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Sport und Judentum
Kräftige Menschen für Zion

Ein Rabbiner läuft Marathon, jüdische Kinder lernen Kampfsportarten. Und das obwohl Wettkämpfe im Judentum lange als "Götzendienst" galten. Dem setzte der Arzt und Rabbinersohn Max Nordau vor rund 100 Jahren das Bild des "Muskeljuden" entgegen, um so körperliche Fitness zu fördern.

Von Tobias Kühn | 04.09.2019
Die israelische Delegation beim Einmarsch zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro
Früher waren sportliche Wettkämpfe für Juden ein Tabu - heute sind sie selbstverständlich (Picture Alliance / EPA / Valdrin Xhemaj)
Dienstagabend in der Turnhalle einer Berliner jüdischen Gemeinde: Zwei zehnjährige Jungen in Kampfsportkleidung ringen auf einer blauen Matte. Der Trainer hockt am Rand und gibt Anweisungen. Nachdem der kurze Kampf zu Ende ist, fangen zwei andere Jungen an, miteinander zu kämpfen. Was die Kinder trainieren, ist eine Mischung aus Ninjutsu und Krav Maga. Jede Woche kommen sie zum Sport ins jüdische Gemeindezentrum.
Sport und Judentum? Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren dies zwei Begriffe, die nicht so recht zusammenpassten. Verbreitet war das Bild, Juden seien durchgeistigt, körperlich schwach, unsportlich. Das mag in vielen Fällen eine antisemitische Zuschreibung gewesen sein. Doch lange Zeit entsprach das Bild des blassen, Talmud lernenden Mannes durchaus dem jüdischen Ideal, sagt Professor Robert Jütte. Er ist Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin in Stuttgart. Er hat das Konzept von Leib und Leben im Judentum wissenschaftlich durchleuchtet:
"Die innerjüdische Sicht ist weniger auf den Körper als auf den Geist gerichtet. Das führt dazu, dass zum Beispiel im Jiddischen ein "schejner Jid" nicht derjenige ist, der einen schönen, gesunden Körper hat, sondern vergeistigt ist, sich dem Torastudium widmet und das zum Inhalt seines Lebens macht."
"Dem schlaffen Leib verlorene Spannkraft wiedergeben"
Diesem Ideal des intellektuell orientierten Juden setzte der Arzt Max Nordau das Bild des sogenannten Muskeljuden entgegen. Das war Ende des 19. Jahrhunderts. In Österreich als Sohn eines Rabbiners geboren, lebte Nordau überwiegend in Paris und rief dazu auf, die körperliche Fitness der Juden durch Turnen zu fördern – um, wie er sagte: "dem schlaffen jüdischen Leib die verlorene Spannkraft wiederzugeben".
Nordau hoffte, so dem wachsenden Antisemitismus etwas entgegensetzen und durch Sport das Selbstbewusstsein und das Nationalgefühl der Juden zu stärken. Max Nordau gehörte zu den führenden Zionisten seiner Zeit. Er wollte mit seinem Aufruf dazu beitragen, im Nahen Osten eine sichere Heimstätte für Juden zu schaffen. Beim Aufbau des alten neuen Landes brauche es kräftige Menschen.
Max Simon Nordau (1849 - 1923), Zionistenführer, Arzt, Autor und Gesellschaftskritiker. Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation zusammen mit Theodor Herzl
Max Simon Nordau (1849 - 1923) (imago stock&people)
Die Debatte um mehr Sport im Judentum führte in Europa zur Gründung vieler jüdischer Turnvereine. Der erste im deutschen Kaiserreich war der Sportverein "Bar Kochba Berlin". Er ist nach Schimon Bar Kochba benannt, dem Anführer eines jüdischen Aufstands gegen die Römer im 2. Jahrhundert in Judäa.
