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Sprache
Konjunktive erfordern einen Fachmann

Sprachkritiker beschwören immer wieder den bevorstehenden Untergang der deutschen Sprache herauf. Dabei ist sie beharrlicher, anpassungsfähiger und zugleich vielfältiger, als viele glauben. "Reichtum und Armut der deutschen Sprache" sind jetzt in einem Bericht der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften untersucht worden.

Von Arno Orzessek |
    Folgt man den Kassandrarufen defätistischer Kulturkritik, wird die deutsche Sprache immer ärmer.
    Folgt man dem Psycholinguisten Wolfgang Klein, ist das Gegenteil der Fall.
    "Der Wortschatz wird immer reicher und differenzierter und vielleicht auch komplexer und manchmal schwierig zu handhaben, aber er wird immer reicher. Hingegen die Grammatik wird in der Tendenz einfacher. Sie wird sozusagen verschlankt."
    Wobei, das betonte Heinrich Detering, der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die Sprachforscher nicht dem Volk aufs Maul geschaut, sondern gewaltige Textkorpora - Belletristik, Zeitungstexte, Gebrauchstexte, wissenschaftliche Texte - untersucht haben. Und zwar jeweils um das Jahr 1900, 1950 und 2000 herum.
    "Was Sie erforscht haben und hier beschreiben, ist der Zustand der deutschen Sprache als eines Systems. (…) Es geht nicht um die Frage, wie viele Wörter tatsächlich gebraucht werden in der Alltagssprache, sondern wie viele zur Verfügung ständen."
    Was so ganz genau keiner weiß. Denn welche Wörter zählen überhaupt?
    Nur 9000 Basiswörter prägen die deutsche Sprache
    "Soll man jetzt sagen, dass Wort 'Verband' im Sinne eines Flottenverbandes und das Wort 'Verband' von Gipsverband - ist das ein Wort, oder sind das zwei Wörter? Das macht die Sache schon mal sehr schwierig."
    Fest steht: Es gibt Millionen deutscher Wörter, aber nur rund 9000 Basisworte wie "Kopf", "laufen", "gut", "böse". Zu den wenigen jüngeren Neulingen in dieser illustren Wort-Klasse gehören "rödeln" und "motzen" - was Detering zum Witzeln veranlasste.
    "Es ist erstaunlich, wie genau die Sprache unsere Lebenswirklichkeit reflektiert, wenn man bedenkt, dass eigentlich 'rödeln' und 'motzen' ziemlich genau beschreibt, was unseren Alltag so ausmacht."
    Auch die Jugendsprache bekam ein Extra-Lob für Ausdrucksstärke.
    "Meine Tochter hat vor einiger Zeit gesagt, das fand ich ganz wunderbar, dass sich zwei aus ihrer Klasse total abgeschachtelt haben. Früher hat man gesagt 'isoliert', mit einem Fremdwort. Aber das ist lange nicht so plakativ wie 'abgeschachtelt'."
    Erfreulich der Befund zu den Anglizismen. Sie haben sich zwar im 20. Jahrhundert - vom Pudding bis zum Mobbing - vervierzehnfacht. Aber, so der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg, können gerade die beliebten Anglizismen auf '-ing' der deutschen Sprache nichts anhaben.
    Anglizismen bringen das Deutsche nicht um
    "Die '-ing'-Substantive tun genau dasselbe, was die '-ung'-Substantive tun. Das heißt, wir haben ein fremdes Suffix, das von der Betonung her, von der Bedeutungsklassifizierung, von der Grammatik her sich weitgehend an das anpasst, was dieses Suffix im Deutschen vorfindet. Und es ist eben völlig egal, was es im Englischen tut."
    '-ing'-Wörter folgen also brav den '-ung'-Wörtern. Und sowieso dringt mit den 13.000 Anglizismen keineswegs das Englische ins Deutsche ein.
    "Die Mehrheit, der Anglizismen, die wir heute im Deutschen haben, stammt gar nicht aus dem Englischen. Die Mehrheit ist im Deutschen gebildet."
    Ein Befund, der Heinrich Detering spanisch vorkam:
    "Ist das ein zutreffendes Beschreibing der deutschen Sprache?"
    Ob so oder so: Eisenberg warnte vor Verdeutschungs-Sucht.
    "Bei uns in Lichterfelde-West im Bahnhof, da gibt es so ein übliches Café, da stand immer dran 'Coffee to go'. Irgendjemand hat ihm das mal deutlich gemacht, ich war es nicht, dass das nicht so gut ist. Jetzt steht da 'Kaffee zu gehen'."
    Das Dativ-e taumelt seinem Grabe entgegen
    Bei der Flexion ist indessen alles im Fluss. Bei den Kasus setzt sich laut Ludwig Eichinger, dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, die einfache Anzeige durch. Also: 'jeden Jahres' statt 'jedes Jahres'. Anderes ist in der Schwebe.
    "'Zweier schöner Bücher', 'zweier schönen Bücher', also beides findet man in irgendeiner Weise. Da versuchen wir uns allmählich auszumendeln."
    Gewiss jedoch taumelt das alte Dativ-e - 'dem Hunde', 'dem Manne', 'dem Tode' - seinem Grabe entgegen.
    "Heutzutage, wenn Sie 'Bade' lesen, dann können Sie mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ein Kind mit demselben ausgeschüttet wird."
    Konjunktive fordern derweil immer öfter den ganzen Fachmann.
    "Heißt es eigentlich 'stände' oder 'stünde'? Wenn ich hier stünde, statt säße, stände ich hier."
    Sei's drum - angesagt ist Sprachökonomie.
    Sprachökonomie gefällt nicht jedem
    "Das man nicht mehr doppelt negieren darf, wie ich als Bayer darf. 'Ich hab kein Geld nicht', was ein wahrer Satz ist."
    Der Essayist Hans-Martin Gauger liebt dagegen Wort-Verschwendung.
    "Da beißt keine Maus keinen Faden davon nicht ab."
    Und nun, liebe Hörer, müsste man zu den Streckverb-Gefügen kommen - "Entscheidung fällen" statt "entscheiden", "Zustimmung erteilen" statt "zustimmen" und so.
    Aber unsere Zeit ist um. Halten Sie sich bei unstillbarem Interesse bitte an Heinrich Deterings streckverbale Empfehlung des Werks "Reichtum und Armut der deutschen Sprache":
    "Das Buch nicht nur erwerben, sondern auch zur Aufschlagung gelangen lassen."