Berge und Schoggi – also Schokolade– damit assoziiert man die Schweiz im Ausland. Und sie sind Teil der schweizerischen Identität, ganz klar! Was kaum jemand weiß: Das kleine Land ist auch einer der letzten Vielvölkerstaaten Europas. Die Alpenrepublik - also eine moderne Miniausgabe der Donaumonarchie? Nein, einen Monarchen, der das Land regiert, haben die Schweizer nie gehabt. Adlige Familien ja, aber die haben das Land im Herzen Europas nicht zusammengeführt. Das haben die Eidgenossinnen und -genossen ganz alleine geschafft - dadurch, dass sie im Laufe der Jahrhunderte peu à peu zusammengewachsen sind. Das sagt Wolf Linder auf seiner persönlichen Seite im Internet:
"Vor 1848 gab es eigentlich keine Schweiz. Es gab damals 25 Kantone. Sie waren zwar durch Verträge miteinander verbunden, aber jeder Kanton betrachtete sich als kleine, unabhängige Alpenrepublik. Und diese Kantone waren viersprachig: deutsch, französisch, italienisch und romanisch."
Weitere Teile der Reihe „Die Politik von Sprachen“
Vier Landessprachen bei nur achteinhalb Millionen Einwohnern
Vier offizielle Landessprachen bei nur achteinhalb Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Das ist aussergewöhnlich. Und nicht die einzige Besonderheit der Schweiz. Wolf Linder, der früher Direktor des Forschungszentrums für schweizerische Politik in Bern gewesen ist, möchte vor allem eins: Menschen, die sich in der Schweiz neu ansiedeln, die Eigenheiten des schweizerischen Staats- und Gemeinwesens nahebringen.
"Wenn Sie als Ausländerin oder Ausländer in die Schweiz kommen, scheint Ihnen die Politik sicher unverständlich zu sein. Alles ist hier anders. Auch Schweizerinnen und Schweizer haben hin und wieder Probleme, Politik zu lesen."
Die Schweiz: für Aus-, selbst Inländer nicht immer leicht zu verstehen? "Der Grund liegt darin, dass die Schweiz eben eine multikulturelle Staatsgründung ist, das heißt eine Gründung von vier Volksgruppen unterschiedlicher Sprache und unterschiedlicher Religion. Und der Föderalismus gibt ihnen eine starke Vertretung und schützt die Minderheiten der Sprache und der Religion. Die Schweiz ist also eine Staatsgründung von unten, nicht von oben, im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland oder Italien. Und zum zweiten: Es ist eine multikulturelle Staatsgründung, in der man versucht, alle verschiedenen Sprachen, Religionen und Kulturen zu integrieren."
Sprachmehrheit: die Deutschschweizer mit 60 Prozent
Damit ist Sprache, klar, in der Schweiz ein Politikum. Und wird deshalb gesetzlich geregelt im Sprachengesetz oder, wie es offiziell heißt, im "Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften". Darin steht:
"Mit diesem Gesetz will der Bund die Viersprachigkeit als Wesensmerkmal der Schweiz stärken; den inneren Zusammenhalt des Landes festigen; die individuelle und die institutionelle Mehrsprachigkeit in den Landessprachen fördern und damit das Rätoromanische und das Italienische als Landessprachen erhalten und fördern."
In der Praxis funktioniert das so: Zuständig für die Sprachpolitik ist die Bundeskanzlei. Sie setzt sich dafür ein, dass der Bundesrat, also die schweizerische Regierung, und die Bundesverwaltung, nach außen konsequent in den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch - und teilweise zusätzlich in Rätoromanisch oder in Englisch kommunizieren. Das sorgt für viel Bürokratie, aber es berücksichtigt die Bedürfnisse der drei Sprachminderheiten gegenüber der Sprachmehrheit, also gegenüber den deutschsprachigen Schweizern. Letztere machen mehr als 60 Prozent der Bevölkerung aus. Doch auch die Sprachmehrheit spricht kein einheitliches Deutsch, sondern verschiedene alemannische Dialekte, die unter dem Begriff Schweizerdeutsch zusammengefasst werden. Im Alltag sei das dann auch unter Deutschsprachigen manchmal kompliziert, meint Ingrid Mion, die in Sankt Gallen aufgewachsen ist:
"Wenn du jetzt nur mal nimmst 'auf und ab', da sagen wir im Sankt Galler Dialekt 'ufe und abe', aber 30 Kilimeter weiter im Rheintal sagen die dann 'ui und ei', das ist jedes Mal wieder ganz anders. Oder im Appenzellischen, da heisst schnell 'wäggli' und bei uns im Sanktgallischen ist ein 'wäggli' etwas, das man isst: das ist die Schweinshaxe, die Schweinswade und die Appenzeller sagen 'wäggli', um zu sagen 'schnell'."
