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In voller Länge

Zum ersten Mal in voller Länge, heißt es, sei Richard Wagners Lohengrin am Samstag in Wien gegeben worden. Um an der Wiener Inszenierung etwas Besonderes zu finden, genügt jedoch schon ein Blick auf den Besetzungszettel - Johan Botha in der Titelpartie und am Pult der in Köln als Chefdirigent WDR-Rundfunksymphonieorchesters tätige Semyon Bychkow.

Von Frieder Reininghaus | 04.12.2005
    Dass Heinrich 'der Vogler', der erste so richtig deutsche König, Truppen für einen Feldzug gegen "des Ostens Horden" braucht, ist in der Wiener Staatsoper wohl zu vernehmen. Kwangchul Youn bringt Erfahrung aus Bayreuth mit und weiß einen distinguiert-unglücklichen Herrscher wie Marthalers Marke oder eben einen nicht minder modernisierten Herrn Heinrich wohlgesetzt zu geben. Die ihm vom Komponisten in den Mund gelegten Staats- und Kriegsziele könnten als Ansatz- oder Angriffsfläche einer Inszenierung genommen werden, die es mit den Höhen und Tiefen des Werks wie seiner Rezeptionsgeschichte ernst meint.

    Doch mit Historie, gar der des 10. Jahrhunderts, in dem der Sachsenkönig das Reich nach Norden, Süden und Osten erweiterte, hat der Regisseur Barry Kosky so wenig am Hut wie mit den politischen Verwicklungen und Agitationsabsichten des Dichterkomponisten Wagner in der Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht einmal eine Andeutung auf Welt- oder Landesgeschichte findet sich in seiner Produktion. Etwas ungehalten wirkt der graue Herrscher, dass er da im Herzogtum Brabant erst einmal für Ordnung sorgen und einen brisanten Erbfolgestreit schlichten muß: der kleine Gottfried, für den Friedrich Graf Telramund die Pflegschaft übernahm, verschwand spurlos beim Spielen im Wald, als die große Schwester Elsa auf ihn aufpassen sollte. Die wird nun der zumindest fahrlässigen Tötung angeklagt – und verteidigt sich gegen die Männer-Übermacht im Verfahren allein durch eine Mitleidsbekundung mit dem Opfer und einer Traumerzählung.

    Regisseur Kosky erinnert mit einem gelben Plastik-Laster auf einem unwirtlichen Spielplatz an den verschwundenen kleinen Gottfried und lässt Soile Isokoski als blinde Absolventin eines Mädchenpensionats auftreten zwischen Haarbürsten, die wie Bäume aufragen: hilfsbedürftiger sah man Elsa von Brabant wohl selten. Ihr Singen und Beten führt, so will es das Werk, den Helden und Retter Lohengrin herbei – wobei der liebe Schwan längst ausgedient hat.

    Eine dicke gelbe Kette löst sich von Johan Botha, der plötzlich wie ein Hinkelstein aus der dunklen Masse der Choristen aufragt und die Musik der äußersten Hingabebereitschaft auslöst. Den Schwertkampf des Gottesgerichts bestreitet der Hüne allein mit seinen stechenden Augen – alle Hieb-, Stich- und Schlagwaffen, die ihm vom Heerrufer angeboten werden, lehnt er mit souveräner Geste ab.

    Elsa wird – wie sollte sie auch – durch das Eingreifen des namenlosen Fremden, der anonym zu bleiben wünscht, nicht hellsichtiger.

    Barry Kosky sorgte dafür, dass sie sich weiter als Blinde durch das Drama tastet, in dem sie so viel von dem singt, was sie sieht. Der zunächst womöglich erkenntnisträchtige Kunstgriff verschleißt sich in der dezidiert stil- und geschmacklos angelegten Playmobilwelt des zweiten Aufzugs, in dem ein gelbes Spießereigenheim mit Lattenzaun und Haserl vorm Fensterl durch einfache Klapp-Mechanismen zur Kirche mutiert, vor dem lustige Vogelhochzeit aufflattert: das viele Plastik-Spielzeug kommentiert einen Blick auf die Geschichte, die auf die oberflächlichste Weise als eine fast private Angelegenheit zwischen hilflos guten und durchtrieben bösen Figuren mit lauter Versatzstücken der Theatertradition bestritten wird.

    Gerade aber dem zur kriminellen Intrige verführten Grafen Friederich und seiner bitterbösen Gattin Ortrud verleihen Falk Struckmann und Janina Baechle großes Format. Sie wurden – zu recht – ebenso mit Ovationen bedacht wie der kolossale Johan Botha und die gelegentlich wundersam fragil wirkende Soile Isokoski. Semyon Bychkov nutzt die Möglichkeiten, die ihm das Weltklasseorchester zu seinen Füßen bietet – effektiv und plakativ.

    Die Wiener Musikfreunde kamen da gestern Abend wieder einmal voll auf ihre Kosten (die ja nicht eben gering sind in der illustren Halle am Karlsplatz). Warum der Opernimpresario Ioan Holender allerdings eine gar so unbedarfte szenische Realisierung ins Spiel brachte, bleibt unerfindlich. Die blieb gegenüber Elsas Liebestod am Ende so hilflos wie gegenüber dem Hoffnungsschimmer des Stücks: der kleine Gottfried erscheint schließlich wie ein Homunkulus in einer der großen Tränen, die vom Bühnenfirmament herabsinken. Vielleicht ist der Intendant ja der Meinung, dass Kitsch die Kunst der Neutralisierung erst richtig schön macht.