Anja Reinhardt: Als die Philosophin Hannah Arendt 1943 in New York ankam, fühlte sie sich zwar gerettet, hatte aber lange Zeit danach noch immer panische Angst, wenn sie Leute traf, die sie nicht kannte. Arendt war 1933 aus Deutschland nach Paris emigriert - als die Nationalsozialisten Frankreich besetzten, war sie eine von Millionen Menschen auf der Flucht. Sie entkam dem südfranzösischen Arbeitslager Gurs, ergatterte für sich und ihren Mann Heinrich Blücher ein Visum und konnte in die USA ausreisen. Heute zählen ihre politischen Analysen zum Kanon der Geistesgeschichte. "Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind", so Arendt. Dass Politik bedeute, moralische Prinzipien außer Acht zu lassen, weil man den größeren Zusammenhang sehen müsse – das hätte Hannah Arendt wohl nicht befürwortet – genauso wenig wie ein Pro und Contra hinsichtlich der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer, das in der aktuellen Ausgabe der Zeit gegenübergestellt wird.
Der Philosoph Thomas Meyer hat den kürzlich erschienenen Text "Die Freiheit frei zu sein" aus dem Nachlass von Hannah Arendt mit herausgegeben und selbst auch zu politischer Theorie publiziert. Mit ihm habe ich vor der Sendung gesprochen und ihn gefragt. Was es über die gegenwärtige Politik aussagt, wenn von "Asyltouristen" die Rede ist, von einer "Achse der Willigen" bzw. "Kooperation der Tätigen" die Rede ist – und wenn der Innenminister sein Alter mit der Anzahl an abgeschobenen Asylbewerbern vergleicht?
Wiederkehrende Begriffe
Thomas Meyer: An der Stelle muss man vielleicht noch mal daran erinnern, dass diese Art von Begriffen Wiedergänger sind. Wir haben diese Begrifflichkeit bereits in den 80er- und 90er-Jahren gehabt, was sie in keiner Weise besser macht, aber vielleicht erinnert man sich für einen kurzen Moment daran, dass 1980 die "FAZ" zum Beispiel einen Leitartikel mit der Überschrift versah: "Dämme gegen die Asylantenspringflut". Der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes schrieb ebenfalls im Jahr 1980 von der "Überschwemmung von Ausländern, die der BRD drohe" und warnte vor einem "Völkerbrei", der daraus entstehen könne.
Am 10. Februar 1989 hat zum Beispiel Lothar Späth im Bundestag davon gesprochen, dass der europäischen Gemeinschaft ab 1993 spätestens – und jetzt kommt das Wort – ein "Asyltourismus" drohe, und die Schweizer Volkspartei hat in ihrer sogenannten "Wahlplattform" aus dem Jahr 2003 longum et latum das Zitat vom Asyltourismus benutzt. Das sind nur kleine Hinweise auf die historische Verwendung dieses Begriffes und es ist kein Wunder, dass das jetzt wiederkommt in einer Situation, in der eine Art politischer Überbietungswettbewerb um die "vermeintlich Abgehängten" und die "vermeintliche Stimmung in der deutschen Bevölkerung" geführt wird.
Reinhardt: In der aktuellen Ausgabe der "Zeit" von dieser Woche wird darüber nachgedacht, inwiefern hier eine Sündenbock-Theorie den Boden für Fremdenfeindlichkeit ebnet: Die Flüchtlinge, die unser Sozialsystem unterwandern, die von einer Anti-Abschiebe-Industrie unterstützt werden und – und das finde ich besonders interessant -, dass Mesut Özil, der als Fußballer mit zwei Staatsbürgerschaften und diesem fatalen Foto, das er von sich und Erdogan hat in die Öffentlichkeit gehen lassen, ganz allein Schuld ist an der Pleite der Deutschen bei der Fußball-WM. Würden Sie auch sagen, es gibt wieder so etwas wie eine Sündenbock-Theorie, die Flüchtlinge oder überhaupt Leute mit anderen Staatsbürgerschaften, die nicht europäisch sind, als Sündenbock für alles Schlechte nimmt?
Unterlassene Hilfeleistung
Meyer: Wie immer muss man da differenzieren, und es ist in gar keiner Weise zunächst einmal befriedigend, wenn ein solcher Satz fällt wie, da muss man differenzieren. Die Tatsache, dass man glaubt, in einer komplexen Situation sich eine, in sich völlig heterogene Gruppe herausgreifen zu können, um sie dann in pauschaler Art und Weise für alles Schlechte dieser Welt verantwortlich machen zu können, oder, wie die heutige Ausgabe in einer Form von erstaunlich schlichter Pseudoliberalität, indem man nämlich zwei Autorinnen über das vermeintliche Pro und Contra von Rettungen aus dem Mittelmeer von Flüchtlingen diskutieren lässt – übrigens mit dem Hinweis, genauso wie Sie sagten zu Beginn unseres Gespräches, dass man doch politisch das diskutieren müsse und es nicht vermeintlich auf die leichte Schulter der Moralität oder des Moralischen schieben könne -, zeigt ein völliges sich vergessen haben auch nur der einfachsten, und zwar der juristischen Standards. Zum Beispiel unser Strafgesetzbuch sieht im Paragraphen 323c Strafen für unterlassene Hilfeleistung vor und die Behinderung von Hilfe leistenden Personen.
