Barbara Schmidt-Mattern: Elisabeth Wehling, herzlich Willkommen im Deutschlandfunk, hier in Berlin-Mitte, in unserem Hauptstadtstudio.
Elisabeth Wehling: Hallo.
Schmidt-Mattern: Wir verzichten an diesem Wahlsonntag bewusst auf ein Interview mit Parteienvertretern. Wir nehmen aber dieses Superwahljahr 2017 zum Anlass, heute über Politik, über politische Kultur in Deutschland und Europa zu sprechen, und zwar aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Das tun wir mit Ihnen, Frau Wehling, als Expertin für politische Kommunikation. Sie sind Linguistin und Kognitionswissenschaftlerin und lehren und forschen an der Universität Berkeley in Kalifornien. Bleiben aber in Deutschland ein gerngesehener Gast und Interviewpartner, denn Sie haben sehr ausführliche Untersuchungen zum Wahlkampf von Donald Trump vorgelegt und als eine von wenigen Wissenschaftlerinnen auch den Sieg von Donald Trump bei der letzten US-Präsidentschaftswahl vorhergesagt. Wir können also mit Ihrer Analyse vielleicht in den kommenden 25 Minuten einiges auch über Wahlkampfstrategien in Deutschland lernen. Und dafür wäre meine Bitte am Anfang, dass Sie uns kurz einmal erklären – wir können ja später noch mehr ins Detail gehen –, wie Sie methodisch vorgehen. Wie nehmen Sie die Sprache von Politikern unter die Lupe?
Wehling: Aus drei Perspektiven. Also, in der Kognitionsforschung – das ist ja das Schöne daran – arbeiten wir über unterschiedliche Disziplinen hinweg. Und das bedeutet, wir können wirklich aus einem großen Fundus speisen. Wir machen Gehirnscans. Wir schauen also ganz konkret: Was passiert zum Beispiel im Gehirn eines eher konservativen Bürgers oder eines eher progressiven Bürgers, wenn er politische Sprache verarbeitet. Wir machen Verhaltensexperimente. Das heißt – das war so eines, damit hatte ich auch den Wahlsieg von Trump vorhergesagt –, da haben wir geschaut, wenn wir den Menschen bestimmte Botschaften geben aus dem Wahlkampf Donald Trump versus dem Wahlkampf Hillary Clinton, wie werden die da bewegt und aus welchen Gründen. Und das Dritte ist die Diskursanalyse. Da schaut man richtig auf jedes einzelne Wort in einem politischen Diskurs, da filtert man heraus, was ist da an versteckten Denkmustern. Das ist so ein bisschen wie Gedankenlesen auf Distanz.
Schmidt-Mattern: Gedankenlesen – und das tun Sie, glaube ich, mit der sogenannten "Frame-Theorie", das ist ein ganz wichtiges Schlüsselwort, Keyword im Rahmen Ihrer Untersuchungen. Ich erkläre mir das als eine Art Deutungsrahmen. Sie können es uns vielleicht nochmal besser erklären, was mit "Framing" überhaupt gemeint ist.
Denk- und Sprechmuster
Wehling: Ja, das ist schon wunderbar. Also, Frames, das kommt ja aus dem Englischen und Frame heißt dann auf Deutsch eben auch nichts anderes als ein Rahmen. Und sie bezeichnet eben genau diese Deutungsrahmen, die in unseren Köpfen verankert sind, die sich ganz, ganz stark aus alltäglichen Erfahrungen mit der Welt, mit Gerechtigkeitsempfinden, mit direkten Eindrücken speisen. Und die eben über Sprache, aber natürlich auch über Bildsprache im Kopf dann aktiviert werden und sofort und ganz oft, ohne dass wir es merken, uns in die eine oder andere Richtung denken lassen und dann eben politische Botschaften so richtig gut verdaubar machen oder eher holprig daherkommen lassen.
Schmidt-Mattern: Nun haben wir heute einen wichtigen Wahlsonntag in Deutschland. Es findet die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen statt, auch häufig umschrieben als "kleine Bundestagswahl". Wir haben gerade eine sehr wichtige, europaweit beachtete Präsidentschaftswahl in Frankreich hinter uns. Und Sie haben intensiv – ich habe es vorhin schon angesprochen – den Präsidentschaftswahlkampf in den USA mit begleitet. Gibt es bestimmte Faktoren, die Ihnen auffallen in Deutschland, die den Wahlkampf hier speziell machen?
