"Da wartet man nun auf den Tod." Mit diesem Satz beginnt er jede seiner Geschichten. Tag und Nacht wiederholt der Alte in seinem Bett den immergleichen Refrain. Der Kehrreim seiner Lebenserinnerungen gibt dem Roman seinen Rhythmus vor: "Da wartet man nun auf den Tod" lautet der wiederkehrende Auftakt zu einem Reigen aus Nihilismus und Galgenhumor. Fast bewegungslos liegen die Lungenkranken in ihren Zimmern mit unveränderlichem Blick über Deich und Meer auf den teilnahmslosen Himmel über der Nordseeinsel. Der Tod liegt nur ein Bett weit entfernt; lediglich eine Frage der Zeit, wann man selbst der Nächste ist – ein fast schon unwesentlicher Punkt in einer Zeit, die im gleichförmigen Ablauf des Sanatoriums in sich selbst zu kreisen scheint. Für den jungen Bettnachbarn des Alten liegt dieser Ort bereits "auf der anderen Seite der Welt." Er ist der stille Zuhörer und zentrale Beobachter des Romans mit dem Titel "Auf der anderen Seite der Welt", dem vierten Teil der Tetralogie der Erinnerung von Dieter Forte.
Und das Paradies?, fragte er. Das Paradies gibt es, antwortete der Alte und sah aus dem Fenster in den immer blauer werdenden Himmel. Auf dieser Insel frei atmend zu gehen, wohin man will, die Erde und die Menschen zu sehen und zu hören. ( ... ) Das goldene Paradies aber, das öffnet sich in dem Moment, da du ( ... ) in die Hafenstadt fährst und dich in das Café setzt, das es da gibt. Blick auf den Hafen, das Meer und die kleine Promenade davor, die unwichtigen Gespräche der Menschen ( ... ) es ist das Schönste, was es auf Erden gibt, selbst Gott wird neidisch auf dich sein. ( ... ) Natürlich ist das nur ein Paradies für die, die aus dem Nichts kommen, die wissen, dass sie im Nichts leben, vor diesem Hintergrund ist es schön. Für alle anderen ist es nur ein ödes Provinzcafé ( ... ). Das ist vertrackt. Aber je länger man hier liegt, desto klarer wird die Sache.
Wer das nicht begreift, versucht auch im Sanatorium noch, seine Rolle aus der alten Welt weiterzuspielen. Da ist zum Beispiel der Kaufmann, der noch auf der Bettkante im goldfarbenen seidenen Schlafanzug mit Börsenzahlen jongliert. Mit dem Satz "In meinem Reich geht die Sonne nicht unter", brüstet er sich seiner weltweiten Geschäfte, um im nächsten Moment, die Beine steif weggestreckt, mit dem Notizbuch in der Hand hintenüber auf sein Bett zu fallen. Vom Sanatorium aus stellt sich auch das Wirtschaftswunder "auf der anderen Seite der Welt" als absurdes Bühnenstück dar. Letzten Endes warten alle nur auf den Tod. Wer das, wie der namenlose junge Mann, einmal verstanden hatte, kehrt nie mehr ganz von der Todesinsel zurück.
Er lag in der Dämmerung, sah im Spiegel die Wolken und im Fenster das Meer, bewegte sich nicht ( ... ), die Zeit atmete aus, eine bewusstlose Stille, die anhielt. Er spürte in diesem unbewegten Augenblick zwischen Tag und Nacht, der ihn an die Grenze des Lebens führte, dass das Sein und das Nichts eins sein konnten, und er verlor in einem atemlosen Moment seine Angst, weil ihm die Sinnlosigkeit des Lebens zum Sinn wurde. Er atmete tief ein. An diesem Ort des Nichts, an dem der Tod der Maßstab der Tage und Nächte war, verlor das Leben jede Bedeutung, die Flucht in die täuschende Illusion jeden Sinn. ( ... ) Dieser Ort war der Tod, seine Bedingungen waren gnadenlos und ohne Erbarmen. Wer ( ... ) es schaffte ( ... ), diese Insel wieder zu verlassen, der hatte auf ewig die Maßstäbe des Nichts, des Sinnlosen und der Bedeutungslosigkeit in sich ( ... ). Dieser Ort würde ihn für immer von den Menschen entfernen, das spürte er.
