der vielen Siggraph-Konferenzen vorgestellt und gehören heute zum Standard.
Ich hatte vor ungefähr zehn Jahren den Eindruck, dass auf der Game Developers Conference einige Wissenschaftler, etwa aus den englischen Labors von Microsoft, tatsächlich neue Forschungsergebnisse vorstellten. Heute ist die GDC sehr anwendungsorientiert, also kein wissenschaftlicher Fachkongress, gibt aber eine hervorragende Bilanz über das Innenleben der Spieleentwicklerszene.
Kloiber: Also über genau das, was die Gamescom dann von außen zeigt, für den Endanwender?
Schönherr: Ja. Wobei die Gamescom ein Motor für Forschung und Entwicklung ist. Man sieht da gut etablierte Techniken, die von Wissenschaftlern aufgegriffen werden. Ein typisches Beispiel von 2010 ist der Kinect-Bewegungssensor für die Xbox. Den sieht man heute zum Beispiel in der IT-Abteilung des Deutschen Krebsforschungszentrums.
Kloiber: Dann machen wir zunächst einen Rundgang durch die beiden Veranstaltungen.
Unter den Frauen sind dreimal mehr "Handwerker"
"Smashy City" ist ein Spiel für mobile Geräte. Man steuert mit zwei Fingern auf dem berührungsempfindlichen Bildschirm ein roboterartiges Wesen durch eine belebte Stadt. Wann immer das Wesen auf ein Haus stößt, schlägt es dieses kurz und klein.
Ausgedacht hat sich das Spiel der Brite Troy Lonergan, und er provozierte schon mit dem Titel seines Vortrags auf der Game Developers Conference die Entwicklergemeinde: "How I Created a Top 50 App in 8 Weeks" – wie ich diesen Bestseller in acht Wochen erschaffen habe, und das ohne programmieren und zeichnen zu können. Lonergan plädierte für hoch qualifiziertes Personal (in seinem Fall nur zwei Experten) und eine extreme Beschränkung des Aufwands. Man braucht keinen Sounddesigner, wenn es Explosionssounds kostenlos gibt, sagte er. Warum Smashy City so beliebt wurde, versteht Troy Lonergan auch nicht.
Emily Taylor: "Wir haben uns die Statistiken in unterschiedlicher Weise angeschaut."
Das ist Emily Taylor von Daybreak Games in Kalifornien. Sie beschreibt, wie sie mit dem zwölf Jahre alten MMO-Klassiker "Everquest" Statistik betreibt. Sie befragte Spieler, sie beobachtete aber auch deren Spielverhalten. Wer in dem Spiel, so die Forschungsaufgabe, kämpft, und wer bastelt? Die große Mehrheit der Frauen und Männer in dem Spiel kämpft. Allerdings sind unter den Handwerkern dreimal mehr Frauen. Die meisten Spieler sind um die 40 Jahre alt, und je älter sie werden, desto mehr verlassen sie die Schlacht und widmen sich dem Handwerk.
Emily Taylor: "Wir fanden heraus, dass Frauen alle Aspekte des Spiels genießen, aber im handwerklichen Bereich durchschnittlich deutlich engagierter sind, als Männer."
Hier stellt ein Entwickler in einem abgetrennten Raum der Gamescom ausgewählten Besuchern das groß angekündigte, aber noch immer nicht fertige Rollenspiel "Torment – Tides of Numenera" vor. "Alles, wirklich alles in diesem Spiel hat seine eigene Geschichte", sagt dieser Entwickler von Numenera. Es ist ein philosophisches Spiel, das mit Zeitsprüngen und psychischen Transformationen arbeitet, ein Rückgriff auf Spiele der 1980er Jahre mit viel Text, aber mit natürlich aufregenderer Grafik.
Auch noch nicht erschienen, und typisch für ein anderes Genre, ist das Flugzeugspiel "Airhart", programmiert von den Blindflug-Studios in der Schweiz. Das Team aus fünf Entwicklern, Grafikern, 3D-Konstrukteuren und dem Produzenten hat sich ein halbes Jahr Zeit genommen. Auf der Gamescom stellen sie den Prototypen vor – für PC und Mac, jedoch nicht für Tablets und Smartphones. Jeremy Spielmann, der Designer des Spiels:
"Ein Nachteil der mobilen Plattform ist generell, dass bei allen Controls die Haptik fehlt. Es fehlt bei den Akzelerometern auch die Rückstellung. Das heißt, man weiß eigentlich nie genau, wo der Nullpunkt ist. Man ist auf das visuelle Feedback angewiesen, um wieder die Mitte zu finden. Und das ist ein sehr wichtiger Punkt: Bei einem Joystick kannst du ihn einfach gehen lassen, und dann ist er wieder zentriert. Und das ist etwas, was zum Beispiel bei Smartphones sehr fehlt."