Wehling: Also, man sieht, natürlich gibt es Dinge, die den Wahlkampf speziell machen. Denn je nachdem, in welcher Kultur und auch in welcher Sprache Sie sich befinden, haben Sie automatisch immer bestimmte Denkmuster und Sprechmuster, die einfach sich abheben. Aber was spannender vielleicht ein Stück weit fast ist, dass wir europaweit und auch in Amerika bestimmte Frames sehen, die von allen Parteien immer und immer wieder bespielt werden und auftauchen. Und wir da wirklich ja geradezu eine – na ja – wahrscheinlich eher nicht verabredete, eher zufällige vielleicht "Gleichschaltung", sage ich mal, sprachlich sehen, über die unterschiedlichen Kulturen hinweg, die dann auch ganz ähnliche politische Kräfte, ich sage mal, linguistisch präferieren. Also, bestimmte politische Kräfte haben es derzeit leichter in unseren Diskursen, weil bestimmte Frames europaweit und eben im ganzen Westen gesetzt werden.
Arbeitnehmer oder Leistungserbringer
Schmidt-Mattern: Ich nehme an, dass Sie da auf bestimmte Parolen anspielen, die wir vor allem aus dem rechtspopulistischen Lager hören – aber nicht nur. Können Sie uns ein Beispiel geben für so einen Frame, der Ihnen speziell auffällt im Moment?
Wehling: Na ja, also tatsächlich, das sind oft populistische Frames, vollkommen richtig, da haben Sie schon Recht. Das sind dann ... die typischen Bilder sind die vom Flüchtlingsstrom, also die Menschen auf der Flucht als eine Naturkatastrophe, die jetzt hier auf Deutschland zurollt oder auf Europa. Aber ich meine das auch außerhalb von populistischen Diskursen, auch Debatten, die relativ unscheinbar daherkommen: Sei das die Steuerdebatte, sei das die Debatte rund um Arbeit oder die Umweltdebatte. Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel. Wenn Sie auf die Arbeitsmarktdebatte schauen, da sprechen wir alle von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern. Wir wissen auch aus dem Alltag, von unserem Moralverständnis her: Geben ist seliger denn nehmen. Mit diesem Frame sind sie automatisch in einer moralischen Perspektive. Und zwar hat der Arbeitgeber bereits etwas gegeben und ein Arbeitnehmer schon etwas genommen. Das ist ein gewisses moralisches Ungleichgewicht, kognitiv gesprochen, also in unserem impliziten Mitdenken. Man kann die Sache aus einer anderen Perspektive sehen. Man kann sagen: Na ja, der Leistungserbringer – also der Mitarbeiter –, erbringt eine Leistung und sein Chef – das Unternehmen – ist eben Leistungsbezieher, dann sind sie in einem anderen Frame.
Ich nehme bewusst dieses Beispiel, bei dem man erstmal wirklich hingucken muss, um zu sagen: 'Huch, Moment, da steckt ja wirklich was in der Sprache'. Weil es eben nicht so plastisch ist, wie der 'Flüchtlingstsunami', aber gleichwohl – und das wissen wir aus der empirischen Forschung – die Menschen auf eine bestimmte moralisch-ideologische Perspektive bringt über die Sprache. Und auch bei diesen Debatten – so unscheinbar sie wirken mögen –, müssen wir genau hinschauen.
Psychologischer Aufblas-Effekt
Schmidt-Mattern: Wir haben ja noch wesentlich plakativere Frames in den letzten Wochen, gerade hier in Deutschland präsentiert bekommen. Ich greife zum Beispiel mal auf den Satz von Innenminister Thomas de Maizière, der in einem Zeitungsartikel dazu aufrief oder feststellte: "Wir sind nicht Burka". Ein Satz im Rahmen der deutschen, sogenannten "Leitkulturdebatte", der sehr viel Echo hervorgerufen hat. Wie bewerten Sie aus Ihrer Forschung heraus diesen Satz: "Wir sind nicht Burka"?
Wehling: "Wir sind nicht Burka" – es ist nicht von ungefähr, dass zum Beispiel in der Debatte rund um den Islam und die Religionsfreiheit und die Integration Bilder wie die Burka derart stark bemüht werden. In der Psychologie nennt sich der Effekt, den man dadurch herstellen kann, der "Salient Exemplar Effect" – da gibt es auch leider keine deutsche Übersetzung dafür.