Um zu überleben, beginnt er zum Schluss im Sanatorium, auf der Rückseite der Fieberkurve die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Es ist der Anfang einer langen Erzählung, deren Ursprung weit vor der eigenen Erinnerung liegt. Der Weg ins Leben, hatte ihm schon der Alte prophezeit, führte über die Toten. Denn ihre Vergangenheit gibt das Muster vor, aus dem unsere Gegenwart und Zukunft gewebt ist. "Das Muster" heißt der erste Roman von Dieter Fortes Tetralogie der Erinnerung: eine Genealogie der Familien Fontana und Lukacz. Friedrich, der Vater des Jungen, entstammt der uralten Seidenweberfamilie Fontana. Ihre Wurzeln liegen im italienischen Lucca, wo sie seit dem 12. Jahrhundert eine eigene Werkstatt betreiben. Grundlage der Familienerinnerung ist das Musterbuch der aufgeklärten, kultivierten Seidenweberfamilie, in dem die Fontanas über Jahrhunderte von Flucht und Vertreibung hinweg ihre Webmuster gerettet haben. Es ist später noch lange in großväterlichem Besitz. Die unabhängigen Kaufleute ziehen erst nach Florenz, später nach Lyon. Dort als Hugenotten verfolgt, flüchten sie über Basel nach Iserlohn. Schließlich lässt sich ein Teil der Familie in Düsseldorf nieder. Spross dieses Zweigs ist der Freigeist und skurrile Privatgelehrte Gustav Fontana, der Großvater des Jungen. Die Mutter des Jungen, Maria, stammt aus einer polnischen Arbeiterfamilie. Einer ihrer Vorfahren erinnert sich an die immer mit den gleichen Namen benannten Generationen:
Maria und Joseph, Maria und Joseph, im Rhythmus der Schienenstöße, die dem fahrenden Zug ihr unerbittliches Hämmern mitgaben, Maria und Joseph, das war die einzig sichere Erinnerung, in Jahrhunderten wäre keiner auf die Idee gekommen, einen anderen Namen zu wählen. Maria und Joseph, Geburt und Tod, Wasser und Land, endlose Sümpfe, Fischer auf den breiten Flüssen, Bauern auf dem knappen Land. ( ... ) Siedler aus Böhmen, Hopfenhändler, Tabakpflanzer, mit ihren Priestern in der Familie. Kleine Bauern im Oderbruch, kleine Bauern im Obrabruch, Regierungsbezirk Posen, Kreis Bomst, Deutsche oder Polen, sie wussten es nie. ( ... ) Sein Vater war in den Berg gegangen, nach Dabrowa ( ... ). Joseph Lukacz, Hauer auf Königshütte, stand im letzten Abteil des Zuges ( ... ). ( ... ) Er schaute aus dem Zugfenster und buchstabierte den Namen der Stadt Gelsenkirchen.
In einer Gelsenkirchener Bergarbeitersiedlung wächst auch die Mutter des Jungen auf. Ihr Vater fällt im Ersten Weltkrieg. Nach dem Tod der Mutter zieht Maria zur Tante nach Düsseldorf. Dort lernt sie Friedrich Fontana kennen. Sie heiraten. Gemeinsam bilden sie ein neues Muster. Das Muster bleibt eins der zentralen Motive der gesamten Tetralogie Dieter Fortes. In den Fontanas und Lukacz kreuzen sich zwei gegensätzliche Welten: Westen trifft Osten, Licht auf Dunkel; während die Fontanas an die Macht der Vernunft und der Aufklärung glauben, beten Lukacz zur heiligen Muttergottes von Tschenstochau; ist die Philosophie der Fontanas geprägt von Widerstand, üben sich Lukacz im Erdulden; genießt der lebenslustige Friedrich den Tag und schmiedet fantastische Zukunftspläne, lebt Maria in den Geschichten der Vergangenheit und fühlt sich ihren Toten verpflichtet. Die Lebenslinien der Familien werden im Text im Wechsel kleiner Episoden erzählt und damit buchstäblich zu einem neuen schwarz-weißen Muster verwebt. Das neue Gewebe erweist sich als ein überzeitliches Muster der in ihrer ewig wiederholten Wiederholung immer gleichen Weltgeschichte. Die individuellen Familienmitglieder nehmen darin die Rollen mythischer Figuren ein.
Die Kinder von Maria und Friedrich werden im Nazi-Deutschland geboren. Davon erzählt der Roman "Tagundnachtgleiche", der zweite Teil der Tetralogie Dieter Fortes. Im bald hereinbrechenden Krieg begreift der Junge schnell seine einzige Überlebenschance darin, sich als Teil dieses Musters zu verstehen. Mit seiner Mutter auf der Flucht vor den Bomben fallen ihm ...
( ... ) die alten Geschichten ein, die ihm erzählt worden waren, die vielen Geschichten, die er gehört hatte, die Geschichten des Ausharrens in Polen, die Fluchten aus Lucca und Florenz und Lyon, und immer erneut Hab und Gut verloren, Leib und Leben riskiert, vor den Dragonern des Königs in die Wälder geflohen, über die Grenze geflohen, Webstühle und Stoffe wegwerfend, die erstochene Fiorentina, die das Musterbuch retten wollte, die Flucht während des Martinsfestes, das Ausharren zwischen den Deichen, das Ausharren im Berg, das langsame Weiterziehen auf einem Kahn, durch die Nacht treibend, den Tag stumm wie Erdhügel im Schilf verbringend. Die alten Namen und die vergangenen Geschichten wurden lebendig, und wenn er diesen Berg überlebte, würde er alle Geschichten noch einmal erzählen, alles noch einmal von Anfang an erzählen, und der schwarz vereiste Berg wäre nur noch eine dieser Geschichten.