Kein Hochdeutsch unter verschiedenen Schweizern
Und was passiert, wenn etwa ein Schweizer aus dem Wallis auf einen aus dem Thurgau trifft - wird dann hochdeutsch geredet? Ingrid Mion winkt ab.
"Nein, nein. Es sind dann auch nur einzelne Wörter. Dann sagen die Leute: Ach ja, das habe ich noch nie gehört. Aber ich weiß nicht, ich sage mal 80 Prozent sind die Wörter gleich oder ziemlich ähnlich, sodass du sie ableiten kannst."
Die Dialekte, so unterschiedlich sie sind, werden zu Hause gesprochen, auf der Arbeit und selbst in Radio und Fernsehen.
Gesprochene Nachrichten, wie die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen SRF, sind für Deutsche sicher nicht leicht zu verstehen. Gedruckt wird in den Schweizer Medien dagegen auf Hochdeutsch. "Schriftdeutsch", wie die deutschsprachigen Schweizerinnen und Schweizer sagen, denn sie benutzen es kaum, wenn sie miteinander reden. Ausser im inner-schweizerischen Dialog, also, wenn sie mit Landsleuten der Sprachminderheiten kommunizieren, der französischen, italienischen oder romanischen Sprachgruppe. Von ihnen erwarten die deutschsprachigen Schweizer, dass sie hochdeutsch, also schriftdeutsch, sprechen. Das aber können nicht alle. Die Tessinerin Cecilia Origoni spricht viele Sprachen fliessend, ihre Muttersprache Italienisch, dann Französisch und Spanisch. Im Deutschen aber fühlt sie sich nicht sicher.
"Ich war sehr enttäuscht, als ich an einem Flughafen in der Deutschschweiz französisch gesprochen habe, um mich verständlich zu machen und daraufhin mit verärgerten Blicken bedacht wurde. Ich finde es sehr enttäuschend, dass von uns Tessinern erwartet wird, dass wir die anderen Landessprachen beherrschen, das umgekehrt aber nicht für nötig gehalten wird. Vor allem die deutschsprachigen Schweizer sprechen oft keine weitere Landessprache, aber Englisch."
Eine deutschsprachige Mehrheit also, die selbstverständlich davon ausgeht, dass sich die Sprachminderheiten, die eigenen Landsleute, nach ihr richten? Ingrid Mion aus Sankt Gallen hält dagegen.
"Ein Schweizer spricht mindestens drei Sprachen. Also meistens Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch. Das wird auch erwartet, wenn du einen Job suchst, dass du schon mindestens drei Sprachen fließend kannst, vielleicht noch eine vierte oder fünfte."
Der Unterschied zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch
So spricht sie selbst auch französisch und italienisch, was ihr am Arbeitsplatz sehr von Nutzen ist. Sie ist bei einer Bank in Lugano angestellt, hat Kollegen und Kolleginnen aus allen schweizerischen Landesteilen und auch aus Italien.
"Ich habe den Tessiner Dialekt nicht gelernt. Ich kann es auch nicht unterscheiden, ob ich einen Tessiner vor mir habe, der italienisch spricht oder einen Italiener."
Einfacher ist es für sie als Deutschsprachige, zwischen jemandem aus der deutschsprachigen Schweiz und aus Deutschland zu unterscheiden. Weil nicht nur die Dialekte, sondern selbst das Hochdeutsch der Eidgenossen speziell ist. So werden "Sprachen parliert", "Autos parkiert", "Würste grilliert". Es gibt "Pärke" statt Parks, "Medienanlässe" statt Pressekonferenzen. Krankenhäuser sind "Spitäler", das Grundstück rund ums Haus ist der "Umschwung" und der Dachboden heisst "Estrich".
Das kann zu Ratlosigkeit führen bei Tessinern und französischsprachigen Westschweizern. Denn wenn sie im Alltag keinen Kontakt mit Deutschschweizern haben und in der Schule reines Hochdeutsch lernen, also Schriftdeutsch, dann sind Missverständnisse nicht auszuschliessen.
Und immer öfter greifen sie in der Not auf eine Sprache zurück, die für alle fremd ist: Englisch. Es sind also nicht nur die deutschsprachigen Schweizer, die dem Englischen die Tür zum schweizerischen Sprachraum öffnen, sondern auch die Sprachminderheiten, die sich mit englischen Wörtern behelfen, um zu erklären, was sie meinen. Wenn nämlich "Fegen" bei den Deutschschweizern das Wischen eines Bodens bedeutet - und "kehren" wenden, also umkehren - dann ist das für jemanden, der Hochdeutsch in der Schule gelernt hat, ganz schön verwirrend. Übrigens auch für Deutsche, die in die Schweiz "zügeln", pardon: umziehen.