Schmidt-Mattern: Warum? Das müssen Sie erklären.
Wehling: Und der hat mit Folgendem zu tun: Wenn Sie über ein recht weites und abstraktes Thema sprechen wollen, also wie diese Frage Islam, Integration und so weiter und darüber sprechen wollen, dann haben sie kaum aus ihrer direkten Welterfahrung konkrete Bilder oder Gefühle oder Erfahrungen, die das richtig greifbar machen. Dann können sie sich so Momente herausgreifen, wie eben das Bild der Burka. Da können wir uns alle was vorstellen, das haben wir schon mal gesehen, das sieht auch alles dunkel und gefährlich aus und so weiter und so fort. Das ist ein konkretes Bild, aber eben nur ein Teilaspekt eines großen, großen Themas. Wenn sie diesen Aspekt wieder und wieder besprechen, dann trainieren sie geradezu die Köpfe ihrer Mitbürger darauf, diesen Aspekt als stellvertretend für das gesamte Thema zu begreifen und die Wahrscheinlichkeit, dass zum Beispiel das Tragen einer Burka in Deutschland häufig vorkommt, viel, viel größer einzustufen. Und dieser psychologische Aufblas-Effekt – so könnte man das gut übersetzen –, der findet statt, indem man eben solche konkreten Bilder bedient.
Einbettung von Wertehaltungen vernachlässigt
Schmidt-Mattern: Müssen wir denn nun im politischen Diskurs gerade auch in Wahlkampfzeiten nicht eigentlich mehr den je auf Fakten setzen, auch aus der Erfahrung des US-Wahlkampfes heraus? Oder bleiben Sie dabei, dass Sie sagen: Am Ende geht das alles nur um Emotionen?
Wehling: Um Emotionen geht es auch bei dem Framing hier. Und das ist ein gängiges Missverständnis. Insofern ist das gut, dass Sie das ansprechen. Framing hat mit Emotionen erst mal gar nichts zu tun, sondern mit Ideologie, mit Moralvorstellung. Und tatsächlich ist es ja so, dass wir Fakten aufgrund unserer unterschiedlichen Ideologien, Moralvorstellung unterschiedlich bewerten. Und da liegt der Hund begraben. Wenn Gruppen das langfristig nicht gut kommuniziert bekommen, dann verliert der Mitbürger die Orientierung, wo will man eigentlich hin. Und diese Idee, dass bis vor – na, ich sage mal – zwei, drei Jahren, wir alle noch wahnsinnig rational und faktisch über Politik gedacht hätten und mit einem Mal laufen wir alle blind vor Emotionen durchs Land und können die Fakten gar nicht mehr erkennen, diese Gegenüberstellung ist aus Sicht der Kognitionsforschung falsch. Denn was wir sehen ist nicht, dass die Menschen, die bis vor kurzem rational dachten, es jetzt nicht mehr tun und der Grund ist die Emotion. Sondern was wir sehen ist, dass bestimmte politische Kräfte – und das gilt tatsächlich über Ländergrenzen hinweg – es versäumt haben über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, ihre eigenen Wertehaltungen immer und immer wieder richtig auf den Tisch zu legen und in einen Zusammenhang zu stellen mit ihren politischen Vorschlägen.
Schmidt-Mattern: Das müssten Sie etwas konkretisieren. Wen meinen Sie damit, …
Wehling: Gut, damit meine ich …
Schmidt-Mattern: … wenn wir auf die deutsche Parteienlandschaft schauen?
Wehling: Damit meine ich zum Beispiel in Deutschland die eher progressiven Kräfte, zum Beispiel SPD, Grüne, moderate CDU. Also alles, was im weitesten Sinne eher sich dem Progressiven verpflichtet fühlt. Beispiel Arbeitnehmer/Arbeitgeber hatten wir eben schon. Beispiel Steuern. Wir alle sprechen von der "Steuerlast" und der "Steuerbürde". Damit kehren wir sprachlich und damit natürlich gedanklich unter den Tisch, was wir eigentlich kollektiv gemeinschaftlich schaffen und immer wieder auch aufrechterhalten, nämlich eine unglaublich gesunde, starke, soziale Infrastruktur im Vergleich zu vielen anderen Ländern auf der Welt. Diese Momente meine ich. Und deswegen ist es gar nicht immer das Schreckgespenst Populismus, das einem da irgendwie sprachlich von links rein … na ja, gut, eher von rechts eingrätscht, sondern tatsächlich diese ganz – ich sage mal – normalen Diskurse, wo der Mitbürger draufguckt und sagt: ‚Wieso, das ist doch alles ganz neutrale Sprache.‘ Die sind eben in der Regel nicht neutral, aber sie tendieren …
Bilder und die eigene Welterfahrung
Schmidt-Mattern: Also, ein Begriff wie "Steuerlast" oder "Steueroase"?
