Christiane Florin: Als Abiturientin trat Doris Wagner 2003 in die katholische Gemeinschaft "Das Werk" ein und sie geriet in ein Räderwerk aus Befehl und Gehorsam. Für eigene Gedanken und Bedürfnisse, fürs eigene Ich war kein Platz. Ordenskleidung gab es zwar nicht, aber der Körper der Frau musste züchtig verhüllt sein, um bei Männern - auch bei geweihten Männern - keine Begehrlichkeiten zu wecken. [*], ein anderer wurde im Beichtstuhl übergriffig und immer gab man ihr die Schuld. Nach acht Jahren schaffte es Doris Wagner, sich zu befreien. Sie erstattete Anzeige, sowohl bei der Polizei als auch bei der Kirche. Das weltliche Verfahren wurde eingestellt, [*]. Einer der Beschuldigten verlor seine Stellung im Vatikan, der andere arbeitet in der Glaubenskongregation.
Doris Wagner hat mittlerweile eine Philosophiestudium abgeschlossen und steht kurz vor der Promotion. Außerdem ist sie, die einst ein Leben als Jungfrau gelobt hat, verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Sie heißt Doris Reisinger, publiziert aber noch unter dem Namen Wagner. Nach so viel Vorgeschichte begrüße ich sie nun. Sie ist uns aus Darmstadt zugeschaltet. Guten Morgen Frau – ja, wie soll ich sagen, Wagner oder Reisinger?
Doris Wagner: Guten Morgen Frau Florin. Wagner hat sich so ein bisschen zu meinem Autorennamen entwickelt. Ich würde sagen, ich höre auf beide Namen. Sie können mich gerne, um Missverständnisse zu vermeiden, in der nächsten halben Stunde als Frau Wagner ansprechen.
"Ich war der Überzeugung, dass ich glücklich werde"
Florin: Okay. "Das Werk", 2003 sind Sie da eingetreten. Es nennt sich "geistliche Familie". Was haben Sie sich davon erhofft?
Wagner: Ich war der Überzeugung, dass ich eine Berufung habe, dass Gott mich dort haben will, und dass ich, wenn ich diesem Ruf Gottes folge, dadurch zu einem erfüllten Leben komme, zu dem Leben, das Gott für mich vorgesehen hat. Und, dass das durchaus auch natürlich Selbstaufgabe verlangt und schwierige Momente hat, jedes Leben hat schwierige Momente, aber dass ich dadurch irgendwie meinem Leben Sinn geben würde für andere, für die Kirche, und dass ich dadurch letztlich auch glücklich werden würde.
Florin: Und sind Sie glücklich geworden?
Wagner: Nein – nein.
Florin: Sie durften keine Bücher lesen, keine Musik hören, keine Fragen stellen. Sie mussten ständig putzen, spülen, kochen und dabei immer noch lächeln, auch, wenn es Ihnen schlecht ging. Welchen Sinn sollte das haben?
Wagner: Wenn man das so hört, dann hört sich das ziemlich absurd an, aber diese Vorstellung, dass Menschen, die nicht an sich selber denken, in deren Leben für was Größeres als sie selbst Platz ist, die sich hintenan stellen können, die für andere da sein können, die, auch wenn sie leiden, immer noch lächeln können und fröhlich sind, dieses Ideal hat schon was. Das hat mich damals fasziniert. Das war attraktiv und ich habe dem auch geglaubt. Es ist ja nicht so, dass wenn man in so eine Gemeinschaft eintritt, einem am ersten Tag gesagt wird: "So, ab jetzt telefonierst du nicht mehr mit deinen Eltern. Du liest keine Bücher mehr und die stehst von morgens bis abends in der Küche", sondern das geht ja schrittweise. Und das war auch bei mir so der Fall. Wenn einem dann irgendwann einmal gesagt wird – das wird da ja auch sehr freundlich gesagt: "Ja, das ist jetzt schon eigentlich für dein geistliches Leben erst mal besser, wenn du, um innerlich frei zu werden, jetzt erst mal keine Bücher mehr liest, sondern dich in diesem ganz einfachen Dienen einübst und einfach nur diese ganz einfachen handwerklichen Tätigkeiten verrichtest." Dann glaubt man das ja. Innerlich frei werden und erst mal nicht an sich selber denken und für andere da sein - das hört sich ja erst mal gut an. Der Punkt, an dem man dann merkt, an dem auch ich gemerkt habe, das ist nicht gut, der kommt dann erst oft in einem Moment, wo man sich … wo man da schon nicht mehr rauskommt.
