Die USA haben ein anderes Verständnis von Geheimdienstarbeit, sagte Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, im Deutschlandfunk. Nach dem 11. September habe sich in den USA eine Geheimdienstbürokratie entwickelt, die sich mittlerweile verselbstständigt hat. Die Öffentlichkeit in den USA könne daher die Empörung über Spionage auch bei Freunden nicht nachvollziehen.
Deutschland müsse den USA den angerichteten Schaden deutlich vor Augen führen, gleichzeitig aber die Spionageaffäre angesichts des unterschiedlichen Verständnisses von Geheimdienstarbeit in beiden Ländern nüchterner betrachten. Grenzenloses Vertrauen sei nicht mehr angebracht. Allerdings solle sich Deutschland davor hüten, das gesamte deutsch-amerikanische Verhältnis im Kontext der Affäre zu betrachten. Beide Länder blieben Partner: Angesichts der Krisen in der Welt hätten Deutschland und Amerika große Aufgaben gemeinsam zu lösen.
Das Interview mit Norbert Röttgen in voller Länge:
Christiane Kaess: An die zunächst unglaublichen Enthüllungen von Edward Snowden hatte man sich nach einem Jahr fast schon gewöhnt. Aber die jüngste Nachricht, die das deutsch-amerikanische Verhältnis belastet, die brachte für viele dann doch das Fass zum Überlaufen.
US-Geheimdienste sollen einen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes als Agent angeworben haben, um gezielt Abläufe in der Bundesregierung in Erfahrung zu bringen. Auch den NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages soll der BND-Mann im Auftrag der US-Geheimdienste ausspioniert haben.
In den vergangenen Tagen überschlugen sich die empörten Reaktionen und Forderungen nach einer angemessenen Reaktion von deutscher Seite aus. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist verärgert über die USA. Es wäre höchst beunruhigend, wenn es munter mit dem Bespitzeln weiterginge, während wir gerade dabei sind, die NSA-Abhöraktivitäten aufzuarbeiten und dafür im Bundestag einen Untersuchungsausschuss eingerichtet haben, so zitiert ihn heute die "Saarbrücker Zeitung".
Norbert Röttgen von der CDU ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag und er hält sich zurzeit mit einer Delegation von Bundestagsabgeordneten in den USA auf. Wir erreichen ihn in Washington. Guten Morgen, Herr Röttgen!
Norbert Röttgen: Guten Morgen, Frau Kaess!
Kaess: Herr Röttgen, wie viel Verständnis finden Sie bei Ihren Gesprächspartnern in den USA für die deutschen Sorgen und die deutsche Wut?
Röttgen: Das ist unterschiedlich ausgeprägt. Man muss sagen, dass in den Zeitungen in den USA das Thema referiert wird, es aber ganz wenig Kommentare gibt. Die Empörung, die wir haben, die wird hier auch in der Öffentlichkeit nicht geteilt, und darum ist es wichtig, dass wir in ganz unterschiedlichen Gesprächen deutlich machen, dass diese Dummheiten, die in den Geheimdiensten der USA gegenüber Deutschland vor allen Dingen immer wieder vorkommen, einen enormen außenpolitischen Schaden anrichten.
"Dummheiten der US-Geheimdienste richten enormen Schaden an"
Das teilen wir allen unseren Gesprächspartnern mit, haben wir gestern gemacht, werden wir morgen tun, damit auch klar wird, dass ein Schaden eintritt, den sich beide Seiten im deutsch-amerikanischen Verhältnis nicht leisten können, weil dieses Verhältnis so wichtig und unverzichtbar ist.
Kaess: Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton war gerade in Deutschland zu Besuch und sie hat gesagt, sie würde es begrüßen, wenn bekannte amerikanische Persönlichkeiten nach Deutschland kämen, und zwar auf eine Reise, wo sie nur zuhören. So wird sie zitiert. Offenbar erhofft sie sich damit mehr Verständnis für die deutsche Seite. Haben Sie den Eindruck, dass man sich in den USA nicht bewusst ist über das Ausmaß an Enttäuschung in Deutschland?