Überleben ist nur im ständigen Erinnern und andauernden Erzählen möglich. Aber war das Erzählen lediglich die menschliche Interpretation des großen, unerkennbaren, hinter allem stehenden Musters, oder waren die Geschichten selber das Muster? Das fragt sich der Junge in der Mitte der "Tagundnachtgleiche". Sicher ist: Die einzige Gewissheit bleibt das ununterbrochene Erzählen über Tausende von Jahren, es ist wirklicher als die Wirklichkeit. Denn, so der Junge, das alles existierte nur, solange es erzählt wurde; was nicht mehr erzählt wurde, war vergessen, es existierte nicht. Während des Erzählens, erfährt er, war noch kein Tod und noch nicht alles vergeblich, solange es eine Stimme erzählte. Dabei es ist vor allen Dingen die Stimme der Mutter, die ihn durch diesen langen tödlichen Krieg trägt. Ihre Geschichten aus der Vergangenheit sind der Grundstock seiner eigenen erlebten Gegenwart. Erlebnisse, die irgendein ihm naher und zugleich fremder Erzähler, seltsam vertraut, aber aus großer Distanz, gleichsam über ihm schwebend erzählt. Ein eigenartiger doppelter, gleichzeitig innerer und äußerer Monolog von dem stillen Beobachter einer Geschichte, die ihm selbst widerfährt. Geschichten wie diesen: Mitten in der Nacht hört er die Sirenen, sieht sich den Koffer greifen, seinen kleinen Bruder an der Hand hinter der Mutter die Treppe hinunter laufen, hinein in den Luftschutzkeller.
Die Kellerdecke bebte, schwang durch, das Notlicht erlosch, der Lärm war infernalisch, Maria sprang auf, zog ihre Kinder in einem Ruck mit sich, nahm die Hacke, die immer griffbereit neben dem roten Quadrat im Keller stand, schlug mit ihrer ganzen Kraft, mit der explodierenden Wucht ihres Lebenswillens ein Loch in die Mauer, schlug wie besessen zu, öffnete in drei, vier Schlägen den Fluchtweg in dem Moment, als die Mauer hinter ihr, vor der sie und die Kinder immer gesessen hatten, zusammenbrach ( ... ). Sie kroch auf allen vieren in das Mauerloch, ( ... ) sie schleifte sie mit wie eine Wölfin ihre Jungen ( ... ) über Mörtel und gebrochene Steine, fast gemeinsam fielen sie in den Keller des nächsten Hauses, stolperten über Körper, die am Boden lagen, ( ... ) hasteten weiter, der nächste Keller, der nächste Durchbruch, der Junge und sein Bruder ( ... ) in ihren Körper verbissen, der ( ... ) durch eine Feuerwand sprang und dann liegen blieb, die Lungen voller Rauch, der Körper angesengt, die Kleider verbrannt, mit hervorquellenden Augen, die weiß und blutig waren. ( ... ) Sie lagen lange auf der Straße ( ... ), versehen mit dem Schrecken derer, die schon einmal fast tot waren, mit einem Kainszeichen, das sie nie mehr verlieren sollten, das ihnen bleiben sollte ein Leben lang.
Die alliierten Luftangriffe verwandeln die Stadt in ein Inferno. Der Junge findet Worte dafür, obwohl es eigentlich keine Worte dafür gibt. Irgendwann werden sie aus dem zerbombten Düsseldorf evakuiert. Mit seiner Mutter und dem Bruder retten sie sich in überfüllten Zügen quer durchs Bombardement in süddeutsche Provinzstädte. Die vom Krieg verschonte Landbevölkerung will von den "Bombenweibern" nichts wissen, kann sich die Zerstörung nicht vorstellen, glaubt bis zum Schluss an den Endsieg. Sein kleiner Bruder erkrankt und wird wenige Tage später in einem kleinen weißen Sarg am Rand eines Dorffriedhofs im Nirgendwo begraben. Der asthmakranke Junge überlebt. Die Front rückt näher. Irgendwann fahren amerikanische Panzer ins Dorf. Man setzt sie in ungeheizte, überfüllte Züge mit unbekanntem Ziel, die auf freiem Feld halten. Ihre Odyssee endet am Heiligabend 1945 in den Trümmern von Düsseldorf-Oberbilk. Wie durch ein Wunder überleben sie alle.
Der Krieg ist aus. Der Krieg geht weiter. In der vollständig zerbombten Stadt kämpft die Familie täglich ums Überleben – Tag und Nacht auf der Suche nach Essen, Trinken und den lebenswichtigen Medikamenten für den schwer lungenkranken Jungen. Der ist so schwach, dass er nur noch liegen kann. Aus einem Mauerloch ihrer Wohnruine blickt er in die zerstörte Welt. "In der Erinnerung", so heißt der dritte Teil von Dieter Fortes Tetralogie, in der Erinnerung erscheint ihm die Stunde Null wie ein archaischer Raum vor jeder Zeit ...