"Besuche von Wettkämpfen waren Götzendienst"
Bar Kochba gilt in der jüdischen Tradition als ein überaus starker Mann. Er konnte sich durchsetzen, mental und physisch. Doch ein Sportler im klassischen Sinne war Schimon Bar Kochba sicher nicht. Das antike Judentum stand Sportwettkämpfen äußerst skeptisch gegenüber. Denn in der Antike war Sport oft mit heidnischen Kulten verbunden.
"Das wissen wir aus dem Talmud, dass die Besuche von Wettkämpfen jeglicher Art verboten waren für Juden, weil sie Avoda sara, also Götzendienst, waren", sagt Professor Robert Jütte.
Der Medizinhistoriker Robert Jütte. Er leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.
Der Medizinhistoriker Robert Jütte. Er leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. (imago / Horst Galuschka)
Im antiken Judentum galt Sport als eine nichtjüdische Sitte, von der Juden sich fernhalten sollten. Bei römischen Sportwettkämpfen standen oft Gewalt und Schauspiel im Vordergrund. Griechische Wettkämpfe wiederum waren rituelle Handlungen, gewidmet den verschiedenen Göttern – ein Unding für das monotheistische Judentum, das nur den einen Gott verehrt, der Himmel und Erde erschaffen hat.
Jakob als Ringer
Auch wenn das Judentum vom heidnischen Muskelkult nichts hielt, gab es im Laufe der langen jüdischen Geschichte doch so manche Begebenheit, die mit dem, was wir heute Sport nennen, durchaus etwas zu tun hatte.
Das erste Ereignis dieser Art in der jüdischen Überlieferung war ein nächtlicher Ringkampf, den der israelitische Erzvater Jakob führte. In der Nacht, bevor er nach vielen Jahren erstmals seinen Bruder Esau wiedersah, wurde er am Fluss Jabbok von einem Mann angegriffen. Die ganze Nacht hindurch rangen die beiden Männer miteinander. Die Tora berichtet davon im 1. Buch Mose:
"Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als jener merkte, dass Jakob sich nicht niederringen ließ, schlug er ihn auf dessen Hüftgelenk, sodass es sich ausrenkte. Und der Mann sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht – es sei denn, du segnest mich. Da sprach der Mann: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Daraufhin sagte der Mann: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft – und hast gesiegt."
Ein Rabbi beim Marathon
Eine der zentralen Geschichten der Bibel erzählt also von einem sportlichen Wettkampf. Und heute? Der orthodoxe Berliner Rabbiner Shlomo Afanasev nimmt durchaus an Wettkämpfen teil: Er läuft Marathon und will damit beweisen, dass das heutige Judentum, selbst das orthodoxe, dem Sport durchaus etwas abgewinnen kann. Der gebürtige Usbeke hat vor vier Jahren mit dem Laufen angefangen. Inzwischen trainiert er dreimal in der Woche. Ursprünglich wollte er nur abnehmen:
"Ich sitze sehr viel. Ich muss viel unterrichten, viel lernen und viel studieren die ganze Zeit, und auch Gemeindearbeit, ganz viel sitzen. Und koscheres Essen ist nicht immer ganz gesund. Es ist auch nicht ungesund, aber es ist lecker, und man isst viel, besonders an Feiertagen und am Schabbat. Und da habe ich wieder und wieder zugenommen – und dann wollte ich irgendwann abnehmen. Aber danach habe ich gemerkt, dass es Spaß macht, und man könnte besser werden. Man hat Ziele, die man erreichen möchte, man möchte schneller werden: Halbmarathon in 90 Minuten, Halbmarathon in weniger als 90 Minuten und so weiter."
Den ersten Marathon lief Rabbi Afanasev vor zwei Jahren in Berlin.
"Das war wahrscheinlich mein schönster Lauf, mein schönster Wettkampf. Die Stimmung war einfach supertoll in Berlin. Den ganzen Weg stehen Leute und feuern an und geben ganz viel Support. Das war sehr toll, und auch mein Ergebnis für den ersten Wettkampf war sehr gut. Ich habe am Anfang unter 3:30 trainiert, und dann habe ich mir gedacht, vielleicht kann ich es schneller machen, ich versuche 3:15. Am Ende war es 3:18 – was immer noch ganz gut für den ersten offiziellen Marathon war."