Vielleicht sind die Schweizerinnen und Schweizer deshalb eher etwas langsam im Sprechen? Zumindest nehmen sie selbst sich als langsamer wahr als die Deutschen. Wahr ist, es braucht mehr Reflexion und Flexibilität bei der Verständigung als in einem Staatengebilde mit nur einer Sprache.
Direkte Demokratie – Teil der kulturellen Schweizer Identität
Im politischen Alltag, auch da gibt es typische Begriffe selbst in offiziellen Schriftstücken, die in deutschen Ohren vielleicht wunderlich klingen. Wenn etwa das Parlament beschliesst, eine Vorlage zu behandeln, dann "tritt es auf sie ein". Wenn die Regierung "Gegensteuer gibt", dann versucht sie, etwas in die andere Richtung zu lenken. Das versuchen in der Schweiz oft genug auch politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger, indem sie 100.000 Unterschriften für ihr Anliegen sammeln und damit eine Volksabstimmung lancieren. 321 Mal wurde das Volk seit 1848 auf Bundesebene an die Wahlurnen gerufen.
Auch das also etwas, was die kleine Alpenrepublik so besonders macht: Die direkte Demokratie gehört neben der Sprachenvielfalt und dem Föderalismus zur politischen und kulturellen Identität der Schweiz. Der Politologe Wolf Linder sagt dazu: "Das Volk entscheidet mit in wichtigen Einzelentscheiden der Politik."
Und das nicht nur über den Bau eines Schwimmbads oder eines Kulturzentrums auf Gemeindeebene, sondern auch über Themen, die die internationalen Beziehungen und die Aussenpolitik betreffen. Zum Beispiel über den Beitritt zur UNO, der vom Volk angenommen wurde oder über den Beitritt zur EU, der vom Volk abgelehnt wurde. Die Regierung muss sich den Volksentscheiden beugen und bei ablehnendem Stimmausgang bereits beschlossene Gesetze wieder kippen. Es gibt aber auch Volksinitiativen, also Stimmvorlagen, die von Bürgerinitiativen ausgehen. So schlug 1989 eine Gruppe von Friedensaktivisten vor, die schweizerische Armee abzuschaffen. Wolf Linder:
"Selbstverständlich erreichte die Initiative keine Mehrheit, aber sie löste eine heftige Diskussion aus über Sinn und Zweck der Armee. So sehen Sie, was die direkte Demokratie in der Schweiz bewegt: keine Revolutionen, aber starke Diskussionen einer politisierten Gesellschaft."
Um über die eigene Armee zu diskutieren und zu entscheiden – dafür braucht es Kommunikation und damit Sprache. Doch braucht es da auch eine gemeinsame Sprache?
Perfekte Sprachkenntnisse werden im Alltag nicht erwartet
Wichtige Themen, über die das gesamte Schweizerische Volk entscheiden muss, sprengen die Sprachgrenzen, weil sie nicht nur innerhalb der einzelnen Kantone diskutiert werden. Kommuniziert wird dann mit Hilfe von Dolmetschern, meist richtet sich die Sprache, in der diskutiert wird, jedoch nach dem Ort, an dem man sich befindet. In der Politik also kommt man zusammen, gibt es kein babylonisches Sprachgewirr - im Alltag nimmt man es leger. Manchmal treibe das auch ganz besondere Blüten, meint die italienische Muttersprachlerin Cecilia Origoni aus Lugano:
"Unsere Tessiner Regionalismen sind oft kurios und Ausdruck der Vermischung mit dem Deutschen. Es ergeben sich Wörter, die italienisch klingen, die ein Italiener aber gar nicht versteht."
Eines dieser kuriosen Beispiele ist das Wort "tippare", eine Italianisierung des deutschen Verbs tippen, womit die Tessiner vor allem das Eintippen an alten Supermarktkassen meinen. Im italienischen Sprachraum ist "tippare" völlig unbekannt, und wer kein Deutsch versteht, kann sich die Bedeutung von "tippare" auch nicht herleiten. Umgekehrt ist auch das Deutsch der Schweizer, also nicht der Dialekt, sondern das Hochdeutsch, von französischen Wörtern durchzogen. Speiseeis ist "Glace", ein Säugling ein "Bébé", die Bettdecke das "Duvet" und statt Entschuldigung sagt man "Exgüsi". Sich um etwas nicht "foutieren", heisst, dass es einem egal ist und wenn man sich aufs "Velo" schwingt, dann ist man mit dem Fahrrad unterwegs.