Logik der Selbstaufopferung
Florin: Wie war die Erziehung in Ihrer – ich sage mal – richtigen Familie? Gab es da ein Ideal von Freiheit, von Emanzipation? Oder spielte da auch schon Gehorsam und vor allem auch Gehorsam gegenüber Gott eine Rolle?
Wagner: Ja, das ist … das ist schwierig. Ich versuche immer zu vermeiden, über meine Familie zu reden, weil ich nicht möchte, dass Leute da irgendwelche Klischee-Bilder dann im Kopf haben. Denn in meiner Familie hat Freiheit tatsächlich keine ganz große Rolle gespielt. Aber das war nicht deswegen, weil meine Eltern wahnsinnig streng gewesen wären, sondern einfach, weil wir so viel Not im Leben hatten, weil wir so arm waren. Ich habe sechs Geschwister. Zwei von denen sind behindert. Meine Eltern waren teilweise depressiv, meine Mutter Hausfrau. Und wir hatten nie genug Geld. Und in einer solchen Lebenssituation ist ganz praktisch gar nicht viel Platz für Freiheit. Religion war so dieser eine Anker im Leben, der meine Eltern oft getröstet hat. Und dadurch ist für mich als Kind ganz klar gewesen irgendwie so dieses Lebensgefühl: Das Leben ist hart, aber Gott ist für uns da. Und das hat natürlich auch diese Logik der Selbstaufopferung und des Vertrauens in Gott, auch, wenn das Leben hart ist, hat mich natürlich auch ein Stück weit in die Gemeinschaft geführt.
Florin: Hatten Sie das Gefühl, dass diese Not von der geistlichen Gemeinschaft ausgenutzt wurde, also, dass Sie in ein gewisses Beuteschema passten als Kind aus einer armen Familie?
Wagner: Ja, das würde ich durchaus sagen. Also, dieses Beuteschema eines Menschen, der noch nicht gelernt hat, weil er nicht die Möglichkeit hatte an sich selbst zu denken und zu spüren, was er selber will. Es gibt aber auch ein ganz anderes Beuteschema dieser Gemeinschaften und das sind Menschen, die aus sehr wohlhabenden oder sehr angesehen katholischen Familien kommen, über die sie sich dann Einfluss erhoffen.
Florin: Die also so ein bisschen leer, spirituell vielleicht leer sein könnten und diese Leere möchte man da auffüllen – das ist das Versprechen?
Wagner: Ja, genau. Das gibt es auch.
Florin: Sie haben nun ein zweites Buch veröffentlicht, in dem Sie vor spirituellem Missbrauch warnen. Das Gegenteil von Missbrauch ist erst mal Gebrauch. Was ist ein guter Gebrauch von Spiritualität?
Wagner: Ein guter Gebrauch von Spiritualität ist vor allem ein selbstbestimmter Gebrauch. Und Selbstbestimmung heißt: Ich kann für das, was ich in meinem Leben erlebe, selbstbestimmt spirituelle Ressourcen finden, Rituale finden, Bilder finden, Texte finden, Lieder, Orte, die mir helfen, mit dem, was in meinem Leben los ist, gut zu leben. Und, um das selbstbestimmt tun zu können, muss man erst mal viele solcher Bilder, und Geschichten, und Lieder, und Orte, und Texte und was auch immer kennen, wissen, wie man die sich zu eigen macht, wissen, wo man neue findet und vor allem aber darf es niemanden geben, der einem da Grenzen setzt und sagt: "Ja, das Bild schon. Das hier ist das richtige Gottesbild und die anderen sind alle falsch." Das wäre eine Beschränkung von spiritueller Selbstbestimmung.
"Leute fragen immer: Warum hast du dich nicht gewehrt?"
Florin: Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Arten des spirituellen Missbrauchs: Vernachlässigung, Manipulation, Gewalt. Können Sie da typische Alarmzeigen nennen? Denn diese geistlichen Gemeinschaften sind im Aufwind.