In der Erinnerung war das Fenster viel größer, so groß wie die Welt, die er durch das Fenster sah, in den vielen Tagen und Nächten, die in der Erinnerung zu einem Bild wurden, zu einer unbewegten, atemlosen Zeit, lautlose Nächte und stumme Tage, die vergingen, wie sie erschaffen wurden, ( ... ) versteinerte Überreste einer versunkenen Welt unter weiß leuchtenden Sternbildern, stumpfe Mauern, zerstörte Häuser, verschüttete Straßen, verglühte Kirchenschiffe, die Silhouette einer untergegangenen Stadt ( ... ). Staubwolken erhoben sich aus dem Geröll, zogen über die versteinerte Wüste, in der es keine Bäume und keine Gärten, keine Seen und keine Parkanlagen mehr gab, sodass man kein Blätterrauschen hörte, kein Plätschern der Wellen, kein Rascheln in den Sträuchern und im Gras, nur ein monotones an- und abschwellendes Sausen, verbunden mit dem dumpfen Poltern abstürzender Mauerteile, ( ... ) dem Flattern einer Gardine in einem leeren Fenster.
Es gab nichts mehr. Es gab alles. Vor allem gegen amerikanische Zigaretten: auf dem Schwarzmarkt, in dunklen Kellerlöchern mit riesigen Warenlagern tief unter den Trümmern oder bei den marodierenden Banden der Kinder. Im Krieg auf einen Schlag erwachsen gewordene gesetzlose Jugendliche, die früh gelernt hatten, in den zerstörten Städten zu überleben. Was es hier nicht gab, musste man hamstern. Maria war im Besitz der Pässe dreier Besatzungszonen. Damit konnte sie weit ins Land hinein über die Dörfer, um dort für ein paar Lebensmittel auf den Höfen zu arbeiten. Opa Gustav versuchte bei den Bauern, immer denselben Pferdestriegel gegen Essbares einzutauschen; meist mit Erfolg. Friedrich setzt alles daran, ihre Wohnhöhle vor Wind und Regen zu schützen. In dieser heillosen Situation entwickelt der Junge sein eigenes Überlebensmuster. Die erzwungene Wahrnehmungssituation wird für ihn zum rettenden Lebens- und Gestaltungsprinzip. Durch gespiegeltes Fensterglas, über zerbrochene Spiegelsplitter sieht er die reflektierten Bilder der zerstörten Außenwelt. Fragmente von Innen und Außen, Nahes und Fernes, Gedanken und Realität, Erinnertes und Gegenwärtiges fügen sich so zu einem neuen Bild zusammen. Ein Bild aus unzähligen Bruchstücken, das einer unbekannten Harmonie zu gehorchen scheint.
Das Morgenlicht erwachte in einem zersplitterten Spiegel, der auf der Straße lag, warf seinen hellen Schein auf einen verschütteten Hauseingang direkt gegenüber seinem Mauerloch ( ... ). Die Sonne schien in den Spiegel, blendete ihn mit ihrem Feuer, erinnerte ihn an die Brandnacht in der Stadt, in der ein Mann das Feuer durch die Straßen trug, in einem Spiegel, den er retten wollte; während die Spiegelsplitter auf der Straße jetzt die offenen, schräg herabhängenden Wohnungen durch die heraufziehenden Wolken segeln ließen, ein harmonisches Bild in der kunstvollen Ordnung der Splitter, für ihn das natürliche Bild seiner Welt.
In diesem indirekten Blick entdeckt er das erlösende Muster seiner Wahrnehmung der zerstörten Welt. Ein Muster, das ihm das Überleben sichert; auch später im Lungensanatorium "auf der anderen Seite der Welt" – wo er auf der Rückseite der Fieberkurve zu schreiben beginnt.
Dieter Forte macht daraus sein Erzählprinzip. Der Autor bezieht sich dabei direkt auf die Ästhetik des Malers Cézanne, der Nähe und Ferne auf der Leinwand eins werden lässt mit seinen Bildern aus Farbflecken, in denen jede Stelle von allen weiß. Im poetologischen Text "Weggehen, um anzukommen" schreibt Forte: Wie Cézanne die Perspektive aufhob, hebe der Erzähler die Zeit auf und verbinde dadurch Vergangenheit und Gegenwart zu einem Bild, das die Konstanten des Lebens aufzeigt, er stelle dem Tod und dem flüchtigen Augenblick des Vergessens das ewig gültige Bild des Lebens entgegen. Das Leben des Menschen sei unveränderbar und ewig gleich und immer nur eine Wiederholung des Lebens derer, die vor ihm waren, so Forte. In seiner Tetralogie versucht er, genau das umzusetzen. Sie ist ein groß angelegtes Epos auf Basis einer authentischen Lebensgeschichte. Die Hauptfigur bleibt dabei als indirekter Beobachter eher im Hintergrund. Eigentliche Heldin der Geschichte ist Mutter Maria, die mit ihrem unbändigen Lebenswillen und unendlicher Leidensfähigkeit ihren kranken Sohn durch den Krieg bringt. Fortes Tetralogie ist eine atemberaubende Sinfonie über Leben und Tod – als offene fragmentarische Komposition aus vielen kleinen tragischen, grotesken, skurrilen und humorvollen Geschichten über Menschen und getragenen, elegischen Passagen über Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Werden und Vergehen. Beispiellos sind die Worte, die Dieter Forte für die selbst erlebten Bombardierungen findet. Sprachbilder, die keiner, der sie gelesen hat, vergessen wird.