Wehling: Ganz genau. Steuerlast impliziert: Steuern sind per se negativ. Steueroase impliziert, dass die sogenannten Steueroasen der letzte Ort des Labsals sind in einer wüstenbedrohlichen Umgebung. Wenn dann ein Politiker rausgeht und sagt, wir müssen jetzt noch die letzten Steueroasen austrocknen, dann sind sie bei Bildern, die unglaubliche ideologische Wirkkraft entwickeln, weil – und den Punkt haben wir jetzt schon ein-/zweimal angesprochen –, weil alles, was wir aus der direkten Welterfahrung so richtig mitdenken können, also Sachen, die wir uns bildhaft vorstellen können, Sachen, die man spüren kann, wie eine Last, eine körperliche Last kann man spüren, eine psychische Last auch, solche Dinge entwickeln eine wahnsinnige Zugkraft im Gehirn und machen politische Inhalte immens relevant. Wenn diese Dinge fehlen oder nur einseitig ideologisch gedacht und gesprochen werden in einem Diskurs, dann geht auf der anderen Seite wahnsinnig viel verloren, kognitiv.
"Wie denke ich Respekt und Würde?"
Schmidt-Mattern: Wenn wir beim Wahlkampf in Deutschland bleiben und auf den SPD-Kanzlerkandidaten schauen, Martin Schulz, der zwei entscheidende Begriffe als Losung für seinen Wahlkampf herausgegeben hat, nämlich "Respekt" und "Würde". Das sind positiv besetzte Begriffe. Das ist, glaube ich, unumstritten. Was wird damit beim Wähler bewirkt? Müssen diese Begriffe mit mehr Inhalt gefüllt werden?
Wehling: Eine Sache, die einem Ideologieforscher bzw. einer Ideologieforscherin als Erstes in den Kopf schießt, wenn man das hört, ist, dass Respekt und Würde nicht gerade zu den Werten gehören, die eher konservative von eher progressiven Menschen unterscheiden. Denn die Frage ist immer: Wie denke ich Respekt und Würde? Also, hat ein Mensch mehr Respekt verdient, wenn er sich in einem wirtschaftlichen Wettkampf mehr finanzielle Ressourcen erkämpfen konnte? Oder hat jeder Mensch gleichermaßen Respekt verdient, einfach, weil er Mensch ist? Also, da ist mit solchen Schlagworten immer noch nicht ganz so viel erreicht. Allerdings, ich habe das eben schon kurz gesagt, werden die natürlich in den Wahlkämpfen ausgefüllt und auch ausgefochten. Und da wird dann, wenn wir Glück haben, ein gesunder demokratischer Streit vielleicht auch darüber entstehen, was eigentlich Respekt bedeutet im Miteinander. Und da werden sich sicher die Lager uneinig sein.
Schmidt-Mattern: Wenn Sie von einem progressiven Lager sprechen versus einem konservativen, können Sie diese Gruppen etwas genauer einordnen?
Wehling: In Deutschland ist das gar nicht so leicht. Und das liegt daran, dass wenn Sie wirklich auf die ideologische Natur eines Menschen gucken, dann kann man das sehr klar einordnen. Dann kann man sagen, jemand ist zum Beispiel ideologisch eher streng, eher fürsorglich. Also, man speist sich aus unterschiedlichen Denkmodellen. Die Übertragung auf politische Titel, ja, also wie "konservativ", "progressiv" und so weiter, die bleibt immer ein bisschen der Wahrheit hinterher, ehrlich gesagt. Weil Sie kennen das sicher aus Ihrer eigenen Beobachtung der Politik: Da gibt es mal Leute, die betiteln sich vielleicht als progressiv, aber Sie merken von der Gestaltung und auch, wie die reden, sind die eigentlich ganz schön konservativ. Oder jemand gehört einer konservativen Partei an und mit einem Mal, ideologisch gesprochen, gestaltet er eine Politik, die eher hin in die sogenannte fürsorgliche Ideologie geht, also zu eher progressiven Werten. Das heißt, man schwimmt da immer ein bisschen. Aber natürlich haben auch wir die grobe Unterscheidung eher rechts, eher links, Trennlinie relativ klar – CDU/CSU eher konservativ, SPD/Grüne eher progressiv.