Der Begriff "Röstigraben" ist zutiefst schweizerisch
Und dann gibt es noch die Wörter, die im Ausland kaum zu verstehen sind, weil sie etwas zum Ausdruck bringen, was zutiefst schweizerisch ist. Mit einem Wort ist dann schon alles gesagt. Wie etwa beim "Röstigraben". Gemeint ist damit der Kultur- und Mentalitätsunterschied zwischen deutschsprachigen und französischsprachigen Landesteilen. Ingrid Mion aus Sankt Gallen erklärt es so:
"Die Rösti ist ein Nationalgericht aus der Deutschschweiz, geriebene, gebratene Kartoffeln. Und irgendwann wird jemand dieses Wort erfunden haben, um aufzuzeigen, dass halt da, wo die Rösti gegessen wird und da, wo sie eine andere Mahlzeit haben - nicht die Rösti -, dass da ein Graben ist. Aber nicht nur im Essen, sondern ein Graben ein bisschen im Denken, im Fühlen, im Entscheiden, im Wählen. Man sieht es auch an den Wahlen. Die sind anders. Es ist nicht dieselbe Mentalität, auch wenn wir im selben Land leben."
Ingrid Mion sagt, dass die Wahlen anders seien. Was sie aber meint, sind die Ergebnisse der Wahlen. Leichte Ungenauigkeiten im sprachlichen Ausdruck sind in der Schweiz gang und gäbe. Man geht drüber hinweg, schließlich weiß ja jeder, was gemeint ist. Denn darum geht es, um das "sich verständlich machen", das ist der pragmatische Umgang der Schweizerinnen und Schweizer mit Sprache.
Pragmatismus, spielerische Offenheit, wenn es darum geht, neue und andere Elemente in die eigenen Sprachen aufzunehmen – ein Laissez-faire - all das zeichnet die Schweizer sicher aus.
Mehrsprachigkeit bleibt ein heißes Eisen
Richtig ist aber auch: Die Mehrsprachigkeit, genauer, die Gleichwertigkeit aller Schweizer Sprachen, ob nun von einer Mehrheit oder Minderheit gesprochen, ist und bleibt ein heißes politisches Eisen. Weil es mit Identität und Zusammenhalt zu tun hat. So schwelt etwa seit Jahrzehnten der sogenannte Sprachenstreit. Dabei geht es um Versuche in deutschsprachigen Kantonen, die gesetzliche Verpflichtung, zwei Fremdsprachen in der Primarschule zu unterrichten, abzuschaffen. Vor allem die französischsprachigen Schweizer fürchten, dass Französisch dann zugunsten von Englisch aus dem Lehrplan der dritten Klasse verschwinden könnte. Von Italienisch ganz zu schweigen, fügt Cecilia Origoni hinzu:
"Ich liebe Sprachen und Identitäten. Und gerade weil die Schweiz so reich an verschiedenen Kulturen und Sprachen ist, verstehe ich nicht, wieso dann auf eine Sprache zurückgegriffen wird, die nichts mit unseren Kulturen und unserer Identität zu tun hat. Das ist absurd und respektlos. Englisch hat rein gar nichts mit uns zu tun, mit unserer besonderen Identität, in der verschiedene Sprachen existieren, sich gegenseitig beeinflussen und eine Mischung ergeben."
Die "Swissness" der jüngeren Generation
Die italienischsprachigen Tessiner, die frankophonen Bürger in Genf oder Neuchatel und die Rätoromanen im Kanton Graubünden werfen den Deutsch-sprachigen Schweizern einen Mangel an Sensibilität vor und sprechen von einer gewissen Arroganz. Vergleiche mit Belgien, wo die Gräben zwischen flämischer und wallonischer Bevölkerung das Land tief spalten, sind in diesem Zusammenhang aber nicht angebracht. Dazu ist der Minderheitenschutz zu fest in der schweizerischen Verfassung verankert und die Sprachenvielfalt zu sehr Ausdruck von Selbstverständnis und Identität.
Das sei eben "Swissness", wie vor allem die jungen Schweizerinnen und Schweizer sagen. Sie meinen damit: den Willen zu Toleranz, Pragmatismus und Wertschätzung der Eigenheiten jedes Einzelnen. Und "Swissness" zeigt auch: Das Englische nimmt in der multilingualen Schweiz zu - nicht nur unter Jugendlichen, auch in der Politik. Und an der haben ja alle Sprachgruppen gleichberechtigt teil. Denn sie haben "Voice", also Stimme, Mitspracherecht.