Röttgen: Ja, das ist so. Wir berichten das auch immer. Und es ist notwendig, leider notwendig, dass wir das berichten. Noch mal: In den Zeitungen, im öffentlichen Raum wird das nicht selber erzeugt. Es entsteht nicht von selber. Es herrscht auch in der Öffentlichkeit, auch bei Gesprächspartnern die Meinung vor, dass das doch alle Seiten machen, auch die Deutschen machen das doch ganz bestimmt genauso.
Das heißt, es gibt auch ein anderes Selbstverständnis der geheimdienstlichen Tätigkeit, ein anderes Selbstverständnis, aber auch ein anderes Verständnis der anderen Seite, und darum ist wechselseitiges Reisen ganz sicher wichtig. Es ist aber auch nicht so, dass nur die einen zuhören müssten; wir brauchen viel mehr Dialog. Das ist eine meiner Erfahrungen nicht nur bei dieser Reise und diesem Aufenthalt hier. Wir müssen mehr miteinander reden.
Auch wir Deutschen müssen vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass es ein anderes Verständnis der Geheimdienste in den USA gibt. Das heißt, wir müssen da selber realistisch werden. Aber wir dürfen übrigens auch nicht den Fehler machen, jetzt die Dummheiten der USA auf dem Gebiet der Geheimdienste zum Maßstab zu nehmen generell für das deutsch-amerikanische Verhältnis. Das wäre sicherlich auch ein Fehler, den wir nicht machen dürfen.
"Kontrollverlust einer riesigen Geheimdienstbürokratie"
Kaess: Sie sagen, es gibt ein anderes Verständnis. Sehen die USA den BND als Partner oder als Spionageziel?
Röttgen: Sie sehen ihn offensichtlich als beides. Wir sind ein wertgeschätzter Partner, der BND, in vielen gemeinsamen Themen, Herausforderungen und Ängsten, die bestehen. Aber auf der anderen Seite gibt es dieses Verständnis in einer Geheimdienstbürokratie, die insbesondere nach dem Anschlag vom 11. September und dem Trauma, das dieser Anschlag ausgelöst hat - das Trauma dauert bis auf den heutigen Tag an, es prägt die Gesellschaft in den USA -, ein anderes Verständnis, das darin besteht, wir sammeln auch alles mal, was es gibt an Informationen mit den enormen Mitteln, mit dem wahnsinnig vielen Geld, das zur Verfügung steht.
Darum, glaube ich, ist auch vielleicht so etwas eingetreten wie ein Kontrollverlust einer riesigen Geheimdienstbürokratie. Meine Vermutung ist eher, dass diese Dummheiten nicht auf irgendeiner politischen Ebene stattfinden, sondern im Rahmen einer sich verselbständigenden großen Geheimdienstbürokratie. Auch darüber muss geredet werden.
Kaess: Herr Röttgen, wenn wir noch mal auf die deutsche Seite schauen. Bisher haben ja die USA auf die dringende Bitte der Bundesregierung eigentlich nichts zur Aufklärung beigetragen, und auch gestern hat das Weiße Haus auch wieder nur bekräftigt, dass es sich um eine angemessene Lösung des Problems mit Deutschland bemühen wolle. Fühlen Sie sich von oben herab behandelt?
Röttgen: Man muss auch realistisch in der Erwartung sein. Bedauerlicherweise kommunizieren die USA nicht öffentlich. Wir tun das hier und wir sagen auch, es wäre enorm wichtig, wenn Vertreter der Regierung auch öffentlich zu diesem Sachverhalt Stellung beziehen würden.
Kaess: Aber Gehör finden Sie damit nicht?
Röttgen: Das ist nicht meine Erwartung. Meine Erwartung ist nicht, dass es eine öffentliche Kommunikation dazu geben wird. Ich kann mich irren, aber es ist nicht meine Erwartung, und wir bekommen auch keine Hinweise darauf, dass die USA ihre Politik auf diesem Gebiet, was die Nichtkommunikation in solchen Fällen angeht, ändern werden. Das trägt dazu bei, dass Misstrauen weiter geschürt wird. Wenn so etwas passiert, wird dazu nicht Stellung bezogen. Das ist etwas, was wir hier kommunizieren: Das erzeugt außenpolitischen Schaden, der enorm ist. Dafür schaffen wir ein Bewusstsein.