Ideologische Debatten stehen nicht im Scheinwerferlicht
Schmidt-Mattern: Aber genau das ist ja ein Punkt, den viele Menschen in Deutschland inzwischen beklagen, dass Ihnen die Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien fehlt, dass der Vorwurf erhoben wird, alle werden sich immer ähnlicher, alle versprechen das Gleiche und es gibt keine klaren Abgrenzungen mehr. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Wehling: Ja, das stimmt. Also, diese Beobachtung stimmt ja. Und das ist genau das, wenn ich sage, die Debatte ist so ein bisschen gleichgeschaltet sprachlich und damit auch gedanklich. Das ist genau der Punkt, den ich meine, dass die unterschiedlichen politischen Kräfte sich eben nicht mehr in ihrer starken und offenen, ehrlichen, aber durchaus streitbaren Art und Weise ihre Ideologie, ihre Werte auf den Tisch legen, dass wir zum Beispiel – und das tun wir ja – über die unterschiedlichen politischen Gruppen hinweg davon sprechen, dass Flüchtlinge ins Land strömen, dass wir einen Flüchtlingsstrom erleben und so weiter und damit Flüchtlinge metaphorisch zu einer Naturgewalt machen – und damit natürlich im Menschlichen und eine auf Empathie basierende Asyl- und Integrationspolitik dann recht schwer wird.
Also, diese "Gleichschaltung" über Sprache, die ist tatsächlich eine Herausforderung. Und, wenn der Mitbürger und die Mitbürgerin dann sagen: ‚Wir haben das Gefühl, wir spüren gar nicht mehr richtig, wir können gar nicht mehr richtig fassen, was eigentlich diese Gruppen unterscheidet und wieso sie ein und dieselbe Faktenlage so unterschiedlich bewerten. Und der eine sagt, das ist gerecht, möglichst viel Freiheit zu geben, sprich wenig Steuern, wenig Regulierung, viel freier Markt, viel Wettbewerb und dadurch eine Optimierung der Leistungsfähigkeit aller. So und der andere sagt: Nein, ich finde, es ist gerecht, Freiheit zu geben, und zwar Freiheit unseren Mitbürgern vor übergriffiger Industrie und vor Not und so weiter und so fort. Und deswegen brauchen wir hohe Steuern und gute soziale Infrastruktur. Natürlich finden diese Debatten hier und da noch statt, aber sie stehen nicht im Scheinwerferlicht. Und vor allem mit einer …
Schmidt-Mattern: Und woran liegt das?
Wehling: Ja, da stellen Sie eine gute Frage. Woran liegt das? Also, das musste man in letzter Konsequenz natürlich immer den jeweiligen politischen Akteur fragen – so. Aber ein Stück weit liegt das sicher daran, dass wir eine Mode haben, so im öffentlichen Miteinander, davon auszugehen, dass Menschen eben rational und faktisch denken können, und dass letztlich Moral und auch Ideologie und Wertevorstellung immer fast so ein bisschen was Unehrenhaftes sind in der Politik. Also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich mit politischen Gruppen zusammensitze und sage: Wenn Ihr bei den Mitbürgern euch wieder begreifbar machen wollt, dann redet mal richtig über die moralischen Prämissen eurer politischen Gestaltungsvorschläge. Und wie oft ich da höre: Also, Frau Wehling, das ist ja geradezu unanständig. Wir wollen über die Fakten sprechen und wir werden unsere Programmdetails offenlegen und dann kann der Bürger ganz rational das entscheiden. Das ist wirklich ein Trend und der tut dem politischen Streit sicherlich nicht gut.
