Sprechen in Zeiten des Gaza-Kriegs
Welche Aufgaben haben Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen?

Demokratien brauchen Orte, an denen Krisen und Konflikte gedanklich durchdrungen und argumentativ ausgehandelt werden können. Im aktuellen Israel-Gaza-Konflikt jedoch stoßen etwa Universitäten und Forschungseinrichtungen an Grenzen des Möglichen.

Von Teresa Koloma Beck | 07.07.2024
Pro-Palästina Protestcamp mit Zelten und palästinensischer Fahne auf den Wiesen vor dem Hauptgebäude der Universität Köln. Köln, 08.05.2024.
Pro-Palästina Protestcamp mit Zelten und palästinensischer Fahne auf den Wiesen vor dem Hauptgebäude der Universität Köln (IMAGO / Panama Pictures / IMAGO / Christoph Hardt)
Als Reaktion auf den brutalen Angriff der radikalislamistischen Terrororganistaion Hamas am 7. Oktober 2023 ist die israelische Armee in den Gazastreifen einmarschiert. Der bis heute anhaltende Krieg hat - unter anderem in Deutschland - nicht nur bei Demonstrationen auf der Straße, sondern auch an Universitäten und Hochschulen zu Spannungen, Konflikten und vereinzelt auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt.
Diese werden nicht nur im akademischen Feld, sondern auch in Medien und Politik heftig diskutiert. Dass Universitäten und Hochschulen zu Arenen der Auseinandersetzung über internationale politische Konflikte werden, ist dabei zunächst nichts Neues. Es zählt zu den zentralen Aufgaben akademischer Institutionen, krisenhaft unübersichtliche Wirklichkeit zu durchdenken und diskursiv handhabbar zu machen. Und immer wieder gab es in der Vergangenheit Situationen, in denen dabei auch jenseits der Grenzen des gepflegten akademischen Diskurses gestritten wurde.
In der aktuellen Situation jedoch ruft die Austragung des Konflikts nicht nur unterschiedliche politische Positionen auf, sondern auch Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung. So stehen Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen derzeit vor einer doppelten Herausforderung: Sie müssen Gespräch, Auseinandersetzung und auch Kontroverse ermöglichen – und gleichzeitig Hochschulangehörige vor Diskriminierung schützen. Der Essay leuchtet dieses Problemfeld aus und diskutiert dessen Bedeutung im Horizont einer zunehmend pluralen Gesellschaft. 
Teresa Koloma Beck ist Soziologin und beschäftigt sich mit Globalisierungsprozessen und dem Alltag in sozialen und gesellschaftlichen Krisen. Dabei interessiert sie sich besonders für die Bedeutung kolonialer und imperialer Geschichte in den Gegenwartsgesellschaften. Sie ist Professorin für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Für ethnographische Forschung war sie in Angola, Mosambik und Afghanistan. Immer wieder ist sie auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms unterwegs als Expertin in politischen, künstlerischen und zivilgesellschaftlichen Praxisfeldern.

