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Spione

Die Romane des 35-jährigen Marcel Beyer gehören zweifellos zu den merkwürdigsten und eigenwilligsten Erzählwerken, die derzeit in deutscher Sprache geschrieben werden. Was jedoch keineswegs heißt, daß sie unzeitgemäß wären. Sie sind im Gegenteil der Zeit hart auf den Fersen. Besonders was die zunehmend alles durchdringende Frage nach den Funktionen der Medien angeht sowie den fast schon total anmutenden medialen Charakter des menschlichen Zusammentreffens mit der Welt. Mit einer radikalen, konsequenten Methodik spielt Beyer diese Thematik an ganz verschiedenen erzählerischen Stoffen durch. So wurde in seinem ersten Roman "Das Menschenfleisch" von 1991 aus der um Liebe und Eifersucht sich drehenden Fabel zugleich eine narrative Untersuchung über die Wechselwirkungen zwischen dem Medium Körper und dem Medium Sprache. Was den Stoff der Liebesgeschichte selbstredend in ein reichlich neues, jedenfalls ungewohntes Licht rückte, das gelegentlich durchaus auch an eine ganz auf gnadenlose Präzision eingestellte Laborbeleuchtung erinnerte. Die Laborsituation selbst wurde denn auch zum expliziten Bestandteil der Fabel in Beyers zweitem Roman "Flughunde", der ihm breite Anerkennung eintrug. Darin ging es um den Rückblick auf die Geschichte einiger historischer Nebenfiguren aus dem Umkreis von Josef Goebbels. Und auch hier stellte Beyer seine Fabel wieder in eine ebenso streng durchdachte wie verblüffende Perspektive. Nicht nur, daß eines der bei Kriegsende von ihren Eltern ermordeten Goebbels-Kinder als Protagonistin figurierte. Was besonders überraschte war die immense Plausibilität, mit der Beyer die akustischen Forschungen eines willigen Fachmannes zum Leitfaden der ganzen Handlung machte - Forschungen, die sowohl der Manipulation der Massen durch Schall und Sprache dienten als auch der in grausamen Menschenversuchen erprobten Zurichtung des Einzelnen.

Eberhard Falcke |
    In seinem neuen Roman nun hat sich Beyer von dem thematischen Feld Körper-Stimme-Sprache-Akustik erst einmal verabschiedet, um sich einem anderen, medial nicht minder bedeutsamen Feld zuzuwenden, nämlich dem des Visuellen. Und auch hier ist er seinem brillanten Verfahren treu geblieben, dem ausgewählten Stoff durch eine hochspezialisierte Perspektive einen ungeahnten Dreh zu geben. Ginge es nur nach dem Umriß der Handlung, dann könnte man Beyers neuen Roman "Spione" kurzerhand als eine tragisch und unselig verwickelte Familiengeschichte bezeichnen, über die sich die darunter leidenden Kinder endlich Aufschluß verschaffen wollen. Aber ihn interessieren ebenso wie alle echten oder vermeintlichen Tatbestände des Falles auch die medialen Wege, auf denen sie erkundet, transportiert und vermittelt werden. Beyers spezialisierter Blick hat auch hier wieder ein überraschendes, literarisch hochinteressantes Ergebnis hervorgebracht. Und daß es auch im Roman um besondere Blicke, vor allem oft heimliche geht, das unterstreicht nach dem Titel "Spione" gleich noch einmal ein vorangestellter Prolog, der dem Türspion gewidmet ist.

    "Manchmal stehe ich eine Weile am Spion und sehe in den Flur, auch wenn ich weiß, ich werde keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Ich stehe am Spion und warte. Ich warte nicht einmal, ich schaue nur, die Tür ist zu. So habe ich als Kind gestanden, auf einem Hocker, einer Kiste, dann auf Zehenspitzen. Und so stehe ich nun. Ich höre Atmen. [...] Durch den Spion steht alles nah und zugleich ungreifbar vor meinem Auge."

    Der Blick auf Nahes und dennoch Ungreifbares ist das Leitmotiv dieses Romans. Das Nahe sind die seltsamen Spannungen und Feindschaften innerhalb einer Familie. Und das Ungreifbare sind die fernen Ursachen, die Vorgänge und Geheimnisse, die vermutlich dahinter stecken. Wer das genauer herausfinden will, das ist die jüngste Generation dieser Familie. Die besteht aus den Geschwistern Carl, Paulina und Nora sowie ihrem Cousin, dem Ich-Erzähler. Einmal, im Kindesalter verbrachten sie die Osterferien zusammen, und bei dieser Gelegenheit stießen sie auf einige familiäre Besonderheiten.