Dieter Forte: "Tetralogie der Erinnerung". Taschenbuchausgabe. Vier Bände in Kassette. Fischer Taschenbuchverlage 2010. 1008 Seiten, 39,95 EUR.
Und das Paradies?, fragte er. Das Paradies gibt es, antwortete der Alte und sah aus dem Fenster in den immer blauer werdenden Himmel. Auf dieser Insel frei atmend zu gehen, wohin man will, die Erde und die Menschen zu sehen und zu hören. ( ... ) Das goldene Paradies aber, das öffnet sich in dem Moment, da du ( ... ) in die Hafenstadt fährst und dich in das Café setzt, das es da gibt. Blick auf den Hafen, das Meer und die kleine Promenade davor, die unwichtigen Gespräche der Menschen ( ... ) es ist das Schönste, was es auf Erden gibt, selbst Gott wird neidisch auf dich sein. ( ... ) Natürlich ist das nur ein Paradies für die, die aus dem Nichts kommen, die wissen, dass sie im Nichts leben, vor diesem Hintergrund ist es schön. Für alle anderen ist es nur ein ödes Provinzcafé ( ... ). Das ist vertrackt. Aber je länger man hier liegt, desto klarer wird die Sache.
Wer das nicht begreift, versucht auch im Sanatorium noch, seine Rolle aus der alten Welt weiterzuspielen. Da ist zum Beispiel der Kaufmann, der noch auf der Bettkante im goldfarbenen seidenen Schlafanzug mit Börsenzahlen jongliert. Mit dem Satz "In meinem Reich geht die Sonne nicht unter", brüstet er sich seiner weltweiten Geschäfte, um im nächsten Moment, die Beine steif weggestreckt, mit dem Notizbuch in der Hand hintenüber auf sein Bett zu fallen. Vom Sanatorium aus stellt sich auch das Wirtschaftswunder "auf der anderen Seite der Welt" als absurdes Bühnenstück dar. Letzten Endes warten alle nur auf den Tod. Wer das, wie der namenlose junge Mann, einmal verstanden hatte, kehrt nie mehr ganz von der Todesinsel zurück.
Er lag in der Dämmerung, sah im Spiegel die Wolken und im Fenster das Meer, bewegte sich nicht ( ... ), die Zeit atmete aus, eine bewusstlose Stille, die anhielt. Er spürte in diesem unbewegten Augenblick zwischen Tag und Nacht, der ihn an die Grenze des Lebens führte, dass das Sein und das Nichts eins sein konnten, und er verlor in einem atemlosen Moment seine Angst, weil ihm die Sinnlosigkeit des Lebens zum Sinn wurde. Er atmete tief ein. An diesem Ort des Nichts, an dem der Tod der Maßstab der Tage und Nächte war, verlor das Leben jede Bedeutung, die Flucht in die täuschende Illusion jeden Sinn. ( ... ) Dieser Ort war der Tod, seine Bedingungen waren gnadenlos und ohne Erbarmen. Wer ( ... ) es schaffte ( ... ), diese Insel wieder zu verlassen, der hatte auf ewig die Maßstäbe des Nichts, des Sinnlosen und der Bedeutungslosigkeit in sich ( ... ). Dieser Ort würde ihn für immer von den Menschen entfernen, das spürte er.
