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Sprache im technischen Zeitalter, Bd. 151

Manchmal blitzt sie leben doch noch auf, die längst verloren geglaubte Fähigkeit der Literatur zur Prophetie und zur Ahtizipation der Geschichte. Im September 1989 zum Beispiel, als sich die westliche Weit schon im sogenannten Posthistoire einzurichten begann, in Stillstand und Ereignislosigkeit , da erschien ein Heft der Litergturzeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" mit dem Titel: "Die Kommenden? Deutschsprachige Literatur der Mauerrisse". Keine drei Monate später war das Berliner Bauwerk perforiert, die deutsche Geschichte war wieder offen. Gewiß: Das Stichwort von den "Mauerrissen" war damals rein metaphorisch zu verstehen, zielte es doch auf die "Risse in den Sprachmauem", auf die informell sich organisierenden Sprachrebellen in Ost und West, die sich der - wie Uwe Kolbe es nannte - "Kollektivlüge der herrschenden Sprache" widersetzten. "Literatur der Mauerrisse" - das meinte den literarischen Aufbruch der damals Dreißigjährigen, eine neue Sprachbewegung junger Schriftsteller, die die zementierten Ost-Welt-Verhältnisse zum Tanzen bringen sollte.

Michael Braun |
    Von all diesen ästhetischen Verheißungen ist zehn Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr viel übrig geblieben. Als sich nun die Redaktion von "Sprache im technischen Zeitalter" entschloss, Bilanz zu ziehen und Schriftsteller und Kritiker aus Ost und West nach ihren Erfahrungen mit dem wiedervereinigten Deutschlanßt zu fragen, wurde sie mit formal sehr unterschiedlichen Texten überrascht: mit kleinen Erzählungen, melancholischen Reportagen, bitteren Legenden und Erlebnischroniken und nicht zuletzt drastischen Entfremdungs-Exempeln aus zwei deutschen Kulturen, die an vielem interessiert sind, nur nicht am Zusammenwachsen.

    Sechzehn "Geschichten aus Deutschland" sind nun im aktuellen Heft, der Nummer 151 von "Sprache im technischen Zeitalter" versammelt - und alle nur denkbaren Toniagen und Schreibweisen werden durchgespielt. Der Österreicher Walter Klier zeigt zum Beispiel in seinen ernüchternden "kleinen Geschichten", dass Schriftsteller eben doch nichts Prophetisches haben, sonder eher dazu disponiert sind, epochale historische Augenblicke zu verpassen. In den Tagen des Mauerfalls widmete sich Klier lieber einer "riesigen Schweinhaxe" und ausgedehnten Zechtouren mit Kollegen, als auf den Fortgang deutscher Geschichte zu warten. Viel näher unter die Ereignisse gemischt sind ostdeutsche Autoren wie Katja Lange-Müller und Reinhard Jirgl. Sie erzählen von der langen Geschichte der Enttäuschungen, die das wiedervereinigte Deutschland vor allem seinen östlichen Bewohnern bescherte - und von den neuen deutschen Erfolgsmenschen, den - wie Jirgl formuliert - "fitgestylten höhengesonnten Bestien für das 21. Jahrhundert".

    Solch traditionelle Deutschland-Kritik, die sich bei Jirgl zur wortgewaltigen Verfluchung steigert, findet ihre reizvolle Gegenfigur in den melancholischen Reportagen und Reisebildern von Helmut Böttiger und Katrin Hillgruber. Die Erinnerung an die untergegangene DDR hat sich hier einige auratische Bilder bewahrt, Reminiszenzen an eigentümlich zeitlose Landschaften, die der gesamtdeutschen Modernisierung zum Opfer gefallen sind.

    Die ertragreichsten Deutschland-Erkundungen in diesem Heft stammen indes von Marcel Beyer und Kathrin Röggla. Es sind genuin literarische Texte, präzise erzählerische Momentaufnahmen aus Dresden und Brandenburg. Hier wird nichts verallgemeinert oder thesenhaft proklamiert, sondern alles aus genauen Beobachtungen gewonnen. Hier kann das literarische Gespräch über Deutschland zehn Jahre nach dem Mauerfall ansetzen - diese detailgesättigten punktuellen Perspektiven sind allemal aufschlussreicher als nervtötende Debatten über den sogenannten Wende-Roman.