Bundestagswahl
Wenn der Leistungsbegriff im Sport fehlgedeutet wird

Im Bundestagswahlkampf spielt der Sport eher eine untergeordnete Rolle. In der Rhetorik allerdings bekommt der Sport derzeit eine hohe Aufmerksamkeit als Symbol für Leistung. Dabei wird einiges fehlinterpretiert.

Von Jessica Sturmberg |
Ein Junge versucht einen Klimmzug über einer Reckstange.
Kinder sollen im Sport wieder mehr auf Leistung getrimmt werden. Das fordern einige Politiker. Die abnehmende Leistungsbereitschaft im Sport sei sinnbildlich für den gegenwärtigen Zustand des Landes. Doch die Forderung kann das womöglich das komplette Gegenteil bewirken. (dpa / picture alliance / Anastasiya Amraeva)
Es wird in diesem Bundestagswahlkampf viel über Leistung gesprochen, über Anstrengung, Fleiß und auch Schweiß und den Ertrag, der daraus resultieren soll, Sieger sein. Vor gut einer Woche war es beispielsweise dieser Auftritt von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, in der der Sport explizit angesprochen wurde.
Die Bundesjugendspiele sollten wieder an allen Schulen stattfinden, forderte Merz ein. "Und zwar nicht nur mit Teilnehmerurkunden, sondern mit Siegerurkunden. Ich werde den deutschen Sportbund, ich werde den deutschen Fußballbund bitten, in der E- und F-Jugend wieder Fußballspiele stattfinden zu lassen, wo Tore geschossen werden dürfen."

Es geht drunter und drüber

Dass das Funino-Konzept für die unter zehnjährigen Kinder im Fußball nicht ohne, sondern sogar mit vier Toren stattfindet, dabei mehr Tore geschossen werden, es mehr Ballkontakte gibt und Teams gegeneinander antreten, also der Wettbewerb nicht abgeschafft wurde, das ist schon vielfach klargestellt worden. Und dass es auch bei den Bundesjugendspielen weiterhin Ehren- und Siegerurkunden gibt, wissen alle, die sich damit beschäftigen.
Die Botschaft, die in dieser Rede steckt, ist die des zwangsläufigen Erfolgs, die auf eine Anstrengung folgt, die gegenwärtig offenbar nicht mehr oder nicht mehr ausreichend stattfinde. Darin liegt wiederum innewohnend die Vermutung, derzeit werde zu viel Rücksicht auf die Schwächeren genommen, was die Entwicklung auch der Stärkeren in einer Leistungsgesellschaft bremse und dann auch zu einem immer schlechteren Abschneiden an der Spitze im Sport bei den Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften führt.
"Wir beklagen uns zu Recht darüber. Paris, letztes Jahr die Olympischen Spiele, fantastische Olympische Spiele, der Start macht was her, die Stadt Paris glänzt und wir Platz 10 im Medaillenspiegel, jedes Mal ein Stück weiter runter. Teilnehmerurkunden kriegen wir. Ja, meine Damen und Herren, wenn die Bundesjugendspiele nur noch Teilnehmerurkunden ausstellen, dann kriegen wir demnächst auch auf Olympiaden keine Medaillen mehr, sondern nur noch Teilnehmerurkunden. Ich möchte nicht, dass Deutschland nur noch Teilnehmerurkunden bekommt. Ich möchte, dass wir wieder an der Spitze stehen."

"Leistung ist nicht das, was rauskommt"

Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen. Stimmt der Zusammenhang zwischen fehlendem Leistungsverständnis an der Basis und dem nicht zufriedenstellenden Abschneiden bei Olympia? Und über welchen Leistungsbegriff sprechen wir?
"Leistung ist jetzt mittlerweile so ein Begriff gerade in dem Wahlkampf wie Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit. Das heißt, keiner weiß, was es ist. Das klingt aber fantastisch schön. Das ist Politik", stellt Katrin Lehmann fest, den meisten bekannt als ZDF-Fußballexpertin. Sie ist selbst auch Trainerin. Das richtige Verständnis des Leistungsbegriffs im Sport ist ihr ein wichtiges Anliegen.
"Leistung ist nicht das, was rauskommt, sondern Leistung ist das, was man reingibt." Deswegen gelte es als Trainerin oder Trainer, die Lust auf Leistung zu wecken. Es geht darum, auf Dauer die Freude am Sport und an der Bewegung zu behalten.

