Seemapuri gilt als eines der ärmsten Viertel von Neu-Delhi. Dichter Verkehr schiebt sich über holprige Straßen. Am Rand hält ein Transporter mit großem Wassertank. Verschwitzte Männer eilen herbei und füllen ihre Behälter auf. Viele Lehmhütten im Umkreis haben keinen Wasserzugang. Auf der anderen Straßenseite schlängelt sich ein Sandweg an Blechhütten entlang. Schäden in den Dächern sind notdürftig mit Planen bedeckt.
Einige Ecken sind mit Müllsäcken vollgestellt. Dazwischen hocken junge Frauen und suchen nach Pfandflaschen und anderen Gegenständen von Wert. Kleinkinder klettern barfuß über Tüten mit abgelaufenen Lebensmitteln. Der Geruch von Abfall, Smog und Urin lässt das Atmen schwerer erscheinen.
„Unsere Teilnehmer stammen alle aus diesem Viertel. Sie kommen regelmäßig zu uns und spielen Fußball“, sagt die Sozialarbeiterin Sonam Chaurasiya.
Sie ist in Seemapuri aufgewachsen und verliert über ihr Viertel kein schlechtes Wort. Chaurasiya steht in Trainingsklamotten auf einem kleinen Bolzplatz und klatscht zur Motivation in die Hände. Jugendliche in gelben und blauen Trikots passen sich Bälle zu.
Die NGO, für die Sonam Chaurasiya arbeitet, nennt sich „Slum Soccer“ und wurde 2001 gegründet, da war sie noch gar nicht geboren. „Slum Soccer“ nutze den Fußball als Medium für Bildung und Emanzipation, erzählt Chaurasiya:
„Wir sprechen hier über Hygienemaßnahmen, über Sicherheit und auch über Geschlechtergerechtigkeit. Wir möchten unsere Teilnehmer dazu ermutigen, sich in der Gesellschaft stärker zu engagieren.“
Überzeugungsarbeit bei den Eltern
Die soziale Stellung ist in Indien eng mit dem Kastenwesen verknüpft. Diese Hierarchie der hinduistischen Gesellschaft soll ihren Ursprung im zweiten Jahrtausend vor Christus haben. Am unteren Ende des Kastenwesens stehen die Dalit, auch bekannt als die „Unberührbaren“. Die Dalit mussten sich Jahrhunderte lang mit vermeintlich „unreinen“ Berufen begnügen, als Wäscher und Schlachter, als Müllsammler und Reiniger von Latrinen.
Der indische Staat hat diese Rangordnung offiziell abgeschafft. Doch wer sich in Vierteln wie Seemapuri umschaut, der sieht: Das Kastenwesen wird noch immer praktiziert. Die Sozialarbeiterin Sonam Chaurasiya sagt dazu:
„Dalit, die in Slum-Gegenden leben, werden oft auf Armut reduziert. Sie erleben viel Diskriminierung. Bei unserem Fußballprojekt sind sie jedoch willkommen und können so ein Teil der Gemeinschaft sein. Viele Eltern dachten lang, dass unser Viertel für ihre Kinder nicht sicher ist. Wir sind von Tür zu Tür gegangen und haben Überzeugungsarbeit geleistet. Inzwischen spielen bei uns Jungen und Mädchen mit unterschiedlichen Biografien. Und wir behandeln alle gleich.“
Sportler sprechen ungern über Kastensystem
In Indien beschäftigen sich Wissenschaft und Medien selten mit dem Einfluss des Kastenwesens auf den Sport. Eine Ausnahme: Die Aktivistin Tariqa Tandon, die in Neu-Delhi aufgewachsen ist und in Kanada Politikwissenschaft studierte, hat in Online-Artikeln über erfolgreiche Dalit-Sportler berichtet:
Als einer der bekanntesten Dalit gilt der Kricketspieler Palwankar Baloo, aufgewachsen im 19. Jahrhundert. Baloo stammte aus einer Familie von Lederarbeitern. In Bombay, heute Mumbai, beobachtete er als Jugendlicher die Spiele von britischen Kolonialherren. Er half beim Aufbau des Spielfeldes und trainierte mit ausrangierter Ausrüstung.