Um zu überleben, beginnt er zum Schluss im Sanatorium, auf der Rückseite der Fieberkurve die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Es ist der Anfang einer langen Erzählung, deren Ursprung weit vor der eigenen Erinnerung liegt. Der Weg ins Leben, hatte ihm schon der Alte prophezeit, führte über die Toten. Denn ihre Vergangenheit gibt das Muster vor, aus dem unsere Gegenwart und Zukunft gewebt ist. "Das Muster" heißt der erste Roman von Dieter Fortes Tetralogie der Erinnerung: eine Genealogie der Familien Fontana und Lukacz. Friedrich, der Vater des Jungen, entstammt der uralten Seidenweberfamilie Fontana. Ihre Wurzeln liegen im italienischen Lucca, wo sie seit dem 12. Jahrhundert eine eigene Werkstatt betreiben. Grundlage der Familienerinnerung ist das Musterbuch der aufgeklärten, kultivierten Seidenweberfamilie, in dem die Fontanas über Jahrhunderte von Flucht und Vertreibung hinweg ihre Webmuster gerettet haben. Es ist später noch lange in großväterlichem Besitz. Die unabhängigen Kaufleute ziehen erst nach Florenz, später nach Lyon. Dort als Hugenotten verfolgt, flüchten sie über Basel nach Iserlohn. Schließlich lässt sich ein Teil der Familie in Düsseldorf nieder. Spross dieses Zweigs ist der Freigeist und skurrile Privatgelehrte Gustav Fontana, der Großvater des Jungen. Die Mutter des Jungen, Maria, stammt aus einer polnischen Arbeiterfamilie. Einer ihrer Vorfahren erinnert sich an die immer mit den gleichen Namen benannten Generationen:
Maria und Joseph, Maria und Joseph, im Rhythmus der Schienenstöße, die dem fahrenden Zug ihr unerbittliches Hämmern mitgaben, Maria und Joseph, das war die einzig sichere Erinnerung, in Jahrhunderten wäre keiner auf die Idee gekommen, einen anderen Namen zu wählen. Maria und Joseph, Geburt und Tod, Wasser und Land, endlose Sümpfe, Fischer auf den breiten Flüssen, Bauern auf dem knappen Land. ( ... ) Siedler aus Böhmen, Hopfenhändler, Tabakpflanzer, mit ihren Priestern in der Familie. Kleine Bauern im Oderbruch, kleine Bauern im Obrabruch, Regierungsbezirk Posen, Kreis Bomst, Deutsche oder Polen, sie wussten es nie. ( ... ) Sein Vater war in den Berg gegangen, nach Dabrowa ( ... ). Joseph Lukacz, Hauer auf Königshütte, stand im letzten Abteil des Zuges ( ... ). ( ... ) Er schaute aus dem Zugfenster und buchstabierte den Namen der Stadt Gelsenkirchen.
In einer Gelsenkirchener Bergarbeitersiedlung wächst auch die Mutter des Jungen auf. Ihr Vater fällt im Ersten Weltkrieg. Nach dem Tod der Mutter zieht Maria zur Tante nach Düsseldorf. Dort lernt sie Friedrich Fontana kennen. Sie heiraten. Gemeinsam bilden sie ein neues Muster. Das Muster bleibt eins der zentralen Motive der gesamten Tetralogie Dieter Fortes. In den Fontanas und Lukacz kreuzen sich zwei gegensätzliche Welten: Westen trifft Osten, Licht auf Dunkel; während die Fontanas an die Macht der Vernunft und der Aufklärung glauben, beten Lukacz zur heiligen Muttergottes von Tschenstochau; ist die Philosophie der Fontanas geprägt von Widerstand, üben sich Lukacz im Erdulden; genießt der lebenslustige Friedrich den Tag und schmiedet fantastische Zukunftspläne, lebt Maria in den Geschichten der Vergangenheit und fühlt sich ihren Toten verpflichtet. Die Lebenslinien der Familien werden im Text im Wechsel kleiner Episoden erzählt und damit buchstäblich zu einem neuen schwarz-weißen Muster verwebt. Das neue Gewebe erweist sich als ein überzeitliches Muster der in ihrer ewig wiederholten Wiederholung immer gleichen Weltgeschichte. Die individuellen Familienmitglieder nehmen darin die Rollen mythischer Figuren ein.
Die Kinder von Maria und Friedrich werden im Nazi-Deutschland geboren. Davon erzählt der Roman "Tagundnachtgleiche", der zweite Teil der Tetralogie Dieter Fortes. Im bald hereinbrechenden Krieg begreift der Junge schnell seine einzige Überlebenschance darin, sich als Teil dieses Musters zu verstehen. Mit seiner Mutter auf der Flucht vor den Bomben fallen ihm ...
( ... ) die alten Geschichten ein, die ihm erzählt worden waren, die vielen Geschichten, die er gehört hatte, die Geschichten des Ausharrens in Polen, die Fluchten aus Lucca und Florenz und Lyon, und immer erneut Hab und Gut verloren, Leib und Leben riskiert, vor den Dragonern des Königs in die Wälder geflohen, über die Grenze geflohen, Webstühle und Stoffe wegwerfend, die erstochene Fiorentina, die das Musterbuch retten wollte, die Flucht während des Martinsfestes, das Ausharren zwischen den Deichen, das Ausharren im Berg, das langsame Weiterziehen auf einem Kahn, durch die Nacht treibend, den Tag stumm wie Erdhügel im Schilf verbringend. Die alten Namen und die vergangenen Geschichten wurden lebendig, und wenn er diesen Berg überlebte, würde er alle Geschichten noch einmal erzählen, alles noch einmal von Anfang an erzählen, und der schwarz vereiste Berg wäre nur noch eine dieser Geschichten.
