An welcher Stelle der Impfreihe sollten Sportlerinnen und Sportler kommen, die schon bald wieder Wettkämpfe bestreiten müssten, wenn die in dieses Jahr verschobenen Sportgroßereignisse stattfinden sollen?
Fußballtrainer Heiko Herrlich, Kunstturnerin Elisabeth Seitz und Fechter Max Hartung haben sich so dazu geäußert:
"Ich denke die Reihenfolge ist ja ganz klar, jetzt kommen erst mal die Alten, dann die Pflegekräfte, was ja auch Sinn macht und die Ärzte und wir stehen da weiter hinten. Es macht keinen Sinn, dass sich der Fußball da vordrängelt", sagte Herrlich.
Seitz sagte: "Ich will mich auch impfen lassen, nur würde ich es nicht wollen, dass man Sportler gerade im Hinblick auf die Olympischen Spiele denen vorzieht, bei denen es viel wichtiger ist, die älteren Leute, Risikopatienten, Krankenpfleger, Ärzte, aber auch Erzieherinnen und Lehrer und Lehrerinnen und da hoffe ich, dass wir noch rechtzeitig drankommen, aber gleichzeitig möchte ich, dass alle die, bei denen es wichtiger ist, vor uns auch drankommen werden."
Hartung meinte: "Ich denke es kommt darauf an, wie die Knappheit des Impfstoffes aussieht, also mit wem man am Ende tatsächlich um einen Impfstoff konkurriert."
Entscheidung müsste bald fallen
Solange der Impfstoff knapp ist, stellt sich die Frage, ob Athletinnen und Athleten eine eigene Gruppe sein könnten, die in der Rangfolge zwar nicht ganz vorne stehen, jedoch anderen, ihrem Risiko ähnlichen Gruppen vorgezogen werden. Die Zeit ist allerdings knapp, und die Entscheidung müsste schon bald fallen, denn in Kürze müssen Qualifikationswettbewerbe wieder aufgenommen werden, die wegen des Ausbruchs der Pandemie im vergangenen Jahr abgebrochen bzw. erst gar nicht mehr durchgeführt wurden.
Bei seiner Reise zur Gastgeberstadt Tokio Mitte November sprach IOC-Präsident Thomas Bach über die Strategie des IOC: "Wir packen einen großen Werkzeugkasten zusammen und werden alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, so dass wir zu einem gewissen Zeitpunkt nur noch die richtigen Werkzeuge rausgreifen und einsetzen müssen um sichere Spiele zu garantieren."
Zu diesem Werkzeugkasten gehören neben Masken, Abstand, Tests, auf das Minimum reduzierte Aufenthalte der Sportler im Olympischen Dorf, auch eine Beteiligung an der weltweiten Impfkampagne mit eigenen Impfdosen. "Wir wollen so viele ausländische Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie möglich überzeugen, sich impfen zu lassen." Verpflichtend soll das Impfen allerdings nicht sein.
Zwei Argumente für Vorzug von Athletinnen und Athleten
Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, bis vor kurzem Mitglied des Ethikrates und Olympiateilnehmer von 1968, ist der Ansicht, Kaderathletinnen und -athleten könnten eine gewisse Vorrangstellung beim Impfen erhalten, nachdem die ersten Höchst-Risikogruppen durch sind: "Zwei Argumente sprechen dafür: Das Erste ist, dass die Gesamtzahl der Athleten in einem Land etwa wie Deutschland, die teilnehmen an den Spielen, gering ist. Die Athleten vorzuziehen berührt die Interessen anderer Gruppen so gut wie gar nicht."
Selbst wenn die zu impfende Gruppe größer wäre als das reine Olympiateam mit rund 400 Athletinnen und Athleten, weil auch schon für die Qualifikationswettbewerbe geimpft würde, sieht Reinhard Merkel da noch keine nennenswerten Verschiebungen zu Lasten anderer. "Das Zweite, was dafür spricht, wäre die symbolische Bedeutung der Olympischen Spiele. Darüber könnte man mal eine intensive Diskussion beginnen. Die Diskussion wird schon auch beiläufig irgendwie geführt, aber es wird dann immer gesagt, ja die Spiele sind ein Symbol für den Frieden der Welt punkt, fertig. Das einmal ein bisschen genauer zu analysieren, was diese Spiele bedeuten und was sie vielleicht auch nicht mehr bedeuten. Das wäre eine wichtige Aufgabe."
Was, wenn Spiele ersatzlos ausfallen?
Diese Diskussion fällt möglicherweise leichter, wenn sie aus der Perspektive geführt wird, was wäre, wenn die Spiele ersatzlos ausfielen. "Dann würden viele sagen, irgendetwas fehlt. Auch wenn man das positiv gar nicht so leicht formulieren kann und immer ein gewisser pathetischer Überschwang dabei mit ins Spiel kommen mag, ist die Vorstellung, dass diese Menschheitsveranstaltung, die ja nun seit über 120 Jahren ein bedeutendes Ereignis für die ganze Welt ist, ersatzlos gestrichen wird. Das würde ein tiefes Loch hinterlassen an globaler, kollektiver Sinnstiftung."
