Jochen Spengler: Union und SPD streiten also über die Integrationspflicht für Flüchtlinge, wie wir eben gehört haben. Bedenkenswert ist aber, so formuliert es heute die "Süddeutsche Zeitung", dass "Integration vor allem eine Pflicht der Gesellschaft gegenüber sich selbst ist". Also, tun wir genug im eigenen Interesse, um die Hilfesuchenden bei der Integration zu unterstützen, und wie kann Integration funktionieren - natürlich, vor allem und an erster Stelle über das Erlernen der deutschen Sprache. Wie aber steht es um das Sprachangebot? Eine, die sich für Flüchtlinge engagiert und die meint, wir tun noch zu wenig für die Integration, vor allem, wenn es um Kinder und Kleinkinder geht, ist jetzt bei mir im Studio. Willkommen, Uta Claußen, Vorsitzende des Vereins "Känguru" für frühkindliche Bildung in Bonn. Was genau tun Sie und Ihr Verein?
Uta Claußen: Wir tun in Bonn Folgendes: Wir bieten Sprachkurse für Kinder unter drei an, vornehmlich, und ziehen damit in Bonn los und suchen die Kinder und, ja, machen mit denen einen Sprachkurs.
Spengler: Suchen Sie wo?
Claußen: Die suchen wir da, wo sie leben, zum Beispiel in Flüchtlingsunterkünften in Stadtteilen, wir gehen ins Viertel, wie man so schön sagt, in das soziale Umfeld, in dem die leben.
Spengler: Wie viel Kurse machen Sie im Augenblick?
Claußen: Im Moment in Bonn genau 24 Kurse.
Spengler: Aber nicht nur Bonn, sondern auch, wenn ich es richtig verstanden habe, im Rheinland.
Claußen: Im Rheinland, wir machen inzwischen in Köln und im Rhein-Sieg-Kreis Kurse.
"Kinder in diesem Alter lernen Sprache intuitiv"
Spengler: Wieso für Kinde unter drei? Wäre es nicht viel sinnvoller, Sprachkurse für Kinder im schulpflichtigen Alter anzubieten?
Claußen: Es ist auf jeden Fall sinnvoll, für Kinder im schulpflichtigen Alter Sprachkurse anzubieten, keine Frage, aber die Sprachwissenschaft weiß, dass das Zeitfenster U3 eigentlich das kostbarste ist. In diesem Zeitfenster lernen Kinder eine Sprache wie eine Muttersprache, und zwar mit sehr wenig Aufwand. Der Mensch ist von Geburt an dazu veranlagt, das zu können, und kann problemlos zwei bis drei Sprachen als Muttersprache, oder wir sagen als Sprachwissenschaftler eher Erstsprache, lernen. Das funktioniert aber nicht nebenbei, also das funktioniert nicht in der U-Bahn oder beim Fernsehen, sondern man muss da was tun, und genau das tun wir.
Spengler: Sind damit Kleinkinder nicht überfordert irgendwie? Wie viel Stunden müssen die denn da in der Woche abreißen?
Claußen: Die sind damit überhaupt nicht überfordert, weil das genauso passiert, wie Kinder das brauchen - spielerisch. Wir spielen mit den Kindern, und die Kinder lernen über einen Sprachinput, also das, was sie hören, die Sprache, und wir gestalten Spielsituationen so, dass wir das sprachlich äußern können, was wir wollen, was an deren Ohr gelangt, so könnte man es ausdrücken.
Spengler: Wie lernen denn Einjährige oder Zweijährige eine Sprache? Sie können ja nicht mal lesen.
Claußen: Nein, lesen können sie gar nicht. Der große Unterschied ist, dass Kinder in diesem Alter Sprache intuitiv lernen, und zwar legen die das Regelwerk der Sprache an. Man muss sich das ganz anders vorstellen als wir das selber kennen aus dem Fremdsprachunterricht, die lernen nicht Wörter und Sätze und bauen die zusammen, sondern die lernen das Regelwerk der Sprache. Ich mache mal ein Beispiel: Im Deutschen müssten sie lernen, dass es bedeutungsunterscheidend ist, ob ich einen kurzen oder einen langen Vokal benutze, also, ob ich sage Wall oder Wahl, ist im Deutschen ein Unterschied, so was lernen die ganz früh.