Leistung geht über Entwicklung

Im Training mit den drei Grundfragen: "Haben die Kinder gelacht? Haben die Kinder geschwitzt? Haben sie etwas gelernt?" Das heißt auch eine Klärung dessen, was das Ziel ist. Worum geht es eigentlich? Da unterscheidet sich der Leistungssport ganz grundsätzlich vom Amateurbereich. Was im Erwachsenenalter in der Regel verstanden wird, ist im Kinder- und Jugendbereich nicht immer so deutlich, weil hier auch immer noch Erwartungen mit hineinspielen, die einer potenziellen Karriere im Spitzensport. Mitunter sind es solche Erwartungen, die dann den Begriff der Leistung schnell in eine rein quantitative Betrachtung lenken. Es zählt vor allem das Ergebnis.
Und dem wird dann auch schon im Kinder- und Jugendsport ganz häufig fast alles untergeordnet. Genau das ist aber der falsche Weg, betont Sportwissenschaftler Ben Bendrich. "Es ist natürlich ganz, ganz wichtig, dass eigentlich die Entwicklung an erster Stelle stehen sollte. Aber das hat sich tief verankert in unserer Gesellschaft, dass wir auch am Esstisch die Kinder fragen. Wie habt ihr gespielt? Habt ihr gewonnen?"

Kinder drohen dem Sport gar ganz verloren zu gehen

Die Folge ist oft, es werden hauptsächlich die vermeintlich Besten aufgestellt. Das Selbstwertgefühl sowohl der als besser wie auch der als schlechter identifizierten Sportlerinnen und Sportler kann dadurch verzerrt werden.
In die eine oder andere Richtung. Und es kann auch dafür sorgen, dass in einer nie linear verlaufenden Entwicklung einer sportlichen Karriere Talente unerkannt bleiben. Oder Kinder und Jugendliche aus Frust einen Verein verlassen und dem Sport gar ganz verloren gehen.
"Und wir wollen ja genau das Gegenteil. Wir wollen ja mehr Kinder und Jugendliche im Sport haben und sie auch möglichst lange halten."

Es fehlen die Trainerinnen und Trainer

Wenn es ideal läuft, ein Leben lang. Aus der Forschung ist bekannt, dass gerade im jungen Alter hilfreich ist, die Kinder polysportiv auszubilden, also verschiedene Sportarten zu erlernen und zu praktizieren. Da sieht Ben Bendrich die Sportnation Norwegen als erfolgreiches Vorbild, wo erst spät eine Spezialisierung erfolgt. Allerdings können viele Vereine das kaum leisten. Es fehlt ohnehin schon an Trainerinnen und Trainern, sowohl im Ehren- als auch im Hauptamt.
Wiebke Fabinski, beim DOSB, zuständig für das Thema Bildung und Engagement, erklärt, wie groß das Problem ist. "Wir sehen durch Studien, dass die Bindung und Gewinnung von Trainern und Übungsleitern das größte Problem von Sportvereinen ist. Das ist der ganz vorneweg Sportentwicklungsbericht, der das zeigt. Das Problem ist jetzt auch noch mal größer geworden, wird im Neuen rauskommen. 67 Prozent der Vereine sagen, das ist ein Problem, elf Prozent sagen sogar, das ist existenziell."

Der DOSB fordert eine Bildungsoffensive für Trainer

Zugleich zeigten die Studien auch, wer besser qualifiziert ist, engagiert sich deutlich länger. "Im Schnitt engagieren die ohne Qualifizierung sich sechs Jahre und die mit Qualifizierung zwölf Jahre." Die Bindung zum Verein wird größer, ebenso die Sicherheit in der inhaltlichen Vermittlung, aber auch im sportpädagogischen Bereich.
Darum fordert der DOSB von der nächsten Bundesregierung eine Bildungsoffensive für Trainerinnen und Trainer. Ein mit eigenen Mitteln ausgestattetes Bundesprogramm. Denn was auch schon seit Jahren klar ist, einer der wesentlichen Faktoren, warum Kinder dem Breitensport verloren gehen und die Medaillen im Spitzensport weniger werden, sind die unzureichenden Rahmenbedingungen für Trainerinnen und Trainer. Bezahlung, Vertragsdauer, Ausstattung und Anerkennung.
Inwieweit eine Debatte im Wahlkampf über einen nicht näher definierten Leistungsbegriff hierbei hilfreich ist, bezweifelt auch der Göttinger Sport- und Gesundheitssoziologe Jan Haut. Er warnt.
"Wenn man den Sport, zumal den Sport von Kindern, nur auf diesen Leistungsaspekt reduziert. Es ist ja ein furchtbarer Gedanke, wenn Kinder da in einem sehr frühen Alter erfahren, Sport, ich bin nicht gut genug, dann lasse ich es halt. Und dann machen die ihr Leben lang vielleicht gar nichts mehr."
Und das wäre genau das, was auf keinen Fall passieren dürfe.