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Sportphilosoph zu Fußball-EM während Corona
"Alle rechnen sich Profite aus"

Europäische Regierungschefs wie der britische Premier Boris Johnson versprechen sich von der Ausrichtung von EM-Spielen eine Steigerung ihres Prestiges, sagt Sportphilosoph Gunter Gebauer im Deutschlandfunk. Deswegen würden viele das erpresserische Spiel der UEFA auch während einer Pandemie mitspielen.

Von Maximilian Rieger und Mathias von Lieben |
Der Sportsoziologe Gunter Gebauer
Der Philosoph und Sportsoziologe Gunter Gebauer meint: "Die Strukturen, die wir jetzt haben, die werden nicht ewig weiter bestehen." (imago sportfotodienst)
"Für Politiker und Politikerinnen ist eine Fußball-Europameisterschaft oft das Höchste während ihrer Regierungszeit", sagt Sportphilosoph Gunter Gebauer im Deutschlandfunk: "Am liebsten mit einem eigenem Stadion, ganz vielen Zuschauern und einer eigenen, im besten Fall erfolgreichen Mannschaft." Laut Gebauer würden sich populistische Politiker wie der britische Premierminister Boris Johnson davon erhoffen, dass das Positive eines solchen Turniers dann an ihnen haften bleibe – und das Negative beiseite geschoben werden könne.
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"Players – der Podcast zur EM“ (Deutschlandradio)

Fast 2.000 Covid-Fälle nach EM-Spielen in London

In Johnsons Fall, der laut Gebauer mit populistischer Zustimmung arbeite, könnte die Rechnung sogar aufgehen. Nachdem die englische Nationalmannschaft durch den Sieg im Achtelfinale gegen Deutschland ins Viertelfinale eingezogen war, kannte die Euphorie im Land keine Grenzen. Und das obwohl laut schottischer Gesundheitsbehörde allein fast 2.000 neue Covid-Fälle in Zusammengang mit EM-Spielen in London stehen.
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Nach dem Sieg über Deutschland ist die Euphorie auf der Insel groß, sagte Raphael Honigstein im Dlf. Das Trauma von Niederlagen gegen die DFB-Elf bei wichtigen Turnieren sei nun ein Stück weit geheilt.
Hinzu kommt: Am Donnerstag registrierten die Behörden in Großbritannien insgesamt knapp 28.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Zahlen, die belegen könnten, dass die in Großbritannien grassierende Delta-Variante bei der EM tatsächlich für höhere Infektionszahlen sorgt.
Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO macht die zunehmenden Zuschauerzahlen in den Stadien der Fußball-EM mitverantwortlich für einen Anstieg der Corona-Infektionen in Europa. An der Entscheidung, für die Halbfinals und das Finale im Londoner Wembley-Stadion nun sogar 60.000 Menschen ins Stadion zu lassen, hält die britische Regierung allerdings eisern fest.

"Erpresserisches Spiel von UEFA-Chef Čeferin"

"Das liegt an einem intelligenten und erpresserischen Spiel, das UEFA-Chef Čeferin mit den Regierungschefs spielt", begründet Sportphilosoph Gebauer diese Handlungsweise. Boris Johnson oder Ungarns Regierungschef Viktor Orban seien Politiker, die laut Gebauer bereit seien, alle Konditionen der UEFA zu akzeptieren und zu übernehmen.
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Damit spielt der Sportphilosoph auch auf unbestätigte Berichte der "Times" an, laut der die UEFA Johnson gedroht habe, London die drei letzten großen Spiele zu entziehen und nach Budapest zu verlegen, wenn Forderungen nach erhöhter Stadionkapazität und weniger restriktiven Einreise- und Quarantäneregeln nicht erfüllt werden.
Das sei laut Gebauer ein "feiner Erpressungsversuch" von UEFA-Chef Čeferin, mit dem er auch den Spielort München wegen der geringen Zuschauerauslastung unter Druck gesetzt habe.

"Alle rechnen sich nur Profite aus"

Mittlerweile ist auch bekannt, dass für die 60.000 Zuschauenden bei den letzten drei Spielen der Europameisterschaft im Londoner Wembleystadion keine Maskenpflicht mehr gelten wird und das Abstandsgebot quasi aufgehoben ist. Die UEFA verwies in diesem Kontext auf die Zuständigkeit der lokalen Behörden. "Für eine neue Welle will natürlich keiner verantwortlich sein", sagt Gunter Gebauer: "Alle rechnen sich nur Profite aus, nicht nur ökonomische, sondern auch solche des Prestiges. Niemand ist verantwortlich."
Angesprochen auf eine Äußerung des deutschen Innen- und Sportministers Horst Seehofer, der das Vorgehen der UEFA als "absolut verantwortungslos" kritisiert und den Verdacht geäußert hatte, es gehe dem europäischen Fußball-Verband um Kommerz, sagte Gebauer: "Das wäre ja naiv. Und naiv sind die Politiker nicht. Das wissen sie alles." Darauf lassen Äußerungen von SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach schließen.
Auf Twitter hatte er zuletzt drastische Worte gewählt: "Die UEFA ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich. Die EM ist eine Gefährdung der Bürger Englands und der Bürger Europas. Eine Schande für den Sport."

"Das Spiel kann man nicht zurückdrehen"

Sportphilosoph Gunter Gebauer glaubt jedoch nicht daran, dass Politiker*innen und Verbände das Rad und das Spiel rund um Sport-Großereignisse noch einmal zurückdrehen könnten. Denn viele von ihnen würden sich im Glanze der Athlet*innen so sehr sonnen, als ob sie selbst die Leistung erbracht hätten.
"Das System hat sich etabliert durch Finanzierung und Gegenfinanzierung, hohe Leistung, Werbung, Massenpresse, Fernsehen." Mittlerweile sei zu viel in dem Spiel drin, als das man sagen könnte, man entferne jetzt ein oder zwei Faktoren und dann habe man wieder alte Verhältnisse. "Nur wenn es viele Kranke und Tote geben wird, dann könnte es sein, dass es einen Umschlag gibt und der Sport seine Popularität verliert.