Palwankar Baloo entwickelte sich zu einem der besten Spieler. Doch nach den Partien musste er das Abendessen allein zu sich nehmen, erinnert Tariqa Tandon:
„Bis heute sprechen Sportler ungern über das Kastenwesen. In den 1990er Jahren schaffte es zum Beispiel Vinod Kambli ins indische Kricketnationalteam. Jeder wusste, dass er Dalit war. Aber er selbst wollte ausdrücklich nicht darüber sprechen.“
Reiche und arme Familien kommen selten in Kontakt
Seit mehr als 90 Jahren existiert die indische Kricketauswahl. Unter den mehr als 300 Spielern, die seither zum Einsatz kamen, waren nur vier Dalit. Das liege auch an der Segregation der Gesellschaft, sagt Tariqa Tandon. In riesigen Metropolen wie Neu-Delhi, Mumbai oder Kolkata kommen wohlhabende und benachteiligte Familien fast nie in Kontakt. Sie leben in unterschiedlichen Vierteln, ihre Kinder besuchen unterschiedliche Schulen, Kinos oder Sportstätten.
Tariqa Tandon: „Für manche Parks werden Sicherheitskräfte engagiert, um arme Menschen fernzuhalten. Auch sonst kostet der Zugang zum Leistungssport Geld. Die Mitgliedsgebühren, die Fahrtkosten zum Trainingszentrum und die Ausrüstung.“
Diese Verhältnisse legen nahe, dass staatliche Maßnahmen kaum Wirkung entfalten. Seit Jahrzehnten reservieren Ministerien, Behörden und Hochschulen bestimmte Stellen und Ausbildungsplätze für Dalit.
In den Sportverbänden wird eine bevorzugte Behandlung durch Quoten selten diskutiert, sagt Tariqa Tandon: „Wenn jemand das vorschlagen würde, wäre das politischer Selbstmord.“
Regierung erhöht Druck auf Medien
Dass das mitunter immer noch praktizierte Kastenwesen in indischen Medien eine untergeordnete Rolle spielt, liegt wohl auch an der zunehmend autoritären Regierung unter Premierminister Narendra Modi. Viele Zeitungen sind wegen des geringen Kaufpreises und der niedrigen Werbeerlöse auf Anzeigen staatlicher Organe angewiesen.
In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Indien auf Platz 161, von 180 bewerteten Staaten. „Die Regierung hat den Druck auf Institutionen erhöht, die unabhängig sein sollten“, sagt Tariqa Tandon. „Anhänger von Modi und seiner Partei wurden in Gericht und Medien berufen.“
Slum Soccer will auch Mädchen fördern
NGOs, die internationale Förderung erhalten, stehen zunehmend unter Beobachtung der indischen Behörden. Tariqa Tandon hält es für möglich, dass Projekte mit Sportbezug eher unter dem Radar bleiben, weil sie für den Staat weniger als politisch gelten.
Von dieser Wahrnehmung könnte auch „Slum Soccer“ am Stadtrand von Neu-Delhi profitieren. Die Sozialarbeiterin Sonam Chaurasiya kümmert sich beim Fußball um Menschen, die in akuter Armut leben. Viele von ihnen werden in doppelter Hinsicht diskriminiert.
„Frauen sind in Indien oft mit häuslicher Gewalt konfrontiert. Wenn sie abends nach draußen gehen, werden sie häufig belästigt. Hier im Viertel müssen Frauen anstrengende Arbeiten erledigen. Einige Familien nehmen ihre Töchter von der Schule, damit diese sich mehr um den Haushalt und ihre Geschwister kümmern können.“
Sonam Chaurasiya hat sich der Förderung von Mädchen im Fußball verschrieben. Ihre Eltern wollten anfangs nicht, dass sie in der Sozialarbeit eine so präsente Rolle einnimmt. Inzwischen sind sie stolz auf das Engagement ihrer Tochter. Sonam Chaurasiya scheint in Seemapuri jeden zu kennen. Und jeder kennt sie.