Sport darf nicht zum Kult werden
Doch: Sagten die Weisen des Talmuds nicht, fromme Juden sollen Sportwettkämpfe meiden?
"Solange man daraus keinen Kult macht, finde ich, ist es gar kein Problem, das zu machen, für alle. Es gibt diejenigen, die jeden Tag laufen, und die jede Woche ein neues Paar Laufschuhe und Laufkleidung kaufen, und die wollen alle möglichen Wettkämpfe – wenn das die Hauptsache des Lebens wird, dann ist es schon ein bisschen bedenklich, würde ich sagen. Denn es gibt Familie, es gibt viele Sachen außer Laufen in unserem Leben, die wir machen sollen, und mit welchen wir uns beschäftigen müssen. Insbesondere Rabbiner und religiöse Juden, die müssen Tora lernen, die müssen Zeit haben, um verschiedene Mitzwot zu halten, Feiertage, Familie, anderen helfen. Und wenn man Laufen zum Hauptzweck des Lebens macht, bleibt einem keine Zeit."
Eine Frau und ein Mann mit einer israelischen und einer deutschen Flagge bei den Olympischen Spielen 2012 in London
"Als jüdischer Athlet kann man anderen zeigen, dass Juden ganz normal dabei sein können" (picture alliance / dpa / Sharifulin Valery)
Der Sport darf also nicht zum Kult werden. Die meisten orthodoxen Rabbiner haben heute nichts mehr dagegen, wenn jüdische Athleten an Sportwettkämpfen teilnehmen, auch an Olympischen Spielen. Denn anders als in der Antike werden die Wettkämpfe nicht mehr zu Ehren der griechischen Götter ausgetragen, sind also kein Götzendienst mehr.
"Bei Olympischen Spielen, wenn man darin gut ist und sein Land repräsentieren kann, insbesondere wenn man für Israel dort ist oder, sagen wir mal für Deutschland, aber als jüdischer Athlet, und man kann anderen zeigen, dass Juden ganz normal dabei sein können, ganz gute Leistungen schaffen und immer noch jüdisch leben – ich glaube: Man müsste es dann sogar machen."
"Gegen sich selbst zu kämpfen – das finde ich sehr jüdisch"
Der Marathon laufende Rabbiner Shlomo Afanasev steht dem Wettkampfgedanken auch grundsätzlich positiv gegenüber.
"Ich glaube, alles was mit Wettkampf zu tun hat, ist schon ein bisschen jüdisch. Man will sich immer verbessern und entwickeln. Und das ist halt die Hauptsache beim Laufen. Dieser Trieb, sich immer zu verbessern und zu entwickeln und gegen sich selbst zu kämpfen – nicht gegen andere! – das finde ich sehr jüdisch."
Die Krav-Maga Trainerin Beate Bechmann (r) trainiert am 07.01.2016 in ihrem Studio in Offenbach am Main (Hessen) mit Ayse (l) die Abwehr eines Angriffs. Seit den Übergriffen in Köln verzeichnet die Kampfsport-Ausbilderin einen Ansturm auf Selbstvertidigungskurse für Frauen.
Krav Maga ist in der Welt des Kampfsports ein israelischer Exportschlager (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
Von der Antike bis heute: Sport ist für Juden ein Berührungspunkt mit der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Viele religiöse Juden sehen deshalb im Sport nicht nur eine körperliche Herausforderung, sondern auch eine geistige: Sie wollen den Körper ertüchtigen und zugleich den Regeln des Judentums treu bleiben. Oder sie wollen ihren Kindern schlicht und ergreifend Selbstverteidigung ermöglichen – etwa beim Krav-Maga-Training im jüdischen Gemeindezentrum.
Dieser Beitrag ist in seiner Langfassung erstmals am 01.08.2018 in der Reihe "Aus Religion und Gesellschaft" als Feature erschienen.