"Der Trend zu Virtual Reality setzt sich fort"
Wissenschaftsjournalist Maximilian Schönherr im Gespräch mit Manfred Kloiber
Kloiber: Das waren ein paar Spieletrends, eingesammelt auf der Gamescom und auf der Game Developers Conference, die immer im Vorfeld der großen Spielemesse hier in Köln stattfindet. Maximilian, eine Insiderfrage: In welcher Sprache werden solche Spiele denn programmiert?
Schönherr: Mit C#. Der Spiele-Kern-Softwaremarkt wird dominiert von zwei Konkurrenten, eben Unity und Unreal. Viele dieser kleinen, unabhängigen Studios kennen beide und suchen sich dann einen je nach Spieleidee aus. Was beide in ihren neuen Versionen gut beherrschen, ist die Integration von 3D-Räumen, sprich Virtueller Realität.
Kloiber: Auf der Gamescom vor einem Jahr zeichnete sich dieser VR-Trend schon ab. Hat er sich jetzt bestätigt?
Schönherr: Ja. Den entscheidenden Impuls gab Samsung vor einem halben Jahr mit der Veröffentlichung einer VR-Brille unter 100 Euro. Der koreanische Konzern ging dabei den konsequenten Weg, die virtuelle Welt nicht an den PC zu koppeln, sondern an das hauseigene Smartphone. Man legt es vorn in die Brille ein. Der Prozessor ist stark genug, ein weitgehend latenzfreies Tiefenerlebnis zu ermöglichen.
Auf der Messe wimmelt es von Anwendungen für diese und andere Brillen, es gibt auch Sitze mit Schrittmotoren, die mit bestimmten VR-Geräten kommunizieren. Das heißt, man fährt mit der Brille Achterbahn, die scheinbare Bewegung wird dann durch Drehen und Neigen des Sitzes unterstützt.
Kloiber: Was gibt es an Software für diese Geräte?
Schönherr: Das reicht vom Skifahren bis zu klaustrophobischen Horrorszenarien. Mir haben die Programmierer einiger Studios erzählt, dass es ausgesprochen leicht ist, eine 2D-Anwendung in die virtuelle Realität zu befördern. Man hat ja, wenn man ein räumliches Spiel entwickelt, wo zum Beispiel ein Kämpfer sich nach vorn durch Labyrinth-Gänge hindurchschießt, eine virtuelle Kamera. Genau diese Kamera wird in VR dann von unserem Kopf gedreht. Und die 3D-Tiefeninformation bekommt man – so funktioniert jede VR-Brille – in Form von zwei Bildern auf die Augen projiziert.
Ich fand auf der Messe bemerkenswert, dass die Aussteller ihre VR-Ideen dem Laufpublikum mehr zeigen können. Man muss sich die Brille aufsetzen, um diesen Wow-Effekt zu bekommen. Die 3D-Welt auf einem Flachbildschirm zu zeigen, hat mit dem gemeinten Erlebnis nichts zu tun.
Und um auf die Softwarefrage zurückzukommen: Facebook hat vor zwei Jahren den VR-Brillenhersteller Oculus übernommen und vorgestern eine strategische Partnerschaft mit dem Game-Engine-Hersteller Unity bekanntgegeben. Das sind Zeichen von einer Überschwemmung mit VR-Inhalten. Facebook bietet schon jetzt reichlich VR-Rundumsichten an, die man mit der Brille am besten sehen kann.
"Virtual-Reality-Brillen bringen das Gleichgewichtsorgan extrem durcheinander"
Kloiber: Von Piloten hörte man immer wieder von Übelkeit und Erbrechen, wenn sie zu lange im Flugsimulator saßen. Besteht diese Gefahr auch bei den neuen VR-Brillen?
Schönherr: Mir wurde selbst bei den relativ konservativen ARD- und ZDF-Olympia-Apps für VR so übel, dass ich die Brille nach einer halben Stunde wieder absetzte. Das hat nichts mit dem Flugsimulator zu tun, auch nicht mit Seekrankheit. Das Problem besteht darin, dass mein visueller Cortex Informationen geliefert bekommt, mein Körper aber nicht. Es bringt unser Gleichgewichtsorgan extrem durcheinander, wenn wir, mit der VR-Brille auf der Nase, gegen eine Wand stoßen, unser Kopf aber dabei ganz ruhig bleibt. Die VR-Krankheit ist sehr wenig erforscht. Vier Dinge weiß man:
- Kinder sollten sich davon fern halten, weil ihre Gehirne sich noch formen.
- Frauen sind empfindlicher als Männer.
- Der Effekt kann noch Stunden nach dem VR-Eintauchen anhalten, auch zu Kopfschmerzen und Erbrechen führen.
- Schließlich, die gute Nachricht: Man kann sich langsam daran gewöhnen, mit kleinen, leicht gesteigerten Dosen.