"Nach einem Jahr ist das Regelwerk gelegt"
Spengler: Und wenn Sie sagen spielerisch, dann haben Sie spielerische Mittel zur Verfügung, Zeichnungen oder was ist das?
Claußen: Ja. Also wir sitzen typischerweise mit vier Müttern und vier Kindern im Kreis auf dem Fußboden und haben Spielzeug, und ein typisches Spiel ist zum Beispiel Sortieren: Eine Sortierübung wäre dann, dass Wörter einer bestimmten Wortstruktur haben, zum Beispiel Huhn, Hahn, Maus, Ball - hm, hm, hm ist die Wortstruktur, die man hört -, sortiert man in die eine Box, und in die andere Box kommen dann Wörter wie Hase, Nase, Blume, Käse - das ist eine spielerische Sortierübung, die Kinder haben Spaß, und wir wissen, nebenbei hören sie die Unterscheidung zwischen Wörtern verschiedener Struktur.
Spengler: Und nach wie vielen Jahren können sie dann Deutsch?
Claußen: Das ist ein sehr komplexes Thema: Man sagt, in der Regel braucht ein Kind zwei Jahre, um eine Sprache sehr gut zu lernen. Um eine Bildungssprache zu lernen, braucht es etwas länger. Wenn wir in dem sehr frühen Alter anfangen, sagen wir eigentlich, wenn die ein Jahr lang einen Sprachkurs hatten, dann ist das Regelwerk gelegt, dann kann es weitergehen in Kindergarten, Schule, mit den dortigen Sprachförderangeboten.
Spengler: Sie haben erwähnt, dass Sie das mit den Müttern machen.
Claußen: Ja.
Spengler: Warum?
Claußen: Die Mütter sind in vielerlei Hinsicht wichtig: Das allererste ist, ein Kind in diesem Alter trennt sich sehr schwer von den Eltern. Wenn Sie das als fremde Person kontaktieren, bräuchten Sie vielleicht sehr viel Zeit, Kontakt aufzunehmen, und die Zeit nehmen wir uns nicht, sondern wir sagen, wir fangen mal gleich mit dem Sprachkurs an, die Mama ist einfach dabei. Das Zweite ist, uns geht es hier um eine bilinguale, also mehrsprachige Erziehung. Die Eltern werden unterstützt, ihrem Kind dabei zu helfen, mehr als eine Muttersprache zu haben.
"Integrationshilfe in die deutsche Kita"
Spengler: Welche Muttersprachen haben denn Ihre Klienten, sage ich jetzt mal?
Claußen: In einem Kurs sitzen meistens Mütter, wenn es vier sind, mit vier verschiedenen Sprachen. Wir haben in Bonn 178 Sprachen, das muss man sich wirklich als ganz bunten Potpourri vorstellen.
Spengler: Also aus Syrien...
Claußen: Im Moment sehr viel syrische Familien. Früher waren es mehr russische und polnische Familien, Aussiedlerfamilien, aber das ist bunt gemischt.
Spengler: Und wie erfolgreich ist Ihr Konzept?
Claußen: Das müssten Sie die Erzieherinnen fragen, und die, die wir fragen, sagen wunderbar, wenn wir einmal Kinder genommen haben, die vorher einen Känguru-Kurs hatten, dann möchten wir das gerne wieder haben. Wenn Kinder einen Känguru-Kurs hatten und dann in die Kita integriert werden, dann ist das Thema Sprache sozusagen schon abgeschlossen, das heißt, die haben nicht mehr diese große Barriere, in einen Raum zu kommen, wo eine Sprache gesprochen wird, die sie nicht kennen, sondern die sind sofort präsent in der Kita und können an dem pädagogischen Alltag teilnehmen, ohne Einschränkungen.