    "Wir vier haben dieselben Augen. Schon als wir Babys waren, müssen die Leute über unsere Augen gesprochen haben. Sie konnten nicht anders, als Bemerkungen zu machen, noch als wir in die Schule kamen.

    'Ihr habt alle dieselben Augen.'

    Der schwarze Punkt, der braune Rand, das Weiße. Als ob wir Spanier wären. Sie haben uns fortwährend angestarrt. Wir wollten wegsehen, aber das war nicht möglich, wir mußten ihren Blick immer erwidern.

    Andere Leute meinten: 'Eher Italiener.'

    Die drei und ich haben diese Italieneraugen, daneben nur ihr Vater und meine Mutter, die Geschwister sind."

    Diese südländischen Augen machen den Kindern ihre Zusammengehörigkeit bewußt und kennzeichnen sie zugleich als Außenseiter in ihrer Umgebung. Und die Frage, von wem sie wohl diese Augen geerbt haben, führt sie unvermeidlich zurück in die Vergangenheit ihrer Familie, zu der Generation der Großeltern. Doch da stoßen sie auf eine Schranke des Verschweigens, der Geheimnistuerei und bedrohlicher Feindseligkeiten. Zwar lebt der Großvater noch, nur ein paar Straßen entfernt, aber seine zweite Ehefrau verhindert mit paranoidem Furor jeden Kontakt. Sogar mit einer Axt und Morddrohungen auf den Lippen soll sie einst den Sohn und die Tochter ihres Mannes aus dem Haus getrieben haben. Die erste Frau des Großvaters, die Großmutter von Carl, Paulina, Nora und dem Ich-Erzähler, ist offenbar verstorben. Von ihr aber haben die Kinder ihre dunklen Augen, mit denen sie darum umso begieriger die Nebel der Vergangenheit zu durchdringen suchen. Als sie zufällig ein Fotoalbum ihres Großvaters aufstöbern, suchen sie darin immer wieder nach den dunklen Augen ihrer Großmutter, doch das einzige, was sie entdecken, sind Leerstellen.

    "Hat unser Großvater keine Aufnahme von ihr allein gemacht? [...] Unser Großvater in der Luftwaffenuniform wird doch seine Kamera hervorgenommen haben, ihr Mann, der ständig photographiert, der auch keine Gelegenheit ausläßt, Porträts von sich selbst machen zu lassen. [...] Oder unsere Großmutter ist aus dem Photoalbum erst später verschwunden, die Lücken, leeren Seiten und die losen Bilder haben mit ihr zu tun. Vielleicht hat jemand alle Photographien herausgenommen, auf denen sie wiederzuerkennen ist, wo sie den Mund nicht zu einem bloß höflichen Lächeln verzieht, wo ihre Augen nicht im Schatten liegen. Sämtliche Bilder, auf denen man die Italieneraugen sehen kann. Vielleicht hat der direkte Blick unserer Großmutter einen Betrachter dieser Bilder so beunruhigt, wie unser Blick die Menschen zu beunruhigen scheint. [...] Möglich, irgendein Betrachter hat das alles nicht ertragen."

    Dabei hat die Großmutter, das besagen die bruchstückhaften Informationen über sie, keineswegs ein spurloses Dasein gefristet. Sie war Opernsängerin, was den Stolz und die Phantasie ihrer wißbegierigen Enkel umso mehr anfacht. Andererseits war sie aber eben auch die Frau eines Mannes, der ein fatales Talent zum Verschweigen besaß und besitzt. Wodurch sich auch seine eigene Vergangenheit nicht leicht erschließen läßt. Tatsächlich machte der Großvater seine Karriere einst gewissermaßen als Geheimnisträger: Im Dritten Reich gehörte er nämlich zu den ersten Mitgliedern der zunächst heimlich, im Widerspruch zu den Versailler Verträgen gegründeten deutschen Luftwaffe; dann nahm er an den heimlichen Aktionen der Legion Condor zur Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg teil; und von alledem verriet er seiner Verlobten mit den schönen Augen kein Sterbenswörtchen, womit diese auch noch einverstanden war. Genaue Rechenschaft wollten sich beide ohnehin nicht ablegen - weder sie darüber, was ihr Verlobter trieb, noch er darüber, was die Bombenabwürfe seiner Maschine anrichteten.