Überleben ist nur im ständigen Erinnern und andauernden Erzählen möglich. Aber war das Erzählen lediglich die menschliche Interpretation des großen, unerkennbaren, hinter allem stehenden Musters, oder waren die Geschichten selber das Muster? Das fragt sich der Junge in der Mitte der "Tagundnachtgleiche". Sicher ist: Die einzige Gewissheit bleibt das ununterbrochene Erzählen über Tausende von Jahren, es ist wirklicher als die Wirklichkeit. Denn, so der Junge, das alles existierte nur, solange es erzählt wurde; was nicht mehr erzählt wurde, war vergessen, es existierte nicht. Während des Erzählens, erfährt er, war noch kein Tod und noch nicht alles vergeblich, solange es eine Stimme erzählte. Dabei es ist vor allen Dingen die Stimme der Mutter, die ihn durch diesen langen tödlichen Krieg trägt. Ihre Geschichten aus der Vergangenheit sind der Grundstock seiner eigenen erlebten Gegenwart. Erlebnisse, die irgendein ihm naher und zugleich fremder Erzähler, seltsam vertraut, aber aus großer Distanz, gleichsam über ihm schwebend erzählt. Ein eigenartiger doppelter, gleichzeitig innerer und äußerer Monolog von dem stillen Beobachter einer Geschichte, die ihm selbst widerfährt. Geschichten wie diesen: Mitten in der Nacht hört er die Sirenen, sieht sich den Koffer greifen, seinen kleinen Bruder an der Hand hinter der Mutter die Treppe hinunter laufen, hinein in den Luftschutzkeller.
Die Kellerdecke bebte, schwang durch, das Notlicht erlosch, der Lärm war infernalisch, Maria sprang auf, zog ihre Kinder in einem Ruck mit sich, nahm die Hacke, die immer griffbereit neben dem roten Quadrat im Keller stand, schlug mit ihrer ganzen Kraft, mit der explodierenden Wucht ihres Lebenswillens ein Loch in die Mauer, schlug wie besessen zu, öffnete in drei, vier Schlägen den Fluchtweg in dem Moment, als die Mauer hinter ihr, vor der sie und die Kinder immer gesessen hatten, zusammenbrach ( ... ). Sie kroch auf allen vieren in das Mauerloch, ( ... ) sie schleifte sie mit wie eine Wölfin ihre Jungen ( ... ) über Mörtel und gebrochene Steine, fast gemeinsam fielen sie in den Keller des nächsten Hauses, stolperten über Körper, die am Boden lagen, ( ... ) hasteten weiter, der nächste Keller, der nächste Durchbruch, der Junge und sein Bruder ( ... ) in ihren Körper verbissen, der ( ... ) durch eine Feuerwand sprang und dann liegen blieb, die Lungen voller Rauch, der Körper angesengt, die Kleider verbrannt, mit hervorquellenden Augen, die weiß und blutig waren. ( ... ) Sie lagen lange auf der Straße ( ... ), versehen mit dem Schrecken derer, die schon einmal fast tot waren, mit einem Kainszeichen, das sie nie mehr verlieren sollten, das ihnen bleiben sollte ein Leben lang.
Die alliierten Luftangriffe verwandeln die Stadt in ein Inferno. Der Junge findet Worte dafür, obwohl es eigentlich keine Worte dafür gibt. Irgendwann werden sie aus dem zerbombten Düsseldorf evakuiert. Mit seiner Mutter und dem Bruder retten sie sich in überfüllten Zügen quer durchs Bombardement in süddeutsche Provinzstädte. Die vom Krieg verschonte Landbevölkerung will von den "Bombenweibern" nichts wissen, kann sich die Zerstörung nicht vorstellen, glaubt bis zum Schluss an den Endsieg. Sein kleiner Bruder erkrankt und wird wenige Tage später in einem kleinen weißen Sarg am Rand eines Dorffriedhofs im Nirgendwo begraben. Der asthmakranke Junge überlebt. Die Front rückt näher. Irgendwann fahren amerikanische Panzer ins Dorf. Man setzt sie in ungeheizte, überfüllte Züge mit unbekanntem Ziel, die auf freiem Feld halten. Ihre Odyssee endet am Heiligabend 1945 in den Trümmern von Düsseldorf-Oberbilk. Wie durch ein Wunder überleben sie alle.
Der Krieg ist aus. Der Krieg geht weiter. In der vollständig zerbombten Stadt kämpft die Familie täglich ums Überleben – Tag und Nacht auf der Suche nach Essen, Trinken und den lebenswichtigen Medikamenten für den schwer lungenkranken Jungen. Der ist so schwach, dass er nur noch liegen kann. Aus einem Mauerloch ihrer Wohnruine blickt er in die zerstörte Welt. "In der Erinnerung", so heißt der dritte Teil von Dieter Fortes Tetralogie, in der Erinnerung erscheint ihm die Stunde Null wie ein archaischer Raum vor jeder Zeit ...
In der Erinnerung war das Fenster viel größer, so groß wie die Welt, die er durch das Fenster sah, in den vielen Tagen und Nächten, die in der Erinnerung zu einem Bild wurden, zu einer unbewegten, atemlosen Zeit, lautlose Nächte und stumme Tage, die vergingen, wie sie erschaffen wurden, ( ... ) versteinerte Überreste einer versunkenen Welt unter weiß leuchtenden Sternbildern, stumpfe Mauern, zerstörte Häuser, verschüttete Straßen, verglühte Kirchenschiffe, die Silhouette einer untergegangenen Stadt ( ... ). Staubwolken erhoben sich aus dem Geröll, zogen über die versteinerte Wüste, in der es keine Bäume und keine Gärten, keine Seen und keine Parkanlagen mehr gab, sodass man kein Blätterrauschen hörte, kein Plätschern der Wellen, kein Rascheln in den Sträuchern und im Gras, nur ein monotones an- und abschwellendes Sausen, verbunden mit dem dumpfen Poltern abstürzender Mauerteile, ( ... ) dem Flattern einer Gardine in einem leeren Fenster.