"Wir müssen realistischer und nüchterner werden im Umgang mit den USA"
Aber auf der anderen Seite müssen wir auch uns selber mit diesem Fall beschäftigen, und darum ist mein Appell, wir selber müssen ein anderes, ein realistischeres Verständnis der Geheimdienste und ein Verständnis in den USA selber gewinnen, auch realistischer werden, nüchterner werden insofern im Umgang mit den USA.
Kaess: Das heißt, wir können eigentlich nicht erwarten, dass sich etwas ändert?
Röttgen: So ist es. Wenn man die Rede von US-Präsident Obama zu den Snowden-Veröffentlichungen noch mal genau sich anhört oder durchliest, dann hat er ja überhaupt keine substanzielle Veränderung angekündigt. Auch gegenüber der Politik gegenüber anderen Ländern gibt es keine Andeutung, dass es Veränderungen gibt.
Also die USA sind traumatisiert durch die Erlebnisse vom 11. September, sie haben eine enorme Geheimdienstbürokratie entwickelt mit enormen technologischen Möglichkeiten, enorm viel Geld. Ich rechne nicht mit einer Veränderung, sondern wir müssen darüber reden, ihnen den Schaden vor Augen führen, den wir uns außenpolitisch beide nicht leisten können.
Aber wir dürfen auch, um es noch mal zu sagen, dieses Fehlverhalten nicht zum Maßstab der allgemeinen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika machen. Ich nenne Isis, die Herausforderungen des Terrorismus, des Fundamentalismus, Irak, Ukraine, ein gemeinsames Handelsabkommen. Wir haben so viele gemeinsame Aufgaben, wo dieses Bündnis unverzichtbar ist.
"USA den Schaden vor Augen führen"
Kaess: Aber, Herr Röttgen, wenn Sie keine Veränderung erwarten, wie soll das denn in Zukunft aussehen? Wie soll eine Zusammenarbeit möglich sein? Die ist dann mehr von Misstrauen als von Vertrauen geprägt?
Röttgen: Sie ist von einer Zusammenarbeit geprägt, wie sie stattfindet. Aber der Begriff des Vertrauens, grenzenlos und in jeder Hinsicht auf dem Gebiet der Geheimdienste, das ist für dieses Gebiet der Geheimdienste nicht angemessen. Das ist jedenfalls nicht die Einstellung der USA. Also sollte es auch unsere nicht sein. Da müssen wir einfach nüchterner werden und das Selbstverständnis der USA auch zur Kenntnis nehmen, also damit umgehen, umgehen lernen, und gleichzeitig dieses besondere Verhältnis, was auch auf dem Gebiet der Geheimdienste besteht, nicht zum Gegenstand der allgemeinen Beziehungen machen.
In den politischen Beziehungen, die Beziehungen zwischen den Regierungen, die brauchen Vertrauen, die leben von Vertrauen, und diese Unterscheidung, die müssen wir machen, einfach im Sinne einer realistischen Außenpolitik und eines realistischen Verhältnisses zu den USA.
Kaess: Aber das heißt, Deutschland sollte durchaus auch Gegenspionage betreiben, wie es ja jetzt auch immer wieder gefordert worden ist?
Röttgen: Nein. Das macht ja keinen Sinn, wenn wir das, was ich als Dummheit der USA mit außenpolitischem Schaden betrachte, dann selber machen. Wir können ja nicht auf die Dummheit der USA mit einer eigenen Dummheit reagieren. Wir haben doch ganz andere Gefahren, wo wir Geheimdienste für brauchen, und nicht, um wechselseitig Alliierte und Freunde zu bespitzeln. Das ist eine Fehlinvestition, eine schädliche Fehlinvestition von geheimdienstlichen Mitteln. Wir sollten nicht das Gleiche machen. Es bringt ja übrigens auch gar nichts, sondern es ist ein Übermaß an Geheimdiensttätigkeiten, und wenn wir das auch machen würden, würden wir den gleichen Fehler machen. Das ist eine verquere Logik.
