"Rückführungspatenschaft" und "Coronadikatur" stehen nun am semantischen Pranger. Vier Linguisten der Darmstädter Jury für das "Unwort" des Jahres haben nach besten Kräften entschieden und sprachliche Entwicklungen und Fehlentwicklungen durchaus korrekt fixiert. Der Begriff der "Corona-Diktatur", der seit Beginn des öffentlichen Diskurses um die Pandemie von "Querdenkern" und Propagandisten häufig gebraucht wurde, um regierungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung Pandemie zu diskreditieren, gehört zu den semantischen Errungenschaften des letzten Jahres, ebenso wie der der "Hochrisikogruppe", der "Maskenverweigerer" oder der "Systemrelevanz". Wobei insbesondere der zuletzt genannte, eine Art semantischer Triage, zu Recht einigen Unmut hervorrief.
Ernennung zum "Unwort" reicht nicht
Aber mit dem Markieren einiger schwarzer verbaler Schafe ist es heute nicht mehr getan. Die Probleme liegen tiefer und sind ernster. Es scheint, als stünden wir am Beginn eines "Linguistik turn", der keinen Stein des alten grammatikalischen Systems mehr auf dem anderen lässt. Vorbei die Zeiten des viel zitierten Wittgenstein‘schen Schweigegebots nach dem Motto "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen". Wie auch die Phase sprachkritischer Strenge in der Art von Karl Kraus oder Victor Klemperer. Heute erleben wir ein ganz anderes Szenarium, in dem sich forcierter Regelverstoß und sprachkosmetische Korrektur einen spannenden Wettlauf liefern - Ausgang ungewiss.
Trump und die Twitterkultur
Der Beginn der jüngsten Phase einer zerstörerischen Pandemie der Sprache lässt sich ziemlich genau datieren und an einem Namen festmachen: Donald Trump. Er durchbrach vorsätzlich alle bislang halbwegs gültigen Normen und Regularien des sprachlichen und sozialen Miteinanders. Mit ein paar kühnen Sätzen sprengte er den von ungezählten Philosophen, Theologen, Moralisten und Linguisten wieder und wieder thematisierten Damm zwischen Lüge und Wahrheit, Fakten und Fiktionen, Fairness und Fußtritt. Manche erschraken, viele staunten, kaum einer fiel ihm ernsthaft ins Wort. Fast gleichzeitig versuchte man auf anderer Ebene zu retten, was nicht mehr zu retten war: die Sprachpolizeien der "Me too"- und "Black live matters"- Bewegungen unternahmen und unternehmen noch immer verzweifelte und bisweilen skurrile Versuche, zumindest sprachlich zu sanieren, was faktisch gelaufen ist. Verbale RuinenbaumeisterInnen einer politischen Korrektheit, die längst unter den Fußtritten der Macher zermahlen wurde.
So spiegelt einmal mehr der Zustand der Sprache auf groteske Weise den Gesamtzustand einer Gesellschaft im permanenten Angriffs- und Verteidigungsmodus - beides zusätzlich verstärkt durch die Pandemie: Aggressiv oder eingeschläfert, aufgebracht oder penibel: Dazwischen kaum mehr Raum für Kritik, Rationalität, Grautöne.
Sprachreinigung und politische Korrektheit
Wenn man jetzt aus heutiger Sicht Orwells "1984" und dessen Idee einer Sprachtyrannei liest, wird man feststellen, dass uns Befürchtungen, von einer bösartigen, auf allgemeine Herrschaft getrimmten ominösem Supermacht dominiert zu werden, nicht beunruhigen müssen. Uns züchtigt keine Sprachpolizei, wir kontrollieren uns längst selbst. Um die Sprache zu entschärfen, auszubleichen und zu sterilisieren benötigen wir keine Obrigkeit. Eifrigdumme Sprachreiniger und Sprachreinigerinnen durchforsten, getrieben von einer imaginären Norm politischer Korrektheit, das Revier und merzen den Wildwuchs aus. Sie tun dies freilich mit ähnlicher Wut und teilweise ebenso verbissen wie ihre Gegner, die mit Wörtern ohne jede Bindung an Realitäten, frei von Verantwortung um sich schießen und die Menschen lustvoll ins Verderben reden. Die "Ordnung des Diskurses" ist in Gefahr, verloren zu gehen. Es wäre das Gebot der Stunde, den nahezu verlorenen dritten Raum zwischen den verhärteten Positionen kraftvoll zu verteidigen und die Extremisten beider Seiten in die Schranken zu weisen.