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Sportabzeichen und Heldentod

Carl Diem erfand den olympischen Fackellauf der Spiele der Neuzeit, initiierte die Reichsjugendwettkämpfe, aber gilt als Sportfunktionär, der wegen seiner Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus umstritten ist. Ein Biografie Diems, "Den Sport gestalten" von Frank Becker, soll Aufschluss über die Verstrickungen des Funktionärs ins NSDAP-Gefüge geben.

Von Erik Eggers | 11.07.2009
    Er hatte das Sportabzeichen eingeführt. Die Gründung der ersten Sportuniversität der Welt initiiert. Im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik die deutsche Sportverwaltung maßgeblich beeinflusst. Unüberschaubar auch sein publizistisches Oevre: Fast 50 Monografien zu olympischen Themen hatte Carl Diem verfasst, als er 1962 im Alter von 80 Jahren starb. Da wurde der vielseitige Funktionär geradezu verehrt. Der renommierte Sportmediziner Wildor Hollmann adelte ihn noch Jahrzehnte später als "bedeutendste sportbezogene Persönlichkeit in der Weltgeschichte des Sports". Das war der eine Carl Diem.

    Der andere Carl Diem war seit Mitte der 1990er-Jahre Gegenstand heftiger Debatten. Ein Vorwurf lautete, als Generalsekretär der Olympischen Spiele 1936 in Berlin dem Hitlerregime eine propagandistische Bühne geliefert zu haben. Zündstoff barg insbesondere jene Rede, die Diem am 18. März 1945 auf dem Berliner Reichssportfeld gehalten hatte. Mit einem rhetorischen Ausflug in die Antike, in dem er den Heldentod der Spartaner feierte, soll er Hunderte von Hitlerjungen in den sicheren Tod geschickt haben.

    In all diesen Debatten ging es letztlich nicht um die Figur Diems, sondern um die Aufarbeitung der komplizierten Geschichte des deutschen Sports. Als die Sporthochschule Köln, der Deutsche Olympische Sportbund und die "Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung" 2004 ein biografisches Forschungsprojekt finanzierten, bezeichnete dies der damalige DSB-Präsident Manfred von Richthofen als "Beitrag zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte Deutschlands".

    Nun sind die ersten Ergebnisse dieser Biografie vorgelegt worden. Das Zeugnis, das der Historiker Frank Becker dem Sportfunktionär dabei für die Zeit des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus ausstellt, fällt wenig schmeichelhaft aus. Er beschreibt Diem als Opportunisten mit vielen Gesichtern.

    Solide recherchiert und stets gut lesbar zeichnet Becker zunächst den rasanten Aufstieg Diems in die Spitzen der Sportpolitik nach: Diems Wirken als Sportjournalist, seine Ämter als Leichtathletikfunktionär, sowie seine Rolle als Generalsekretär der Olympischen Spiele 1916 in Berlin, die wegen des Krieges ausfielen. Auch das Diemsche Projekt von der Verzahnung des Sports mit dem Militär war bekannt.

    Die private Korrespondenz sowie die Tagebücher Diems, die Becker gründlich auswertet hat, eröffnen indes völlig neue Blicke. Zum einen belegen diese Briefe laut Becker eine homosexuelle Beziehung Diems zu seinem Kameraden im Berliner Sport-Club, Martin Berner. Gegenüber einem anderen Freund äußerte Diem antijüdische Ressentiments. Diem bezeichnete die Juden einmal als "Semitenbande". Ein anderes Mal kritisierte er, ein klassisches antisemitisches Stereotyp, den angeblich großen jüdischen Einfluss in den Medien. In dem Brief heißt es:

    "Die Judenpresse mit ihrem zersetzenden Gesäusel, wenns und abers, mit ihrer liberalen Wabbligkeit, ihrem öden Spott über Regierung und Heer ist der schlimmste Schade fürs deutsche Volk. Sie hat alle Macht in den Händen und das schlimmste, der Inhalt der Frankfurter Zeitung und des Berliner Tageblattes gilt in der ganzen Welt als der Ausdruck der deutschen Volksmeinung."

    Die große Begeisterung Diems bei Beginn des Ersten Weltkrieges legt sich bald. Der Krieg sei ein Wahnsinn, schrieb er Berner, kurz bevor der Freund an der Ostfront starb. Zitate, die in krassem Widerspruch zu den publizistischen Aktivitäten Diems standen, in denen er den Sport als Büchsenspanner des Militärs rühmte.

    Für die Zeit des Nationalsozialismus zeichnet Becker ein ebenfalls sehr differenziertes Bild. 1933 wurde Diem degradiert. Er verlor jeden Einfluss bei seinem Kind, der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, auch den Posten als allmächtiger Generalsekretär im Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen. Im Vergleich zu anderen Spitzenfunktionären habe er eine relativ große Distanz zum Nationalsozialismus an den Tag gelegt, urteilt Becker.

    Allein die Aufgabe als Generalsekretär im Organisationskomitee für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin blieb Diem noch. Hier beschäftigte er einige jüdische Mitarbeiter beziehungsweise Mitarbeiter mit jüdischen Verwandten. Zugleich habe Diem jedoch den propagandistischen Wert der Spiele für das NS-Regime nicht erkennen wollen, kritisiert Becker:

    "Stattdessen reiste er […] durch Europa und verharmloste die Diskriminierung der Juden im NS-Staat, um die Spiele für Berlin zu retten."

    Die weiteren Tätigkeiten Diems, etwa die Truppenbetreuung an den Fronten des Zweiten Weltkrieges, sieht Becker weniger problematisch. Die These des deutschen Sportpädagogen und Diem-Schülers Ommo Gruppe, Diem habe damals innerlich emigriert, ist laut Becker völlig abwegig. Vielmehr habe Diem als "Erfüllungsgehilfe des Reichssportführers" fungiert.

    Für die berühmte Sparta-Rede im März 1945 fällt das Urteil Becker ebenso klar aus. Diesen Auftritt Diems vor einem HJ-Volkssturmbataillon, den er detailliert analysiert, bezeichnet der Historiker als "Durchhalterede". Hier habe sich Diem …

    " ... in einen Schuldzusammenhang verstricken lassen, er hat aktiv mitgewirkt an der Einschwörung von jugendlichen Soldaten auf den so genannten Endkampf um die Reichshauptstadt."

    Beckers hervorragende Biografie setzt hohe Maßstäbe. Die geschichtspolitische Debatte um Diem, die sich in Wirklichkeit mit der Frühgeschichte des deutschen olympischen Sports beschäftigt, dürfte dennoch nicht beendet sein.

    Frank Becker: Den Sport gestalten
    Carl Diems Leben (1882-1962)

    Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg 2008, 19,90 Euro