78°13'32'' Nord. Longyearbyen, Spitzbergen. Die Norweger nennen die Inselgruppe in der nördlichen Barentssee Svalbard, "kühle Küste".
In der kleinen Kirche im ältesten Ortsteil von Longyearbyen hat Pfarrer Leif Magne Helgesen gerade ein Kind getauft und zum Abschluss des Gottesdiensts singt er mit den beiden anderen Mitgliedern des Svalbard Kirkes Trio ein Lied. Danach gibt es Kaffee und Kuchen im Gemeindesaal, der sich wie ein gemütliches Wohnzimmer direkt an den Kirchenraum anschließt. Die Kirche ist immer offen, auch wer um drei Uhr morgens hier beten, meditieren oder einfach nur in Ruhe am Kamin sitzen und ein Buch lesen will, kann das tun.
Das gehöre zur Tradition der Seemannskirchen, die es überall in Norwegen gibt, erklärt Pfarrer Helgesen, aber Longyearbyen ist ein besonderer Ort: "Es ist eine sehr dynamische Gemeinschaft hier, die sich immer verändert. Jedes Jahr ziehen etwa 25 Prozent der Einwohner weg, dafür kommen andere. Es ist also kein Ort, wo man sein ganzes Leben verbringt. Die Menschen stammen aus ganz Norwegen, aber auch aus über 40 anderen Ländern. Keiner braucht eine Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung, um hier zu leben. Aber wenn man kein Norwegisch und kein Englisch spricht, es ist sehr schwer, einen Job zu finden. Und das Leben ist sehr, sehr teuer hier. Auch der Wechsel von den langen Perioden der Polarnacht zur ständigen Helligkeit im Sommer ist für viele nicht einfach. Die Natur ist sehr mächtig."
Es hat wieder angefangen zu schneien. Das obere Ende des Tals, wo der Gletscher beginnt, ist von Wolken verhüllt, aber an den Bergflanken auf der anderen Seite des Fjords leuchten einzelne Felsen in der Sonne auf.
Auch Russland ist auf Spitzbergen präsent
Spuren indigener Völker hat man auf Spitzbergen nie gefunden. Ob die Wikinger, die im 11. und 12. Jahrhundert Island und Teile Südgrönlands besiedelten, auf ihren Fahrten Svalbard entdeckten, ist nicht belegt. Bis ins frühe 20. Jahrhundert blieb Spitzbergen Niemandsland. Erst mit der Ausweitung des Kohlebergbaus und den damit verbundenen Konflikten zwischen Norwegern, Briten und Amerikanern wurde die Klärung des völkerrechtlichen Status immer dringlicher. 1920 wurde in Versailles der Spitzbergenvertrag unterschrieben, der Norwegen die volle Souveränität über die Inselgruppe zuerkannte.
Allerdings haben alle Unterzeichnerstaaten – bis heute sind es über 40 – die gleichen Rechte wie Norwegen in Bezug auf Bergbau, Industrie und alle Arten kommerzieller Aktivitäten. Der Kohlebergbau, durch den Longyearbyen und die beiden russischen Ansiedelungen Barentsburg und Pyramiden entstanden sind, hat neben wirtschaftlichen Aspekten immer auch eine politische Dimension gehabt. Es geht darum, auf dem Archipel präsent zu sein.
Rolf Stange, deutscher Geologe und Expeditionsleiter auf Spitzbergen: "Die russische Präsenz in Spitzbergen, in Barentsburg ist ganz klar politisch motiviert. Es gäbe auf rein privatwirtschaftlicher Ebene... wenn es sich alles selbst finanzieren müsste, wäre Spitzbergen heute definitiv unbewohntes Land. Ohne den politischen Willen der Regierungen in Norwegen und in Russland gäbe es diese Siedlungen heute nicht."
Künftige Boomregion Spitzbergen?
Bei der Lösung logistischer Fragen ist Terje Aunevik ganz in seinem Element. Früher hat er in Lappland gelebt und Hundeschlitten geführt, heute organisiert seine Firma Pole Position Logistics Flüge zum Nordpol, rüstet Schiffe für seismische Kartierungen aus oder kümmert sich darum, dass Meeresbiologen und Eisforscher hier einen Laboratoriumsplatz an der Uni bekommen.
