"Testosteron ist nun mal der wichtigste Faktor" - so erklärte Sebastian Coe, Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes World Athletics, im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" vor dem Start der Leichtathletik-WM in Budapest, warum der Weltverband an der strengen Testosteron-Regel für Sportlerinnen festhält. Laut dieser Regel werden Athletinnen, die ein gewisses Testosteron-Level überschreiten, von Frauen-Wettbewerben ausgeschlossen.
Unter anderem die 800-Meter-Olympiasiegerin Caster Semenya kämpft schon seit Jahren juristisch gegen Testosteron-Regelungen für intersexuelle Athletinnen in der Leichtathletik.
Tatsächlich hatte World Athletics die Vorschriften erst im März noch einmal verschärft. Demnach müssen Athletinnen mit Varianten in der Geschlechtsentwicklung ("Differences in Sex Development", kurz "DSD"), um in der weiblichen Kategorie antreten zu können, ihren Testosteron-Wert im Blut von zuvor vorgeschriebenen 5 auf unter 2,5 Nanomol pro Liter senken. Neu war auch, dass dies für alle Disziplinen gilt und nicht mehr nur für die Laufstrecken von 400 Metern bis zu einer Meile.
Aktivistin Mitra: "Ein Rückschlag"
Für Aktivistin Payoshni Mitra ist die Regeländerung eine schlechte Nachricht: "Das ist natürlich für viele von uns ein Rückschlag. Ganz besonders für die Athletinnen, die jetzt nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen können – es sei denn, sie unternehmen für sechs Monate medizinische Maßnahmen – oder tatsächlich ihre ganze Karriere lang."
Die Soziologin äußerte im Deutschlandfunk erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Position, die der Weltverband einnimmt: "Ich stelle die wissenschaftliche Grundlage für diese Regeln infrage. Das haben wir ja schon in der Vergangenheit gemacht – etwa im Fall der indischen Leichtathletin Dutee Chand, mit dem wir vor den Internationalen Sportgerichtshof gegangen sind oder bei Caster Semenya, die auch beim CAS war, dann am Schweizer Bundesgericht und die schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht bekam."
Mitra über Coe: "Zu starke Vereinfachung"
Angesprochen auf Coes Kommentar, Testosteron sei der "wichtigste Faktor", reagierte Mitra mit Unverständnis: "Er scheint sich des Themas wirklich sehr persönlich anzunehmen, aus irgendeinem Grund. Ich weiß nicht, warum. Trotzdem, ich finde, dass die Diskussion nicht an dem Punkt enden sollte, [...], dass Testosteron hier den Unterschied macht."
Der Präsident mache sich das Thema schlicht zu einfach: "Coe hat da einen sehr vereinfachenden Kommentar abgegeben. Eine zu starke Vereinfachung von sehr komplexer Wissenschaft."
Präsident schlägt laut Mitra "politische Gangart" ein
Viel mehr müsse man Testosteron differenziert betrachten: "Wenn wir über Testosteron sprechen, dann wird es oft als etwas verstanden, das dem Körper von außen hinzugefügt wird. Diese Art von Testosteron hat definitiv einen riesigen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit. Aber wenn es um körpereigenes Testosteron geht – da gibt es nicht ausreichend Studien dazu."
Mitra ergänzte: "Er schlägt hier eine politische Gangart ein: Was er tatsächlich macht, ist, seine Regel zu verteidigen. Er sagt praktisch: Die Regeln, die wir eingeführt haben, sind von der Wissenschaft untermauert."
Mitra wirft Leichtathletik-Präsident Coe Ignoranz vor
Coe selbst rechtfertigt die Bestimmungen auch damit, dass der Verband so die Frauen-Kategorie schützen würde. Diese Intention stellte Mitra infrage, der Präsident ignoriere schlichtweg die wahrhaftige Bürde vieler Athletinnen: "Spricht er auch mal über die Erfahrungen der Athletinnen, die lebensverändernde Operationen über sich ergehen lassen haben und die davon lebenslang gezeichnet sind?"
Die Aktivistin ergänzte: "Spricht Sebastian Coe über die Fürsorgepflicht, die die Athletinnen vom Weltleichtathletikverband erwarten? Das ist sehr wichtig. Wenn er das alles nicht macht, dann verdient er es nicht, Präsident eines internationalen Sportverbandes zu sein."