Es gab nichts mehr. Es gab alles. Vor allem gegen amerikanische Zigaretten: auf dem Schwarzmarkt, in dunklen Kellerlöchern mit riesigen Warenlagern tief unter den Trümmern oder bei den marodierenden Banden der Kinder. Im Krieg auf einen Schlag erwachsen gewordene gesetzlose Jugendliche, die früh gelernt hatten, in den zerstörten Städten zu überleben. Was es hier nicht gab, musste man hamstern. Maria war im Besitz der Pässe dreier Besatzungszonen. Damit konnte sie weit ins Land hinein über die Dörfer, um dort für ein paar Lebensmittel auf den Höfen zu arbeiten. Opa Gustav versuchte bei den Bauern, immer denselben Pferdestriegel gegen Essbares einzutauschen; meist mit Erfolg. Friedrich setzt alles daran, ihre Wohnhöhle vor Wind und Regen zu schützen. In dieser heillosen Situation entwickelt der Junge sein eigenes Überlebensmuster. Die erzwungene Wahrnehmungssituation wird für ihn zum rettenden Lebens- und Gestaltungsprinzip. Durch gespiegeltes Fensterglas, über zerbrochene Spiegelsplitter sieht er die reflektierten Bilder der zerstörten Außenwelt. Fragmente von Innen und Außen, Nahes und Fernes, Gedanken und Realität, Erinnertes und Gegenwärtiges fügen sich so zu einem neuen Bild zusammen. Ein Bild aus unzähligen Bruchstücken, das einer unbekannten Harmonie zu gehorchen scheint.
Das Morgenlicht erwachte in einem zersplitterten Spiegel, der auf der Straße lag, warf seinen hellen Schein auf einen verschütteten Hauseingang direkt gegenüber seinem Mauerloch ( ... ). Die Sonne schien in den Spiegel, blendete ihn mit ihrem Feuer, erinnerte ihn an die Brandnacht in der Stadt, in der ein Mann das Feuer durch die Straßen trug, in einem Spiegel, den er retten wollte; während die Spiegelsplitter auf der Straße jetzt die offenen, schräg herabhängenden Wohnungen durch die heraufziehenden Wolken segeln ließen, ein harmonisches Bild in der kunstvollen Ordnung der Splitter, für ihn das natürliche Bild seiner Welt.
In diesem indirekten Blick entdeckt er das erlösende Muster seiner Wahrnehmung der zerstörten Welt. Ein Muster, das ihm das Überleben sichert; auch später im Lungensanatorium "auf der anderen Seite der Welt" – wo er auf der Rückseite der Fieberkurve zu schreiben beginnt.
Dieter Forte macht daraus sein Erzählprinzip. Der Autor bezieht sich dabei direkt auf die Ästhetik des Malers Cézanne, der Nähe und Ferne auf der Leinwand eins werden lässt mit seinen Bildern aus Farbflecken, in denen jede Stelle von allen weiß. Im poetologischen Text "Weggehen, um anzukommen" schreibt Forte: Wie Cézanne die Perspektive aufhob, hebe der Erzähler die Zeit auf und verbinde dadurch Vergangenheit und Gegenwart zu einem Bild, das die Konstanten des Lebens aufzeigt, er stelle dem Tod und dem flüchtigen Augenblick des Vergessens das ewig gültige Bild des Lebens entgegen. Das Leben des Menschen sei unveränderbar und ewig gleich und immer nur eine Wiederholung des Lebens derer, die vor ihm waren, so Forte. In seiner Tetralogie versucht er, genau das umzusetzen. Sie ist ein groß angelegtes Epos auf Basis einer authentischen Lebensgeschichte. Die Hauptfigur bleibt dabei als indirekter Beobachter eher im Hintergrund. Eigentliche Heldin der Geschichte ist Mutter Maria, die mit ihrem unbändigen Lebenswillen und unendlicher Leidensfähigkeit ihren kranken Sohn durch den Krieg bringt. Fortes Tetralogie ist eine atemberaubende Sinfonie über Leben und Tod – als offene fragmentarische Komposition aus vielen kleinen tragischen, grotesken, skurrilen und humorvollen Geschichten über Menschen und getragenen, elegischen Passagen über Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Werden und Vergehen. Beispiellos sind die Worte, die Dieter Forte für die selbst erlebten Bombardierungen findet. Sprachbilder, die keiner, der sie gelesen hat, vergessen wird.
Dieter Forte: "Tetralogie der Erinnerung". Taschenbuchausgabe. Vier Bände in Kassette. Fischer Taschenbuchverlage 2010. 1008 Seiten, 39,95 EUR.