Wagner: Ja, diese geistlichen Gemeinschaften sind in der Kirche im Aufwind. Da können wir vielleicht später noch was dazu sagen, was das für Gründe hat. Ich unterscheide eigentlich deswegen zwischen diesen drei Formen, weil mir ganz wichtig ist, Leuten verstehen zu helfen, wie man so ganz krasse Übergriffe, wie es zu denen kommt, weil Leute immer sagen: "Ja, warum hast du dich denn nicht gewehrt?" Und, um verstehen zu können, warum man sich nicht gegen wirkliche Gewalt wehrt, spirituelle Gewalt, da muss man verstehen, wie Leute vorher schon manipuliert und vernachlässigt werden. Warnzeichen sind immer dann, wenn es einem Menschen nicht mehr gutgeht mit dem, was ihm da angeboten wird und er aber gleichzeitig keine Möglichkeit hat oder ihm die Möglichkeit verweigert wird, sich alternative spirituelle Ausdrucksformen zu suchen. Das ist, wenn wir von Vernachlässigung sprechen, vielleicht am schwierigsten zu erkennen und zu definieren. Denn in der Vernachlässigung passiert ja erst mal nichts, außer, dass ein Mensch nicht das bekommt, was er braucht und selber nicht in der Lage ist oder selber nicht dazu befähigt worden ist, sich Alternativen zu suchen.
Machtmissbrauch mit Ansage?
Florin: Nun kann man sagen: Wer ein Gelübde ablegt, wer Gehorsam, Keuschheit und Armut verspricht, weiß, dass es schwierig wird, Autoritäten zu widersprechen, eigene Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren. Ist das nicht ein Machtmissbrauch mit Ansage, also schon durch das Gelübde im Grunde programmiert?
Wagner: Ja, das könnte man so sehen. Und es gibt sicher auch Leute in der Kirche, die das so sehen oder die Gehorsam einfach so auffassen, dass es da um Unterordnung geht. Man kann Gehorsam auch anders verstehen. Es gibt andere Auffassungen vom Gehorsam. Ich muss gestehen, ich finde das selber schwierig. Ich glaube nicht, dass das so wahnsinnig lebendig gelebt wird und wahnsinnig leicht auch zu definieren ist. Und ich stehe Gehorsam als Gelübde sehr, sehr skeptisch gegenüber. Aber man kann Gehorsam auch anders definieren. Und es gibt auch Leute im Ordensleben, die das versuchen. Und, wenn jemand, der Gehorsam gelobt hat und sagt, für mich bedeutet Gehorsam, ich höre dir zu und ich versuche zu verstehen, was du von mir willst, aber es gibt Grenzen, wo ich mich auch verweigern kann, wenn jemand eine solche Auffassung hat und dann ihm die nicht zugestanden wird und gesagt wird, nein, Gehorsam heißt, du tust, auch wenn du nicht verstehst, auch wenn du das nicht willst, auch wenn du eigentlich nicht einverstanden bist, dann ist das für mich eine Form von spirituellem Missbrauch. Aber es gibt diese alternativen Konzepte von Gehorsam.
Florin: Sie waren 18, 19. Also, mit 18 hatten Sie den ersten Kontakt zu dieser geistlichen Gemeinschaft. Mit 19 sind Sie dann eingetreten. Wir haben es gerade schon angedeutet – das spricht junge Leute an. Was genau ist es? Vor was genau wollen Sie jetzt warnen?
"Ich möchte an kirchliche Verantwortliche appellieren"
Wagner: Ich habe selber schlimme Sachen erlebt und ich habe, ja, in den Jahren, seitdem ich ausgetreten bin und übrigens auch schon zuvor, aber vor allem, seit ich ausgetreten bin und seit ich mein erstes Buch geschrieben habe, viele Menschen kennengelernt, die mir ähnliche Geschichten erzählt haben. Und das sind schlimme Geschichten – von Menschen, die nie wieder im Leben richtig auf die Füße kommen. Es gibt Fälle von Selbstmorden. Davor möchte ich warnen, Leuten bewusst zu machen: Dieses einfache Narrativ, das da gesponnen wird, das auf den ersten Blick sehr viel vielleicht Geborgenheit vermittelt und Sinn und eine starke Gemeinschaft, zu der man gehört, eine starke Identität, die einem da verheißen wird, die aber auf der anderen Seite bedeutet, dass du deine Selbstbestimmung aufgibst, wirklich deine Selbstbestimmung aufgibst, das ist sehr, sehr gefährlich. Ich möchte natürlich Leute schützen, sich an so was hinzugeben. Aber es wird immer Menschen geben, die für so was anfällig sind. Eigentlich möchte ich vor allem an kirchliche Verantwortliche appellieren, sich bewusst zu machen, was für gefährliche Gruppen und Seelenführer sie in ihren eigenen Reihen dulden und noch hofieren und an diese Menschen appellieren, diesen Menschen einfach in der Kirche keinen Raum mehr zu geben.
