Zurecht ist Flix nun ein ehrenwertes Mitglied der exklusiven Autorengemeinschaft. Mit "Spirou in Berlin" zeichnet und erzählt er eine turbulente Geschichte und lässt sich dabei von den Ereignissen kurz vor dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 inspirieren.
Schon auf den ersten Blick fällt die witzig-satirische und experimentierfreudige Spielart des Zeichenstils der Ligne Claire auf, mit der der Künstler Atmosphäre schafft. Die Bilder im spannend getakteten Perspektivwechsel erzeugen Szene für Szene eine Dynamik der Handlung, die einem James-Bond-Film alle Ehre machen würde. Und das vor dem Hintergrund der weltverändernden Ereignisse, die sich Ende der 1980er Jahre in den Staaten des Warschauer Pakts abzeichneten.
Spirous Freund Graf von Rummelsdorf – ein Bruder im Geiste von Hergés Professor Bienlein, dem treuen Begleiter von Tim und Struppi – Graf von Rummelsdorf erhält im Sommer 1989 eine unerwartete Einladung zum Ersten Internationalen Mykologenkongress in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Da Spirous und Fantasios Freund selbstverständlich auch ein anerkannter Pilzforscher ist, sagt er zu.
Die Wunderwaffe des Sozialismus
Er ist voller Hoffnung, etwas über den "kleinköpfigen Portabriris" zu erfahren, einen extrem seltenen Pilz mit ungeheurer Wirkung: Seine Sporen verformen mir nichts dir nichts Metall, sein Serum könnte sogar – wie sich im Lauf der Geschichte herausstellt - eine geheimnisvolle "Wunderwaffe des Sozialismus" in Gang setzen.
Unter seltsamen Umständen verschwindet der Professor Richtung Ost-Berlin. Spirou, Fantasio und Pips verfolgen seine Spuren. Ihr Misstrauen ist geweckt. Via West-Berlin machen sie sich auf den Weg nach Ost-Berlin und sind erstaunt, wie friedlich und bunt sich das Leben im Arbeiter- und Bauernstaat präsentiert. Da entwickelt sich, zum Beispiel, ein Dialog wie dieser: Der rasende Reporter Fantasio sitzt entspannt am Rande des Brunnens am Alexanderplatz und schreibt in sein Tagebuch:
"Liebes Tagebuch, Du kennst mich, ich übertreibe ungern. Aber ich habe schon echt viel von der Welt gesehen. Europa, Asien, Afrika, Australien, Amerika und Palumbien. Aber nirgendwo … wirklich nirgends … war es so unfassbar friedlich wie hier!" Plötzlich spricht ihn eine neben ihm sitzende junge Frau an, die sein Gekritzel offenbar aufmerksam verfolgt: "Unfassbar friedlich hier, wa? - Sie sehen so aus wie eine dieser Edelfedern aus dem Westen, die für'ne große Reportage nach Ost-Berlin gekommen sind, aber vor lauter Fassade nicht sehen, was wirklich abgeht." Fantasio, für einen Augenblick schwer irritiert, versucht sich in Souveränität: "Ich? - Nicht sehen, was abgeht? - Mit Verlaub, Madame, ich bin PROFI! Meine Augen sind offen und ich sehe klar und deutlich …"
So viel Exotik muss sein
Von wegen. Spirou und Fantasio ahnen nicht, dass sie sich von Beginn an im Visier der Staatssicherheit befinden. Was sie dann im Stil eines nervenaufreibenden Agententhrillers mit vielen Elementen von Slapstick und Situationskomik erleben, lässt die Haare ehrenwerter Historiker erst einmal kollektiv zu Berge stehen: Irrsinnige Verfolgungsjagden, Kugelhagel, Festnahmen, Verhöre, Zwischenstationen im Luxushotel, in einer Gefängniszelle und in einem unterirdischen militärischen Versuchslabor. Rettung durch eine Herde Orang-Utans – soviel Exotik muss sein - und schließlich die Bekanntschaft mit einer zu allem entschlossenen jungen Frau, die vom realen Sozialismus bitterlich enttäuscht wurde. Doch, keine Sorge: die Haare der Historiker legen sich bald wieder.
In die wie immer höchst abenteuerliche Comic-Handlung der Spirou-Geschichten streut Flix peu à peu belegbare Informationen über Zeitgeschichte und Alltagsleben in der letzten Phase der DDR. Der in Berlin lebende Künstler erweist sich dabei als Kenner des Geschehens in der Zeit der friedlichen Revolution 1989. Vor allem weiß er von den Unterschieden zwischen dem äußeren Schein des "Friedensstaates" und den oft subtilen, oft plumpen Unterdrückungsmechanismen der Staatsorgane gegenüber Andersdenkenden. Das beginnt bei den Schikanen der Grenzkontrolle und endet beim Psychoterror der Staatssicherheit gegenüber staatsfeindlichen und verdächtigen "Elementen".
Nachvollziehbar überzeichnete Milieus
Flix ist in seiner Ligne Claire zudem ein präziser Dokumentarist der örtlichen Verhältnisse – sei es in der Illustration des Grenzübergangs im Bahnhof Friedrichstraße (im Volksmund "Tränenpalast" genannt), der Fassaden und des Interieurs des inzwischen abgerissenen Ostberliner Palasthotels, der Straßenszenen um den Alexanderplatz oder der gespenstisch stillen Häuserzeilen in der Nähe der Mauer. Selbst das Drehrestaurant im Ostberliner Fernsehturm wird Schauplatz dramatischer Ereignisse.
Dass sich vor dieser realistischen Kulisse und in den nachvollziehbar überzeichneten Milieus die Figuren als Typenkarikaturen bewegen, die die Handlung in irrsinnigen Aktionen auf die Spitze treiben, begünstigt die Aha-Erlebnisse der Leser. Vor allem jedoch befördert die Geschichte Erkenntnisse jener jungen Leser, die über die Geschehnisse im Sommer und Herbst 1989 wenig oder gar nichts wissen. Neue Informationen über das spätsozialistische Alltagsleben in der DDR verbinden sich mit großem Lesevergnügen.
Satirische Überzeichnung war schon immer ein besonders brauchbares und von Machthabern gefürchtetes Handwerkzeug zur Entlarvung kritikwürdiger gesellschaftlicher Zustände. Insofern ist gerade jungen Lesern, die sich der Geschichte der deutsch-deutschen Teilung auf etwas andere als der konventionellen Les-Art nähern möchten, zu wünschen: Mehr solche Themen in Gestalt von actionreichen, spannenden, witzigen, fantasievollen und trotzdem hintergründigen Comics.
Flix: "Spirou in Berlin"
Carlsen Verlag, Hamburg
64 Seiten, 16 Euro, ab 12 Jahre
Carlsen Verlag, Hamburg
64 Seiten, 16 Euro, ab 12 Jahre