    "Gesehen hat er nichts, kein Dorf und keine Brücke. In den entscheidenden Augenblicken hat er keine Gelegenheit, den Bomben hinterherzuschauen, wie sie sich dem Erdboden nähern, wie sie über dem Dorf zu Punkten werden [...] Aber die Kamera am Flugzeugrumpf hat jeden Schritt in Einzelbildern festgehalten. Sobald die Filmrollen aus den Kanistern kommen, sobald die ersten Abzüge getrocknet sind, versammelt sich das fliegende Personal, um den zurückliegenden Einsatz zu bewundern, die Aufnahmen werden gleich an die Wand geheftet. Da ist die ausgeklinkte Munition über der Landschaft. Da sind selbst Schatten anderer Maschinen zu erkennen. Es folgt ein stilles Bild, nichts außer den bekannten Punkten. Und dann der Rauch, die Flammen und die Trümmer. Es heißt, die Brücke hätte es sein sollen. Es ist das Dorf geworden."

    Guernica war eines der getroffenen Ziele, strategisch ohne Bedeutung, dafür voller Zivilisten, Frauen und Kinder. An solche Geheimaktionen wollte man sich später nicht mehr gern erinnern. Als dann, nach dem Krieg, die Großmutter an Krebs starb, erweiterte die zweite Ehefrau des Großvaters, von allen nur "die Alte" genannt, das Verdrängungs- und Schweigegebot auch auf die private Sphäre. Nichts durfte mehr an die verstorbene Frau erinnern, der Kontakt des Großvaters zu seinen Kindern und später den Enkeln wurde von ihr durch Psychoterror unterbunden. Es machte "der Alten" schon genug zu schaffen, wenn ihr die Vorgängerin in wahnhaften Visionen zwischen den Bäumen des Gartens erschien.

    Es gibt zwischen den Fraktionen dieser zerstörten, auseinandergerisenen Familie keine direkten Kontakte, keinerlei normale Kommunikation. Da aber trotzdem ein sehnsüchtiges Interesse füreinander existiert, jedenfalls zwischen dem Großvater und den Enkeln, müssen heimliche Umwege gesucht werden. Die Familienbeziehungen sind - und darin begründet sich der Titel des Romans - zu Spionagebeziehungen pervertiert. Die Kinder fahnden im Verborgenen nach Hinweisen auf ihre Großmutter und belauern das Haus des Großvaters, während dieser fast konspirativ den ihm kaum bekannten Enkeln irgendwie nahe zu kommen versucht. Fast fühlt er sich dabei wie die Agenten in seinen geliebten Spionageromanen.

    "Wenn er sich vorstellt, er könnte zufällig einem Mitglied seiner früheren Familie begegnen, fühlt er sich selbst wie ein Spion, kommt es ihm vor, als liefe er zwischen den Linien. Er will den Mantelkragen hochschlagen, im Schatten gehen. Ist er in Gedanken bei der Opernsängerin, verrät er seine zweite Frau. Ist er bei seiner zweiten Frau, verrät er seine frühere Familie. [...] Im Dunkeln hält er Ausschau nach den Jugendlichen, aber sie sind wahrscheinlich schon verschwunden. Wie ein Spion bewegt er sich noch immer zwischen seiner lebenden und seiner toten Frau. Kein Lichtsignal und keine Morsezeichen. Gerade noch die Zeiger seiner Armbanduhr kann er in diesem schwachen Licht erkennen, der Leuchtstoff blättert langsam ab. Er hätte längst an der Haltestelle sein müssen, springt von der Parkbank auf und wendet sich in Richtung Ausgang, rennt durch den Park, obwohl ihm beide Beine eingeschlafen sind."