Kurz und gut: Wir haben einige Wiedergänger nicht nur im Begrifflichen – das war der Asyltourismus-Hinweis zum Beispiel -, sondern auch eine Primitivierung von komplexen Problemlagen, die mit Hinweis auf eine Art Staatsräson, die journalistisch begleitet wird, ausgetragen wird. Da sind solche Personen wie Mesut Özil, der jetzt die ganze Last des Weltmeisterschafts-Versagens zu tragen haben soll, nach Ansicht einiger, sehr gut ausgewählte, weil kaum in der Lage sich zu verteidigende Personengruppen – von den Flüchtlingen ganz zu schweigen, die ja kaum direkte Stimmen haben in der deutschen Öffentlichkeit.
Reinhardt: Der Flüchtling hat ja – das wird auch immer wieder mal gesagt – schon fast so etwas Zombiehaftes an sich. Gilt hier immer noch das Bild von Hannah Arendt, die sagte, Menschen auf der Flucht seien Staatenlose gewissermaßen ohne Identität und gewissermaßen auch ohne Seele?
Meyer: Nun, wir müssen genau sehen, was wir machen, wenn wir über Flüchtlinge in diesem Zusammenhang sprechen. Das Bild, das Hannah Arendt in ihrem Essay "We are Refugees", "Wir Flüchtlinge", zeichnet, ist zunächst einmal das der europäischen Juden. Sie erfindet sich einen Herrn Kohn, den sie mit gewissen Eigenschaften ausstattet, und sie will eine Art Topologie, eine Art Charakteristik in dieser konkreten Situation schaffen, um für sich selbst zunächst einmal und dann für jene, die dieses unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Hölle in Osteuropa mit glücklichem Ende, nämlich des gerettet seins durchlebt haben.
Was man aber auf jeden Fall benutzen kann für die derzeitigen Diskussionen und vor allen Dingen Verurteilungen und Vorverurteilungen von Flüchtlingen, wenn wir einmal so sprechen, ist, dass wir es hier schlicht und ergreifend mit individualisierten Schicksalen zu tun haben, die in gar keiner Weise per se unter ein, wie auch immer geartetes Verdikt fallen dürfen. Diese Individualisierung findet in gar keiner Weise mehr statt, wenn darüber gesprochen wird.
"Relativ primitive Gegenüberstellungen von Gut und Böse"
Reinhardt: Es gibt ja eine frappierende historische Parallele, auch wenn man mit so was natürlich vorsichtig sein muss, aber vor 80 Jahren trafen sich in Évian die Vertreter von 32 Nationen, um darüber zu diskutieren, wie man hunderttausende Flüchtlinge, vor allem deutsche und österreichische Juden verteilen könnte. Und auch damals wurden Schiffe von den Häfen abgewiesen. Haben wir nicht genug Geschichtsbewusstsein, um heute anders mit so einer Situation umzugehen? Und ich rede jetzt auch von der Mitte der Gesellschaft, denn es ist ja mittlerweile nicht mehr nur die AfD, die so redet.
Meyer: Nein, es ist längst eingedrungen in staatstragende, mit durchgedrücktem Rücken schreibende Leitartikler und Leitartiklerinnen, die glauben, über Zahlen und Verfügungsmassen – Frau Lau in der "Zeit" verweist heute auf eine Statistik in der "New York Times", um ihr "Argument" über das, aus ihrer Sicht fatale Zusammenstehen von Schleppern und sogenannten privaten Rettern zu dokumentieren. Selbstverständlich! Wir hätten guten Grund, Arno Lustigers großes Buch über die Konferenz von Évian über die Bundeszentrale für politische Bildung nachdrucken zu lassen und verteilen zu lassen und uns historisch in Erinnerung zu rufen, was damit ausgesagt ist. Aber Sie sehen: Historische Parallelen sind immer schwach, und zwar in dem Moment, in einer solchen aufgehetzten Situation, weil sie auf die Einmaligkeit und die Besonderheit dieser jeweiligen Situation verweisen. Was wir brauchen ist historisch belehrtes Gegenwartsbewusstsein. Daran scheint es zu mangeln, beziehungsweise das möchte man nicht sehen, und man möchte auch nicht zu sehr von der Geschichte "belastet" werden.
Es ist ja auch ein Entlastungsgeschehen, was wir hier beobachten. Es entstehen relativ primitive Gegenüberstellungen von Gut und Böse, Willkommenskultur auf der einen Seite oder, wie das ein AfD-Mitarbeiter in seinen Blöcken gerne beschreibt, Flüchtlinge als herumreisende Penisse, die in deutsche Mädels eindringen wollen. Wir sind längst über diese Grenzen hinaus, die wir zivilisatorisch – und wenn ich jetzt mal Rüdiger Safranski gegen ihn selbst zitieren darf: Und wir haben doch was zu verteidigen, nämlich genau diese Zivilität – längst aufgegeben haben, und das ist erschütternd.
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