"Schädliche Fehlinvestition von geheimdienstlichen Mitteln"
Kaess: Es gibt andere Forderungen. Die Opposition zum Beispiel drängt darauf, Edward Snowden in Deutschland zu vernehmen, verlangt eine Zusage, dass er nicht an die USA ausgeliefert werde, und die Opposition droht damit, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, sollte das nicht so kommen, umso mehr, als jetzt Snowden auch es abgelehnt hat, per Videokonferenz dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages zugeschaltet zu werden. Ist das nicht letztendlich die einzig verbleibende Möglichkeit, angemessen zu reagieren?
Röttgen: Nein, das ist nicht die richtige Möglichkeit. Erstens haben wir auch offensichtlich nicht immer eine ganz realistische Einschätzung des Zeugen Snowden. Wenn ich dessen Zeugenverhalten werte, dann ist es auch sehr stark von Taktik und nicht von Kooperation geprägt auf der einen Seite.
Kaess: Aber er könnte doch zur Aufklärung beitragen, und das ist doch das, was wir wollen.
Röttgen: Ja. Aber das scheint mir – das muss man, glaube ich, wirklich sagen, wenn man sich das Verhalten von Snowden anschaut – eben auch eine nicht realistische Erwartung zu sein, nach seinem Verhalten jedenfalls, das er selber an den Tag gelegt hat. Wir müssen etwas nüchterner werden in diesen Fragen und nicht so sehr uns von moralischen Erwartungen leiten lassen, sondern auch nüchterner das Verhalten von anderen Zeugen oder auch Geheimdiensten zur Kenntnis nehmen.
Zweitens haben wir eine klare völkerrechtliche Verpflichtung zur Auslieferung gegenüber den USA. Die besteht ohne jeden Zweifel. Und drittens rate ich uns, eben auch jetzt nicht patzig zu werden oder zu sagen, dann versuchen wir, euch zu schaden. Das ist doch nicht die Art, wie wir das Verhältnis auch auf den Gebieten der Geheimdienste zu den USA pflegen sollten, sondern wir müssen mit ihnen reden, ihnen sagen, dass das schädlich ist für beide beteiligten Seiten und wir müssen den Schaden reduzieren und nicht ausweiten, und wir müssen auf eine Verhaltensänderung dringen, aber gleichzeitig auch nüchtern und realistisch bleiben.
Kaess: Und eine nüchterne Reaktion wäre zum Beispiel, US-Agenten auszuweisen beziehungsweise die Kontaktpersonen des angeworbenen BND-Mannes?
Röttgen: Ja klar! Diejenigen, die rechtswidrig Spionage in Deutschland machen, da greift das Gesetz in Deutschland mit allen Konsequenzen. Das ist doch völlig klar, was Aufenthalt anbelangt, aber auch Strafbarkeit. Das ist völlig klar. Aber das ist auch noch nicht Politik, sondern das ist die Anwendung von Recht und Gesetz, die sowieso selbstverständlich ist.
Kaess: Herr Röttgen, eine Frage zu einem ganz anderen Thema muss ich an diesem Morgen stellen, wir kommen nicht umhin: Das WM-Halbfinale gestern in Brasilien. Ihre erste Reaktion auf diesen sensationellen Sieg der deutschen Nationalmannschaft?
Röttgen: Ich habe es ja hier in Washington gesehen, zusammen mit Amerikanern und Deutschen, und wir haben uns gemeinsam gefreut. Es übertrifft jede Erwartung. Nach dem 1:0 war ja gewisse Erleichterung da und dann ging das immer weiter und hörte nicht auf. Und das Beste an dem Ergebnis ist nicht nur seine Höhe, sondern dass wir richtig toll gespielt haben und jeder darauf stolz sein kann.
Kaess: Norbert Röttgen war das von der CDU. Er ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag und zurzeit mit anderen Abgeordneten des Bundestages in den USA. Danke für das Gespräch.
Röttgen: Ich danke Ihnen sehr, Frau Kaess.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.