Florin: Johannes Paul II. war ein großer Freund von geistlichen Gemeinschaften. Er hat ja auch "Das Werk" ins Leben gerufen oder approbiert. Und Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. war oft bei Ihnen in der Gemeinschaft zu Gast. Haben die nicht genau hingeschaut? Oder fanden die das eigentlich gut, was da abläuft?
"Ich fürchte, das hat Benedikt XVI. zugesagt"
Wagner: Das kann ich natürlich nicht sagen, weil ich nicht in diesen Köpfen drinstecke. Aber ich fürchte, dass sie sowohl nicht genau hingeschaut haben. Das liegt nahe, wenn ich zum Beispiel die Konstitutionen des Werkes angucke, wo Dinge drinstehen, die sich kaum mit Kirchenrecht vereinbaren lassen, und dass die überhaupt nicht ordentlich geprüft worden sind. Ich fürchte aber auch, dass ihnen das zugesagt hat, dass das beides Menschen waren, die einer sehr autoritären Logik, wo die Bedürfnisse des Einzelnen im Zweifelsfall untergeordnet werden, dass diese Logik eigentlich gutgefunden und befürwortet haben. Das hat sich auch immer wieder gezeigt. Ich erinnere mich an Besuche von Kardinal Ratzinger oder dann Papst Benedikt in unserem Haus, wo wir alle einfach lächelnd in der Reihe standen und einfach nur die Bühne waren oder der Resonanzraum für seine eigene Person und einfach genau das getan haben, was er gewollt hat, nämlich schweigen und zuhören und lächeln und für ihn musizieren und für ihn kochen und ihn dann verabschieden. Und eine echte Begegnung, echtes Gespräch, ein echtes Verstehen-wollen, wer wir sind und wie es uns geht, das hat nicht stattgefunden. Das hat da keine Rolle gespielt.
Florin: Also, die Kirche, die kirchliche Hierarchie hat diese Gemeinschaft nicht kontrolliert, auch nicht kontrollieren wollen, wie ich jetzt Ihrer Antwort entnehme. Aber der Staat lässt es auch zu. Sie haben erlebt, dass Sie vor der Polizei ausgesagt haben, von der Vergewaltigung berichtet haben und Ihnen wurde vorgeworfen, Sie hätten sich ja gar nicht gewehrt. Da wurde Ihnen eigentlich der Gehorsam, auf den Sie verpflichtet waren, zum Verhängnis. Kann man das so sagen?
"Ich konnte mich nicht wehren"
Wagner: Ja, genau. Und das ist auch ein Punkt, der mich bis heute wundert, auch, wenn ich an die polizeilichen, die staatsanwaltlichen Ermittlungen in dem Fall denke, dass nämlich dieser Kontext, in dem ich gelebt habe, für die Ermittlungen keine Rolle gespielt hat. Die haben meinen Fall behandelt wie irgendeinen anderen, wo ich halt den Täter irgendwoher kenne und gar nicht in Betracht gezogen, dass ich zu dem Zeitpunkt, zu dem ich vergewaltigt worden bin, fünf Jahre in dieser Gemeinschaft war und schon fünf Jahre Entmündigung und Selbstaufgabe erlebt habe und in einem Kontext war, in dem alle Menschen auch in dieser Logik gelebt haben und dem ich mich deswegen einfach gar nicht wehren konnte. Die Gründe, aus denen ich mich nicht wehren konnte, haben keine Rolle gespielt. Es war nur eben der Fakt, dass ich mich nicht gewehrt habe, der dazu geführt hat, dass die Ermittlungen eingestellt wurden.
Florin: Weil man eigentlich auch das Innenleben dieser geistlichen Gemeinschaften nicht kennt. Jedenfalls bevor Ihr erstes Buch erschienen ist – das heißt "Nicht mehr ich" – war das nicht so der Öffentlichkeit bekannt.
Wagner: Ja, das stimmt. Das ist der Öffentlichkeit nicht bekannt gewesen. Ich habe mir aber auch sagen lassen, dass das auch in Bezug auf Sekten sehr schwierig ist, weil das Recht immer erst mal davon ausgeht, dass Menschen, die nicht schwer geistig beeinträchtigt oder gelähmt oder sonst irgendwas sind, grundsätzlich selbstbestimmungsfähig sind und diese Formen von Nichtfähigkeit zur Selbstbestimmung, die durch äußere Manipulationen, Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, rechtlich noch gar nicht entsprechend abgebildet sind.