"Egal, welche Position man einnimmt, es ist doch mehr oder weniger eine anerkannte Tatsache, dass der Kohlebergbau langfristig nicht nachhaltig ist. Und da ist Logistik, also das, was wir als arktische Logistik definieren, ein Zukunftsmodell. Man muss ja nur einen Blick auf die Karte werfen: Wenn man den Globus dreht und den arktischen Kuchen einzeichnet – sagen wir, alles, was nördlich vom 75. Breitengrad ist – dann merkt man, dass Longyearbyen kein Außenposten ist, sondern dass die Stadt wirklich im Zentrum der zukünftigen Boomregion liegt."
Auch einige Deutsche studieren hier
In dem kleinen Einkaufszentrum von Longyearbyen befindet sich neben diversen Geschäften und einem thailändischen Restaurant auch das Café Fruene. Hier wird deutlich, was das Leben in der Arktis so angenehm macht. Es ist eine verschworene Gemeinschaft aus Seeleuten, Wissenschaftlern, Minenarbeitern, Verwaltungsangestellten und Künstlern aus aller Herren Länder, die sich hier trifft. Man kennt sich, man redet miteinander, auch für Durchreisende ist es kein Problem, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Hinter der Theke, an der man seine Getränke selbst abholt, arbeiten viele Studenten im Nebenjob. Für den Weg zur Uni braucht man nur ein paar Minuten.
1993 wurde die nördlichste Universität der Welt eingeweiht, 650 Studenten sind heute dort immatrikuliert. Zwölf Prozent kommen aus Deutschland, um hier arktische Technologie, Meeresbiologie, Geologie und Geophysik zu studieren.
Die globale Erwärmung beeinflusst die maritimen Lebensformen
Gerade ist die "Helmer Hansen" in den Hafen von Longyearbyen eingelaufen und wird am Kai vertäut. Zwei Wochen lang war das Forschungsschiff westlich und nördlich von Spitzbergen unterwegs.
Das war eine Kombination aus Feldforschung und Unterricht, sagt der Biologe Jørgen Berge, der mich in der Kombüse der Helmer Hansen zu einem Kaffee einlädt. Die Studenten an Bord sollten die Möglichkeit bekommen, maritime Lebensformen im Drifteis zu studieren. Schwerpunkt war das Zooplankton, winzige Organismen, die mit den Strömungen treiben.
"Die Vielfalt der großen Meeressäuger hängt vom Zooplankton ab. Zooplankton ist in vieler Hinsicht die kritische Verbindung zwischen den primären Erzeugern und höher entwickelten Arten. Früher gab es in diesem Bereich sehr viele Meeressäuger, jetzt sind wahrscheinlich mehr Seevögel hier. Zooplankton ist eine wichtige Nahrungsquelle für den Fisch, für viele Fischarten, die wir hier haben – und damit direkt oder indirekt auch für die Meeressäugetiere bis hin zum Eisbären."
Die globale Erwärmung, die sich in der Arktis besonders stark bemerkbar macht, hat jetzt schon Auswirkungen auf die Dichte und die Schichtungen des Zooplanktons in verschiedenen Wassertiefen, sagt Jørgen Berge.
Eine Kirche für alle Konfessionen
Am Ende des Gottesdienstes in der kleinen Seemannskirche von Svalbard hat Pfarrer Helgesen der Menschen gedacht, die den blutigen Konflikten in Syrien und in der Ukraine zum Opfer gefallen sind. Auch der Klimawandel ist ein Thema, das er immer in seine Predigten einschließt.
Leif Magne Helgesen ist Norweger, aber auf Madagaskar geboren. Wenn man hier in Svalbard das Priesteramt ausübt, sollte man offen für alle Menschen sein, meint er. In seiner lutheranischen Kirche empfängt er mehrmals im Jahr katholische Priester, die hier ihren Gottesdienst für auf der Insel lebende Katholiken abhalten dürfen. Das Gleiche gilt für die orthodoxen Geistlichen, die sich um die kleine russische Gemeinschaft in Barentsburg kümmern. Einmal im Jahr fliegt er mit dem Helikopter zur polnischen Forschungsstation Holmsen und hält dort einen Gottesdienst unter freiem Himmel ab.
"Wir sind eine kleine Kirche, aber wir sind die nördlichste Kirche auf der Welt, und wir sollten uns mit den Veränderungen auseinandersetzen, die man hier im Norden sieht. Die Arktis ist der Ort, wo man diese Veränderungen am deutlichsten sieht. Die Durchschnittstemperatur liegt das ganze Jahr am Gefrierpunkt, da machen ein, zwei Grad Änderung einen Riesenunterschied. Und was in der Arktis passiert, hat auch Auswirkungen auf den Süden. Überall dort, wo das Leben bedroht ist, müssen wir als Kirche handeln."