"Die schönsten Fakten ohne eine klare Erklärung"
Schmidt-Mattern: Können Sie das noch mal an einem Beispiel belegen, wenn Sie sagen, Fakten allein können dann im Wahlkampf nicht alles sein? Denn der allgemeine Trend, die Stimmung in Deutschland ist ja nach den Erfahrungen mit Populisten in den letzten Jahren, auch mit der AfD, mit Stichworten wie der "Lügenpresse" oder dem, was Donald Trump seinem Wahlvolk in den USA gesagt hat, genau der umgekehrte Trend, eben zu sagen, wir brauchen viel, viel mehr Fakten.
Wehling: Wir brauchen Fakten immer in Zusammenhang mit Frames, also mit diesem Schlagwort, was wir vorhin schon hatten mit Deutungsrahmen. Das heißt, Fakten sind und bleiben zentral, aber die schönsten Fakten ohne eine klare Erklärung an den Mitbürger, wieso man angesichts dieser Fakten die und jene Lösung für richtig hält und andere politische Vorschläge für höchst falsch, das muss geleistet werden. Denn da liegt ja der Unterschied in den Parteien. Und wer sich da nicht ehrlich macht und wer da nicht offenlegt, wie er Fakten einordnet und wieso er bestimmte Handlungsvorschläge mitbringt, der hat sicherlich ein Stück weit, ich sage mal, diskursiv und damit natürlich in letzter Instanz kognitiv und demokratisch seine Mitbürger im Stich gelassen. Ja? Also zumindest macht er es ihnen nicht gerade einfach mitzukommen.
"Le Pen hat die Karte ein bisschen überspielt"
Schmidt-Mattern: Wenn wir zum Schluss unserer Sendung noch mal auf Frankreich schauen und den Präsidentschaftswahlkampf dort: Der halbe Kontinent hat wochenlang gezittert, ob Marine Le Pen die neue französische Präsidentin werden würde. Welche Lehren können Sie jetzt aus diesem französischen Präsidentschaftswahlkampf ziehen?
Wehling: Le Pen hat in jedem Falle die Karte ein bisschen überspielt zum Ende hin. Sie hat sich sehr intensiv gegeben in ihrer Sprache, in ihrer ganzen Art. Wir wissen, wir haben das mal erhoben in einer groß angelegten Studie über unterschiedliche europäische Länder hinweg und wir wissen, dass tatsächlich die Anhängerschaft der Front National aus der Ideologie heraus gesprochen die autoritärste ist. Also, wir wissen, dass zum Beispiel Anhänger der Front National autoritärer ideologisch aufgestellt sind als zum Beispiel jene der AfD oder auch die Unterstützer von Trump oder auch in Dänemark und so weiter.
Schmidt-Mattern: Woran machen Sie das fest?
Wehling: Das sind Erhebungsmethoden, die man da nutzt. Also, was man da macht, ist, man geht rein in die Bevölkerung und man fragt eben nicht, wie in einer klassischen, ja Umfragestudie: Wie positionierst du dich zu bestimmten Themen? Was hältst du von der Idee, Steuern noch mal ein bisschen runterzusetzen oder hochzusetzen? Sondern man fragt die Menschen nach den Werten, nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden, das sie im tagtäglichen Leben richtig umtreibt. Und ganz viel geht da im Übrigen über Familienbilder. Man fragt die Menschen oft: Wie siehst du das in einer idealen Familie? Soll die ideale Familie streng sein mit einer strengen väterlichen Autorität? Ist Bestrafung ein Ausdruck von Liebe? Und so weiter. Oder man hat eben ein eher fürsorgliches Familienbild. Finden Sie, dass eine Familie in erster Linie ein Ort ist, wo das Kind sich geschützt fühlt, immer aufgehoben ist? Und das wirklich Spannende: Sie können auf dieser Ebene bei den Menschen abfragen: Wie sieht die ideale Familie für dich aus? Und das ist ein besserer Indikator für politische Positionierungen von links nach rechts, als wenn Sie die Menschen auf einer bewussten Ebene nach ihren politischen Werten abfragen.
"Big Daddy" und "Mutti"
Schmidt-Mattern: Ich denke, Sie spielen da auch an auf Untersuchungen, die Sie im Hinblick auf den amerikanischen Wahlkampf durchgeführt haben. Das Bild von Donald Trump, der sich selbst im Wahlkampf als "Big Daddy", glaube ich, tituliert hat. Und wir haben hier eine nur etwas vergleichbare Parallele in Deutschland. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die seit Jahren auch aus den eigenen Parteireihen durchaus freundschaftlich den Spitznamen "Mutti" hat.