Spengler: Ich will noch mal zurückkommen auf etwas, was Sie am Anfang gesagt haben: Sie gehen in Flüchtlingsheime mit Ihrem Angebot. Warum macht man das nicht in Krabbelgruppen zum Beispiel?
Claußen: Herr Spengler, Krabbelgruppen sind ein typisches deutsches Phänomen, das ist...
Spengler: Aber wir sind ja hier in Deutschland.
Claußen: Ja, genau, das machen deutsche Familien, die gehen dahin, aber eine syrische Familie weiß das gar nicht. Das ist schon mal der erste Schritt. Die sind so sozialisiert, dass Erziehung vornehmlich in der Familie passiert, und das gehört auch erst mal zum Selbstverständnis einer syrischen Mutter, dass sie ihr Kleinstkind erzieht, das möchte die nicht abgeben. Deshalb sagen wir, gut, das respektieren wir, wir kommen zu dir hin und machen erst mal mit dir und dem Kind gemeinsam einen Sprachkurs, natürlich mit dem Ziel, die langsam auch in eine deutsche Kita zu integrieren und zu sagen, hier in Deutschland ist es aber so, dass irgendwann das Kind alleine in einen Kindergarten geht, aber von daher ist der Känguru-Kurs zweierlei: Erstens, Sprachkurs und zweitens ist das auch eine Integrationshilfe in die deutsche Kita.
"Ich wünsche mir die Wachheit für dieses Klientel"
Spengler: Das klingt, auch wenn ich das nicht im Einzelnen beurteilen kann, alles relativ überzeugend. Geschieht genug in Deutschland, also haben Sie für dieses Konzept die notwendige Unterstützung aus der Politik?
Claußen: Nach unserer Erfahrung, die jetzt inzwischen über sechs Jahre währt, nicht. Das hat folgenden Grund: Wir haben in Deutschland für diese Altersgruppe keine greifende Struktur, es gibt keine Institution, die sich aus sich heraus mit diesem Klientel beschäftigt, sondern zu unserem Selbstverständnis, auch zu unserem gehört, die sind ja in der Familie. Wir haben dann in hohem Maße U3-Kitas errichtet und erbaut, aber diese Kinder sind nicht in diesen U3-Kitas, der Anteil ist ganz gering. Das hat verschiedene Gründe, aber wir finden sie da nicht, das heißt, die sind im Moment in ihren Familien.
Spengler: Was wünschen Sie sich dann von der Politik?
Claußen: Ich wünsche mir die Wachheit für dieses Klientel, die Erkenntnis, dass es ganz sinnvoll ist, in diesem Alter mit der Sprachentwicklung zu beginnen und da Unterstützungsangebote zu machen und eine institutionelle Einrichtung zu schaffen, die sich um diese Familien kümmert.
Spengler: Das könnte was sein, eine institutionelle Einrichtung?
Claußen: Es müsste eine Einrichtung außerhalb der Kita sein, weil wir die Erfahrung eben gemacht haben, in die Kita kommen die noch nicht, es muss ein Angebot sein, was Familien gemeinsam anspricht, die Eltern mit den Kindern.
Spengler: Und das müsste dann von Berlin aus, von unten nach oben organisiert werden an die Kommunen?
Claußen: Also mir kommt das fast so vor, als - Weihnachten ist noch ganz nah -, als dürfte ich jetzt einen Wunsch äußern, das wäre der Wunsch, dass die Politik das genau einrichtet und sagt, wir fordern Länder und Kommunen auf, ein Angebot für Familien mit Kleinstkindern zu etablieren.
Spengler: Vielleicht finden Ihre Worte Gehör! Danke schön, Uta Claußen, Vorsitzende des Vereins "Känguru", des Bonner Vereins für frühkindliche Bildung.
Claußen: Vielen Dank!
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