Gegen alle Fehlentwicklungen, die die Spiele genommen haben, bleibt die übergeordnete olympische Idee des sportlich fairen Wettkampfes und Treffpunkts der Menschen aus aller Welt immer noch ein anthropologisches Grundbedürfnis, argumentiert Reinhard Merkel. Für den Erhalt dieser Idee unter der Voraussetzung, dass sie als Veranstaltung sicher durchgeführt werden kann und kein Super-Spreading-Event wird, lohne es, die Rangfolge der Impfungen entsprechend auszurichten und der Frage des Privilegs der Impfung keine Neiddebatte anzuknüpfen, betont Merkel. "Man möge sich mal klarmachen, wie viel an persönlichem Investment von Quälerei, Verzicht und man darf das so dramatisch formulieren, Leiden ein Athlet, eine Athletin auf sich nimmt, bis sie sich auf die Höhe der Olympiateilnahme qualifiziert hat."
Auch umgekehrt ergeben sich Fragen: Das IOC will den Impfstatus nicht zur Voraussetzung machen. Was aber darf das IOC und der Tokioter Veranstalter im Juli, wenn Impfstoffe in möglicherweise nicht wenigen Ländern keine knappe Ressource mehr sind, den Teilnehmenden zumuten, damit die Spiele so sicher wie möglich abgehalten werden? Schließlich gibt es auch unter den Olympiateilnehmerinnen und -teilnehmern Impfskeptiker und vielleicht kommt dem oder der einen oder anderen die Situation der Knappheit jetzt auch zupass. "Dann könnte man sagen, ihr werdet zugelassen, ihr müsst euch aber in Tokio eine ganze Menge mehr an Belästigungen der Kontrolle gefallen lassen", sagt Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Mit vielen Testungen, klaren Quarantäneanordnungen und im Zweifelsfall auch einem Ausschluss von den Wettbewerben.
Viele Fragen nicht geklärt
Zudem sollten auf dem Weg zu Olympia Qualifikationen jetzt aus Sicherheitsgründen nur bei nationalen Wettkämpfen ermittelt werden, findet Merkel. Aber selbst mit der Beantwortung der Grundfrage, ob Athletinnen und Athleten einen gewissen Impfvorrang erhalten sollten, sind noch viele weitere Fragen nicht geklärt: Zeitpunkt, unterschiedliche Verfügbarkeit in den 206 Teilnehmernationen, unterschiedliche Impfstoffzulassungen.
Zu den ohnehin schon immer vorhandenen Wettbewerbsverzerrungen kommen etliche Corona-bedingte hinzu. Es sind nicht einfach nur um ein Jahr verschobene Spiele, betont Fechter und Sprecher der unabhängigen Athletenvereinigung Athleten Deutschland, Max Hartung: "Das Training ist anders, wir können nicht so reisen, wir können nicht so Wettkämpfe abhalten jetzt und das wird wahrscheinlich ja auch noch das ganze Jahr weiterhin alles sehr eingeschränkt sein, d.h. auch die sportlichen Leistungen werden anders ausfallen, weniger vergleichbar sein. Für mich selber auch. Ich habe noch nie neun Monate lang nicht mit internationalen Gegner gefochten, seitdem ich acht Jahre alt bin. Also das ist eine total neue Situation."
Normalerweise würden Athleten längst in der akribischen Vorbereitung stecken, um genau auf diesen einen entscheidenden Wettkampf hin zu trainieren. Doch noch gibt es zu viele Variablen, um diese Vorbereitungen so durchführen zu können.
Normalerweise würden Athleten längst in der akribischen Vorbereitung stecken, um genau auf diesen einen entscheidenden Wettkampf hin zu trainieren. Doch noch gibt es zu viele Variablen, um diese Vorbereitungen so durchführen zu können.
Was folgt daraus? Diese Spiele sollten auch in der Bewertung andere sein, Maßstäbe anders angelegt werden. Wer weiß auch schon, was woanders möglich war und unter welchen Voraussetzungen Athletinnen und Athleten vorbereitet wurden? Athletensprecher Max Hartung: "Die Vergleichbarkeit ist noch weniger gegeben als sonst, die ist vielleicht sonst auch nie so gegeben, wie das so auf den ersten Blick aussieht. Vielleicht muss man eben mehr schauen, was die Sportler für Geschichten durchleben, wie das Training läuft, wie viel die dafür geben und weniger am Ende, besonders in diesem Jahr die Medaillen im Medaillenspiegel zählen."
Der Wettkampf als solcher, die eine oder andere Geschichte um die Spiele, ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer und ihr neues Selbstverständnis, ihr politisches Gewicht und Stimme könnten stattdessen das Narrativ sein.