    Es ist eine Geschichte voll von Zerwürfnissen, Qualen und Verhängnis, die Marcel Beyer hier erzählt - oder vielmehr inszeniert nach einem genau durchdachten Plan. Für diesen Plan und seine Ausführung ist es ganz wesentlich, daß es sich auch in jeder Hinsicht um einen Fall der Sprachlosigkeit handelt und damit um den einer gravierenden Kommunikationsstörung. Der Keim dazu ist schon in der von militärischen Schweigegeboten beherrschten Beziehung der Großeltern angelegt. Die innigsten Momente, so legt es der Roman nahe, scheinen für die Verlobten jene gewesen zu sein, wenn ihre Stimme den dunklen Zuschauerraum des Theaters füllte und so auch ihn erreichte, während er mit dem Opernglas ihre Augen auf der Bühne suchte. Nachdem die zweite Ehefrau ihr paranoides Regiment übernommen hat, wird neben dem Sprechen auch noch das Hören unter Kuratel gestellt. Der Großvater darf die Mitglieder seiner Familie nicht treffen und nicht mir ihnen telefonieren und den Empfang von Opern im Fernsehen behindert "die Alte" durch Manipulationen an der Antenne. Allenfalls Todesverwünschungen werden gelegentlich ausgetauscht. Dadurch wird auch das Vertrauen der Kinder in die Sprache zerstört.

    "Als Kind glaubt man den Eltern jedes Wort, man käme nicht auf die Idee, an ihren Worten auch nur im geringsten zu zweifeln. Wo sich ein Abgrund auftut, werden die Eltern ihn überbrücken, darauf vertraue ich."

    In diesem Fall jedoch bauen die Worte keine Brücken. Bleiben also nur die Augen, die Blicke und das, was sie erhaschen. Und genau hier hat Beyer mit der höchst methodischen Stilisierung seiner Romanerzählung angesetzt. Da ist, wie gesagt, alles aufs Visuelle abgestellt. Die dunklen Augen als Verwandtschaftszeichen und Persönlichkeitsmerkmal sind zugleich das Leitmotiv, das sich in ein ganzes Feld zugehöriger Motive auffächert: Dazu gehören das Sehen, Spähen, Spionieren; die Blicke, offene wie heimliche, etwa hinter Gardinen hervor und sogar die wahnhaften Visionen der "Alten"; dazu gehören die visuellen Medien, besonders die Aufnahmen des Fotoalbums, sowie die optischen Instrumente und Apparate wie Opern- und Ferngläser, Türspione, Lupen, Kameras. Bezeichnenderweise findet die einzige direkte Begegnung zwischen dem Großvater und einem seiner Enkel vermutlich beiderseits mit vorgehaltener Kamera statt. Der Ich-Erzähler ist längst erwachsen, als er beschließt, noch einmal das Haus des Großvaters in Augenschein zu nehmen und abzulichten. Dabei sieht er sich plötzlich auf der Straße einem alten Mann gegenüber.

    "Es könnte sein, daß es unser Großvater ist. Es wäre möglich, daß ich, ganz ohne Absicht, ohne vorherige Überlegung, eine Aufnahme von unserem Großvater gemacht habe, das Alter stimmt, der Ort und auch der Blick. Er hebt die Hände an den Kopf, man kann, man könnte das auf dem Photo nicht genau erkennen, aber vielleicht hält er ein Fernglas vor den Augen. Nein, eher wird es sich um eine Kamera handeln. [...] Zwei Menschen wechseln einen Blick, doch ihre Augen sieht man nicht, das linke kneifen sie zu, das rechte ist hinter dem Sucher verborgen."

    Aber sicher ist auch das nicht. Ein paar Zeilen später heißt es: "Vielleicht halten die Hände des alten Mannes auch nichts."

    Sicher aber ist mit diesem Showdown die Mediatisierung des Blicks in diesem Roman total geworden. Was bleibt sind Vermutungen beim Betrachten der dabei geschossenen Photographien. War es überhaupt wirklich der Großvater? Hat da womöglich jemand hinter der Gardine spioniert? Mit Gewißheit aufklären läßt sich das nicht. Denn die Bilder sind vieldeutig, trügerisch, manchmal verschwommen. Und die Erklärungsmöglichkeiten der Sprache bekommen in diesem Familiendrama keine Chance. Dabei bleibt es auch, als die vier Enkel erwachsen sind. Die Verabredung zu einem gemeinsamen Treffen, dem ersten seit jenen Osterferien vor 23 Jahren, führt offenbar nicht zum Ziel.

    Dennoch haben die Erinnerungen, Recherchen und Mutmaßungen des Ich-Erzählers ein Ergebnis hervorgebracht: nämlich ein neues Familienalbum, das an die Stelle von allem Verschwundenen und Verschwiegenen treten kann. Es fällt in eins mit dem Roman von Marcel Beyer, der übrigens demselben Jahrgang 1965 angehört, wie sein Protagonist.