Wehling: Ja.
Schmidt-Mattern: Wie bewerten Sie diesen Spitznamen?
Wehling: Dieser Spitzname hilft Angela Merkel ungemein, denn wir alle haben eines gemeinsam, ob wir bewusst darüber nachdenken oder nicht. Wir alle denken implizit ständig: das Land und die Regierung als eine Familie und die Politiker als Elternfiguren, die dann das Land gestalten. Der Grund, dass wir das tun, ist wiederum – ich habe das vorhin schon kurz anklingen lassen – dass wir sinnhaft da über Politik und andere Dinge denken können, wo wir sie an unsere Alltagserfahrung anbinden können. Und wir alle haben Alltagserfahrungen mit echten Familien. Zu einer Familie dazuzugehören und Eltern zu haben, die Entscheidungen treffen und ihre Autorität ausüben, das ist unser primärster und unser grundlegendster Erfahrungsschatz, um über die Nation und Regieren zu denken – so. Jeder Politiker, der das Glück hat, dass er insbesondere als Familienoberhaupt schon gedacht und gesprochen wird, der hat erst mal ein paar Bonuskarten in der Hand, weil die gesamte Übertragung sozusagen unserer Familienideale und Familienwerte auf diesen Politiker einfach schon mal richtig einfach und schnell geht im Vergleich. Und deswegen hat nicht ohne Grund Trump für sich selbst ganz aktiv den Kosenamen "Big Daddy" in Umlauf gebracht. Das funktioniert.
"Das Klebeband ist die Sprache"
Schmidt-Mattern: Ich würde gerne abschließend noch fragen, Frau Wehling, ob denn – vielleicht auch in Widerspruch zu Ihren Thesen – Wahlkampfkommunikation nicht doch noch aus viel mehr besteht, aus viel mehr Komponenten. Sei es das Personal oder eben die Wahlprogramme, die Medienarbeit, die aktuelle Nachrichtenlage. Das ist doch alles ein Teil vom Ganzen, oder?
Wehling: Natürlich – natürlich ist das alles … und man würde nie so weit gehen, dass man sagt, das ist alles völlig egal und hinfällig und solange jemand ein schönes Schlagwort mitbringt, ist die Sache gelaufen – so. Natürlich nicht. Das ist immer im Kontext zu sehen. Und auch im Übrigen, wie man sich programmatisch aufstellt, das ist ja auch schon eine Frage der eigenen Deutungsrahmen, nicht. Also, ganz oft geht die "Framing-Arbeit", also die Arbeit, sich begreifbar zu machen als politische Gruppe, erst mal an die Sache heran, indem man sich programmatisch mal überdenkt und dann immer schaut: Programmatisch und in der Sprache – sind wir da authentisch? Sind wir da ehrlich? Sind wir noch bei uns? Oder sind wir irgendwie ein bisschen abgekommen von dem, was wir wirklich wollen und was uns ausmacht und wie uns das politische Herz gestrickt ist? Ja?! Und insofern, vollkommen richtig, es geht alles Hand in Hand.
Die Frage, wer dann im Personal dabei ist, ist natürlich eine immens wichtige Frage. Wir wissen, dass bei Hillary Clinton Leute den Wahlkampf mitgestaltet haben, die von – ich sage mal – ideologischen, moralischen Diskursen eher immer versuchen Abstand zu nehmen und zu sagen, wir machen das faktisch, faktisch, faktisch – so. Genau. Und der dritte Punkt, den Sie angesprochen hatten, der Kontext, die politische Situation, natürlich, also, wenn es einen Anschlag irgendwo gibt, oder wenn die Wirtschaft im Keller ist oder was auch immer, das sind dann natürlich immer – immer Faktoren, die neben den Diskursen, die wir führen, eine Rolle spielen. Und letztlich, wenn wir mal ganz ehrlich sind, irgendwie greift das ja alles ineinander. Denn der gemeinsame Nenner, sozusagen das Klebeband zwischen alldem, ist natürlich im demokratischen Miteinander schon die Sprache. Nicht? Weil egal, was gerade ist, man muss irgendwie drüber reden.
Schmidt-Mattern: Das kann man sehr gut im Radio. Frau Wehling, vielen Dank für dieses Interview.
Wehling: Gern.