Zusammenhang zur rigiden Sexualmoral
Florin: Ein Pater, [*], arbeitet in der Glaubenskongregation. Diese Kongregation wiederum beschäftigt sich auch gern mit katholisch korrekter Sexualität. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen dem, was Ihnen geschehen ist, und der offiziellen katholischen Sexualmoral?
Wagner: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, ja, tatsächlich, ich glaube, dass so ein Zusammenhang besteht, dass einfach, wenn diese Rigidität der Moral, dieses Nicht-anerkennen-wollen, wie Menschen von Natur aus ticken, sexuell, aber nicht nur sexuell, es geht ja auch … in der Kirche gibt es ja auch ein Vorbeigehen an dem, was Menschen intellektuell von Natur aus tun usw. Diese autoritäre Logik - ich gebe etwas vor und das kann an allem, was Menschen normalerweise erleben, absolut vorbeigehen und ich möchte das trotzdem auf jeden Fall durchsetzen - führt natürlich dazu, dass Menschen, die versuchen, nach dieser Logik zu leben, früher oder später damit konfrontiert werden, dass sie das selber nicht hinbekommen, weil Menschen einfach nicht so gebaut sind, und dass sich dann ihre Neigungen irgendwo anders einen Weg suchen und man das dann aber wieder vertuschen muss, weil nicht sein kann, was nicht sein darf und man zumindest nach außen hin die Lehre der Kirche unbedingt vertreten muss.
Florin: Sie schreiben jetzt Bücher, Sie stehen kurz vor dem Doktortitel. Man könnte sagen, Sie haben in gewisser Weise die Vergangenheit verarbeitet. Wie wichtig ist für Sie, dass die Beschuldigten bestraft werden?
Wagner: Das ist eine schwere Frage, weil … ich würde eigentlich dazu neigen, zu sagen, mir persönlich ist es nicht wichtig. Ich brauche das für mich nicht, weil es mir heute gutgeht, und weil ich sehr viel Glück im Leben hatte. Aber ich kann das einfach irgendwie auf einer logischen Ebene nicht fassen, dass Menschen, die so etwas getan haben, nach wie vor im Amt sind, nach wie vor ihren Posten haben und die Kirche gleichzeitig von null Toleranz spricht und so tut, als ob sie alles ändern wollte und jetzt alles verstanden hat und das einfach nicht der Fall ist und die sich selber nicht schämen dafür. Das kann ich einfach nicht fassen. Und mir geht es hier auch gar nicht um mich, sondern mit geht es gerade bei dem Schreiben von dem Buch um die vielen, vielen Menschen, deren Geschichten ich da erzähle und die selber nicht die Kraft und nicht die Möglichkeit haben, sich zu wehren. Und diesen Menschen muss verdammt noch mal geholfen werden und die brauchen … denen muss eine Stimme gegeben werden. Und es kann einfach nicht sein, dass in der Kirche Menschen Ämter innehaben, die schamlos andere ausbeuten und einfach davon leben, dass ihre Opfer zu geschwächt sind und zu mitgenommen sind, um sich zu wehren und um an die Öffentlichkeit zu gehen.
Florin: Es fehlt nicht an Schuld- und Reuebekenntnissen, an Umkehrversprechen. Sehen Sie Indizien dafür, dass diese Versprechen eingelöst werden?
Wagner: Eigentlich nicht.
Florin: Was fehlt Ihnen?
Wagner: Mir fehlt ganz viel. Also, mir fehlt dieses ganz nüchterne Anwenden des kirchlichen Strafrechts – in ganz vielen diese Fälle. Da braucht man gar nicht viel ändern. Da braucht man keine neuen Gesetze schaffen. Da braucht man einfach nur bestehendes Recht anwenden. Und, wenn das geschehen würde, konsequent, wären schon sehr viele Täter bestraft oder suspendiert oder laisiert, einfach, weil das Kirchenrecht das eigentlich vorsieht. Und diese vielen Fälle, wo das nicht geschieht, das ist eigentlich schon Indiz genug, dass das nicht geschieht. Aber es gibt darüber hinaus auch wirklich einen Reformbedarf auch im Kirchenrecht und an anderen Stellen, wo einfach nichts geschieht.
