Verwackelte Kamera, schlechter Ton und rhetorisch nicht ganz sauber: So unvermittelt wie in dieser Szene zeigte sich 2006 "Deutschland ein Sommermärchen". Eine Dokumentation über das deutsche Team bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Sönke Wortmann filmte dabei vieles mit seinem kleinen Camcorder und zeigte nie da gewesene Einblicke in das Innenleben der Nationalelf.
Die Fans sehen David Odonkor verschlafen mit Zahnbürste im Mund und beobachten Lukas Podolski dabei, wie er Bastian Schweinsteiger unsanft aus dem Mittagsschlaf reißt. Vieles wirkt spontan, echt und unaufgesetzt.
Das zahlte sich aus: Platz 1 der Kinocharts und bis zu 4 Millionen Zuschauer.
"Original Content" – eine Saison mit Juventus Turin
Seitdem ist viel passiert. Vereine und Verbände haben das Potenzial hinter solchen Dokumentationen erkannt. "Original Content" nennt das der Sport-Medien Blogger Philip Ostsieker.
"Original Content dieser Art ist ein spannendes Instrument, um die Markenführung in die Hand zu nehmen. Plattformen wie Netflix oder Prime generieren einen spannenden Mehrwert für bestehende oder potentielle Nutzer und die Inhalte sind hochwertig und relativ einzigartig. Zudem sind sie praktischerweise kein Bestandteil klassischer, sehr hochpreisiger TV-Sportrechte-Pakete."
Original Content ist derzeit sehr beliebt. Anfang 2018 erscheint auf Netflix die erste Sport-Doku-Reihe des Hauses über einen Fußballverein. Sie begleitet den italienischen Serienmeister Juventus Turin eine Saison lang und zeigt dabei den Alltag eines Profifußballers.
Auch von einzelnen Sportlern genutzt
Eine ähnliche Reihe wie "Juventus" können die Fans bei Facebook Watch über Real Madrid sehen. Amazon Prime hat Serien über Manchester City und das Leben von sechs Vereinsbossen aus der spanischen ersten Liga im Angebot.
Doch auch einzelne Sportler wissen ihr Markenpotential über Original Content zu nutzen. Der französische Superstar Antoine Griezmann teilte seine Vertragsverlängerung bei Atletico Madrid vor kurzem exklusiv in einer 35-minütigen Dokumentation im spanischen Fernsehen mit.
Markenreichweite erhöhen
Fans erleben ihre Stars hautnah - Vereine und Spieler erhöhen ihre Markenreichweite. Eine Win-Win-Situation also? Sebastian Uhrich, Professor für Sportbetriebswirtschaftslehre an der Sporthochschule Köln, sieht dabei allerdings auch ein Problem.
"Wenn das Gefühl rüberkommt, es dient wirklich nur einer unauthentischen Inszenierung und einer Glorifizierung, dann kann es durchaus kontraproduktiv sein. Oder wenn kommerzielle Interessen ganz klar im Vordergrund stehen. Wenn man aber Eindrücke vermittelt hinter den Kulissen, die Fans normalerweise nicht haben - was sie natürlich brennend interessiert, wie läuft das da ab bei ihren großen Stars, kann das durchaus eine interessante Sache sein."
"Eben kein Journalismus"
Es ist also ein schmaler Grat, auf dem sich die Filmemacher bewegen. Klar ist, dass sich die neue Generation der Sportdokus stark unterscheidet von den alten. Mit Journalismus dürfe man diese Dokumentationen nicht verwechseln, so Uhrich weiter.
"Der aufgeklärte Fan muss im Prinzip erkennen, dass solche Formate eben kein Journalismus sind und man damit eben keinen kritischen Blick auf irgendetwas wirft, sondern dass das letztlich Elemente der Selbstdarstellung und Vermarktung sind. Da wird der Einfluss der Clubs viel zu groß sein, so dass die Dinge da präsentiert werden, wie sie präsentiert werden sollen."
Im Gegensatz zum Sommermärchen sind die neuen Dokus mit viel Pathos und extrem hochwertig produziert. Inhaltlich bleiben Serien wie "Juventus" dagegen eher an der Oberfläche und sparen kritische Auseinandersetzungen aus. Negative Aspekte wie eine Kontroverse um das neue Logo des Clubs werden kaum erwähnt.
Umso wichtiger ist kritischer Content
Sebastian Uhrich stellt sich die Frage, wie Sportjournalisten mit dieser neuen Entwicklung umgehen sollen.
"Die müssen sich einfach klar abgrenzen und verdeutlichen. Solche Dokus sind wunderbar, die interessieren den Fan möglicherweise und die soll es auch geben. Aber das ist kein unabhängiger Journalismus. Das ist, was sie auch klar kommunizieren müssen, dass sie im Zweifel auch die sind, die den Sport in einer Art und Weise anschauen und über ihn berichten, die nicht nur gefällig ist, sondern Dinge aufdecken, die vielleicht unbequem sind und die negativen Seiten zeigen."
Vereine brauchen durch Social Media und eigener Film-Produktionen eigentlich keine klassischen Medien mehr, um ihre Fans zu erreichen. Daher sei es für Journalisten umso wichtiger, eigenen und kritischen Content zu verbreiten, so Uhrich.
Doch nicht jeder Original Content ist belanglos und oberflächlich. Die Netflix-Serie "Last Chance U" begleitet das Football-Team des East Mississippi Community Colleges während mehrerer Saisons. Die Serie ist dabei authentisch, ehrlich und sehr nah an den Protagonisten und ihren Problemen. Die reichen von fehlendem Ehrgeiz über Diskriminierung bis zu Armut. Und wie beim Sommermärchen wird man Zeuge der einen oder anderen emotionalen Kabinenansprache.