    "Und nun ist ein erfundenes Familienalbum entstanden, in dem nicht nur unsere Großeltern, unsere Eltern und wir zu sehen sind, sondern genauso auch die Alte, die immer unsichtbar hat bleiben wollen. Eine Sammlung ausgedachter Bilder, auf denen man verzerrte Gesichter und Altersflecken, sogar an manchen Stellen Geister sieht. Verwischte Szenerien darunter, zum Teil verwackelte Aufnahmen, doch keine unter ihnen mit der Absicht einer Retuschierung undeutlich gemacht, im Gegenteil: Jedes einzelne Bild scheint gewisse Züge ohne jedes Erbarmen ans Licht zu bringen, ungerührt."

    Zu den "verwischten Szenerien" gehören auch gespenstische Momentaufnahmen aus dem vom Terror gezeichneten deutschen Herbst 1977, die sich der kindlichen Erinnerung des Ich-Erzählers eingeprägt haben. Zu den Geisterbildern hingegen zählt vermutlich jene in Rom lebende alte Opernsängerin, die sich wegen einer tödlichen Erkrankung von Mann und Kindern trennte, dann aber doch überraschend genas und ein neues Leben anfing. Darüberhinaus hat Beyer hier wieder zahlreiche zeitgeschichtliche Verweise und Materialien eingearbeitet, was die Vielschichtigkeit des Romans noch um einiges erhöht. Und ein Bild von ganz eigener metaphorischer Kraft bietet jener Riesenpilz, der eines Tages entdeckt wird wie eine Wucherung des Verdrängten. Er füllt den ganzen Hügeluntergrund aus, auf dem die zerstrittene Familie lebt, und ließ seit je die Häuser schimmeln.

    "Sie hatten die Kanalisation gelegt, aber das Wasser war ungenießbar. [...] Du kommst nie darauf, was das für eine Masse ist, ich selbst habe es erst nicht glauben können: Es ist ein Pilz. Ein riesiger Pilz unter der Erde, ein einziger Organismus, der schon sehr alt sein muß und sich inzwischen über den gesamten Hügel ausdehnt. Man schätzt, daß dieses unterirdische Geflecht mit der früheren Müllhalde zu tun hat, vielleicht wegen der Plastikplane, der Pilz kann sich unter der Abdeckfolie gebildet haben, und die hat sich langsam zersetzt."

    Auch in diesem Roman hat Beyer seine Fabel wieder in eine ungemein originelle Perspektive gerückt und auf genau durchdachte Weise inszeniert. Mag sein, daß sich bei der Lektüre für Momente der Eindruck einstellt, der Autor wolle hier mit seinen so konsequent aufs Visuelle ausgerichteten Leitmotiven der Medientheorie ein erzählerisches Lehrstück liefern. Doch abgesehen davon, daß sein Roman auch unter diesem Aspekt einiges hergibt, läßt er sich darauf ganz und gar nicht reduzieren. Nie wird das erzählerische Gewebe dünn oder fadenscheinig, so daß eine allzu theoretisch abgezirkelte Blaupause darunter sichtbar würde. Im Gegenteil: Beyer bewegt sich mit viel Gespür und sehr gekonnt an der Schnittlinie zwischen hellsichtiger Analyse und manieristischer Stilisierung. Obwohl die Hervorhebung der ums Visuelle herum aufgebauten Motivik etwas stark Konzeptionelles hat, fügt sie sich dennoch ungemein schlüssig und plausibel in die Handlung ein.

    Zweifellos liefert Beyer am Beispiel dieser verfahrenen Familiengeschichte eine sehr gescheite, alles andere als schematische Untersuchung über die Mediatisierung des Blicks. Zugleich aber erzählt er auf sehr facettenreiche Weise von den dafür verantwortlichen Ursachen und den daraus resultierenden Traumatisierungen: vom Verschweigen, das zur Sprachlosigkeit führt und von der Übertragung dieser Kommunikationsstörung auf den Blick, der sich vom Gegenüber immer weiter distanziert, bis er schließlich mit dem Fernglas oder mit der Lupe über der Fotografie wieder nach dem suchen muß, was er verloren hat. So wie die Kinder im Fotoalbum nach ihrer im Verschweigen entschwundenen Großmutter fahnden mußten.