Oder wie die Visitation der Gemeinschaft, in der ich war, wo es wirklich auch krasse Verstöße gegen das Beichtgeheimnis und gegen andere grundlegende, wirklich strafbewehrte kirchenrechtliche Normen gegeben hat und bis heute ist da nichts passiert. Es gibt keine Stellungnahme der religiösen Kongregation, die das untersucht hat. Und das ist nicht nur in dieser Gemeinschaft der Fall. Das ist in vielen, vielen anderen Gemeinschaften der Fall, wo Menschen spirituelle Übergriffe erleiden, die sie wirklich fürs ganze Leben verletzen und prägen und die Kirche nicht mal anfängt, diese Übergriffe als Übergriffe ernst zu nehmen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
"Autoritäre Logik steckt in der Kirche drin"
Florin: Visitation heißt, der Vatikan hat die Gemeinschaft "Das Werk" überprüfen lassen und danach mussten auch einige Regeln geändert werden. Wie lernfähig ist dieses sehr autoritäre Milieu?
Wagner: Das Problem ist, ich weiß nicht mal genau, ob da Regeln geändert werden mussten. Es gibt überhaupt gar keine offiziellen Stellungnahmen. Mir ist gesagt worden über mehrere Ecken, dass die Konstitutionen geändert werden müssten. Was das heißt, ob das geschieht, wer das tut, wer das überwacht, das weiß ich alles gar nicht. Offiziell ist das sowieso überhaupt nicht. Das ist ein Teil des Problems, dass diese Transparenz fehlt. Und das andere Problem natürlich sprechen Sie an, wenn Sie fragen, wie lernbereit solche autoritären Strukturen sind. Das gilt auch für die Kirche als Ganzes. Die Logik, diese autoritäre Logik, dass einige Menschen irgendwie besser wissen, was Gott will und das anderen Menschen zu sagen haben und die sich dem zu fügen haben, das steckt so tief in der Kirche drin. Ich glaube wirklich, dass es in der Kirche Menschen gibt, auch in leitenden Positionen, die nicht in der Lage sind, anders zu denken und das zu überdenken. Und das ist ein großer Teil des Problems der Reformunfähigkeit der Kirche. Zugleich gibt es aber gerade auch – und gerade jetzt im Moment – ganz viele Menschen, die diese andere Logik und das eigene Gewissen und die Überzeugung, dass es doch, wenn es Gott gibt, irgendwie … dass das ja anders ist, und dass er unsere Freiheit will, und dass wir frei denken und uns entwickeln können dürfen, und dass es wirklich auch im Glauben darum geht, dass Menschen gut leben können, dass Glauben dazu hilft, gut zu leben. Es gibt so viele Menschen, die jetzt sich zusammenschließen und versuchen, für eine solche alternative Kirche zu kämpfen, dass es vielleicht doch Hoffnung gibt.
Florin: Am 28. Januar 2010, also exakt vor neun Jahren, hat Klaus Mertes Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht. Er war damals der Rektor. Und 2018 führte eine Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz das Thema wieder in die Öffentlichkeit. Ich war kürzlich auf einer Veranstaltung. Da ging es auch um sexuellen Missbrauch. Und ein Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz sagte sinngemäß: "Ach, lassen Sie uns nicht so viel zurückblicken, lassen Sie uns nach vorne schauen." Was heißt das für Sie? Geht das – nach vorne schauen?
Wagner: Man kann nicht nach vorne schauen, wenn man nicht zurückgeschaut hat. Also, das ist für mich einfach nur eine Abwehrfloskel, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen. Nach vorne schauen würde heißen, wir haben wirklich begriffen, was passiert ist und wir ändern jetzt, also wir ziehen Konsequenzen aus dem, was passiert ist, und zwar nicht nur PR-taugliche, sondern strukturelle und substantielle. Und das sehe ich einfach noch überhaupt nicht. Und das bin ja nicht nur ich. Opferverbände sehen das nicht, Theologen sehen das nicht. Das geschieht einfach aktuell noch nicht. Das funktioniert nicht.
Florin: Frau Wagner, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch – danke schön.
Wagner: Ja, ich habe zu danken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Redaktioneller Hinweis:
Aufgrund einer gerichtlich erwirkten Unterlassungsverfügung dürfen bestimmte Behauptungen derzeit nicht veröffentlicht werden. Wir habe sie gelöscht.
Aufgrund einer gerichtlich erwirkten Unterlassungsverfügung dürfen bestimmte Behauptungen derzeit nicht veröffentlicht werden. Wir habe sie gelöscht.
Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Herder Verlag 2019. 208 Seiten, 20 Euro.