Als mich Anfang Oktober 2023 die Nachrichten über die Massaker der Hamas und die daran anschließende israelische Offensive im Gazastreifen erreichten, arbeitete ich als wissenschaftliche Leiterin in einem europäischen Netzwerkprojekt mit Kultur- und Kreativschaffenden. Das Netzwerk war weit über Europa gespannt. Und der Kreis der Beteiligten spiegelte europäische Geschichte in all ihrer Komplexität wider, insbesondere auch die Verflochtenheit des Kontinents mit dem Rest der Welt. Rasch war klar, dass die Gewalt im Nahen Osten in diesem Arbeitszusammenhang eine Erschütterung auslösen würde. Denn die Netzwerkbeteiligten hatten biografische und familiengeschichtliche Bezüge zur jüdischen Geschichte, zur Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens, zur Geschichte jüngerer Kämpfe um nationale Selbstbestimmung und Demokratie, aber auch zur Aufarbeitung imperialer und kolonialer Gewalt. Zudem berührte der bewaffnete Konflikt in Nahost universalistische Prinzipien, die im Netzwerk insgesamt eine wichtige Rolle spielten. In diesem Arbeitszusammenhang waren also viele von den Entwicklungen betroffen, jedoch zum Teil aus sehr unterschiedlichen Perspektiven.
Aus Sicht der Verantwortlichen stellten sich in diesem Moment drängende Fragen. Hier drohte ein politischer Konflikt in die Organisation einzubrechen. Wie war es möglich, dieser Situation angemessen zu begegnen? Wie ließ sich der Erschütterung Raum geben und gleichzeitig den verschiedenen Vulnerabilitäten der Beteiligten Rechnung tragen? Wie konnte verhindert werden, dass der politische Konflikt die Organisation selbst erfasste und die vertrauensvolle intensive Zusammenarbeit aufs Spiel setzte?
Ein kurzfristig organisiertes Austauschformat, das es ermöglichen sollte, unterschiedliche Erfahrungen zu teilen, erwies sich als guter Einstieg in Gespräche, die sich bis zum Projektende im Dezember desselben Jahres fortsetzten. Die dabei verhandelten Fragen haben mich wissenschaftlich seitdem begleitet. Auf welche Weise betrifft der geografisch weit entfernte bewaffnete Konflikt im Nahen Osten Menschen hier? Wie wirkt sich diese Betroffenheit in bestimmten Arbeitszusammenhängen aus? Und wie können Organisationen in dieser Situation den Bedürfnissen ihrer Mitglieder gerecht werden und gleichzeitig handlungsfähig bleiben?
Ausgesprochen dringlich stellen sich diese Fragen in zwei gesellschaftlichen Bereichen, die in den letzten Monaten zu herausgehobenen Arenen der Auseinandersetzung um das Konfliktgeschehen geworden sind: der Kunst- und Kulturbetrieb sowie die Wissenschaft.
An Universitäten und Forschungsinstituten, in Theatern, Ausstellungshäusern und auf Festivals sorgt die Gewalt in Gaza und Israel in besonderem Maße für Unruhe. Dabei besteht Einigkeit darüber, dass dieser bewaffnete Konflikt für Israelis wie für Palästinenserinnen und Palästinenser immenses Leid hervorruft. Umstritten ist jedoch die Legitimität der israelischen Kriegsführung und auch die Rolle, die Akteure außerhalb der Konfliktregion spielen und spielen sollten. Die Kontroversen kreisen um Fragen der Verantwortung und der Komplizenschaft, um die Aufgaben nationaler oder internationaler Politik, um Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit, sowie um die Rolle bestimmter Institutionen und Organisationen. Debattiert wird zudem, wie all diese Themen überhaupt gesellschaftlich verhandelt werden können.
Auseinandersetzungen über diese Fragen werden in verschiedenen Institutionen und gesellschaftlichen Bereichen geführt. Doch im Wissenschafts- und Kulturbetrieb scheint die Lage besonders angespannt. Das liegt nicht nur an den eben beschriebenen organisationsinternen Herausforderungen, sondern auch an Faktoren im gesellschaftlichen Umfeld. Dazu zählt nicht zuletzt eine diskursive Atmosphäre, die zwischen Sprachlosigkeit auf der einen und Furor auf der anderen Seite oszilliert. Während viele angesichts der Ereignisse und Entwicklungen noch immer um Worte und Sätze ringen, die ihren Erfahrungen und Empfindungen Ausdruck verleihen könnten, tosen in öffentlichen Debatten immer neue Stürme diskursiver Eskalation, die von interessierten Akteuren bewirtschaftet werden. Zumeist drehen sich diese jedoch nicht um das Kriegsgeschehen selbst. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, wie legitimerweise darüber zu sprechen ist; wer unter welchen Bedingungen an diesem Gespräch teilhaben darf; und vor allem auch: wer unbedingt davon ausgeschlossen werden sollte. Die schärfste Waffe in diesen Auseinandersetzungen ist der Vorwurf des Antisemitismus. Und sie kann potenziell jede und jeden treffen, die oder der die Kriegsführung der israelischen Regierung kritisiert, sich für einen sofortigen Waffenstillstand oder die Einhaltung von Menschenrechten einsetzt - nicht nur Teilnehmende von Demonstrationen und Protestaktionen, auch jüdische Intellektuelle, internationale Gerichte oder Teilorganisationen der Vereinten Nationen. So gerät öffentliches Nachdenken, Sprechen und Schreiben über diesen bewaffneten Konflikt zunehmend unter Druck. Für Organisationen im Kultur- und Wissenschaftsbereich ist dies besonders folgenreich, besteht ihre Aufgabe doch nicht zuletzt darin, öffentliche Diskurse anzuregen und zu unterhalten.

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Doch auch für den breiteren gesellschaftlichen Kontext sind diese Entwicklungen einschneidend. Denn Gesellschaften, die sich selbst als offen und demokratisch verstehen, sind in besonderem Maße auf eine funktionierende Öffentlichkeit angewiesen. Sie bringen Menschen und Erfahrungen zusammen, die nicht homogen, sondern vielfältig sind. Die Pluralität öffentlicher Debatten ist hier deshalb ein wichtiges Grundprinzip. Eine gemeinsam geteilte Welt entsteht nur dort, wo im Raum des öffentlichen Sprechens, Schreibens und Handelns möglichst viele Erfahrungen aufgehoben sind. Wenn die Artikulation bestimmter Erfahrungen systematisch aus dem Raum der Öffentlichkeit gedrängt wird, steht dieser gemeinsame Grund auf dem Spiel.
Organisationen im Wissenschafts- und Kulturbetrieb müssen deshalb nicht nur mit den eben beschriebenen internen Herausforderungen umgehen, sondern auch mit Bekenntnis- und Positionierungsdruck, der teils von innen, vor allem aber auch von außen an sie herangetragen wird. Sie müssen den Bedürfnissen der Organisationsangehörigen gerecht werden und gleichzeitig in einer extrem polarisierten gesellschaftlichen Debattenlage die Legitimität ihrer Arbeit sichern, beweisen und verteidigen.
Das ist keine leichte Aufgabe. Denn die aktuelle Situation produziert für Organisationen und Individuen, aber auch für die Gesellschaft insgesamt Herausforderungen, die im engeren Sinne neu sind.
Aber warum sind diese Herausforderungen eigentlich „neu“?
Kriege und bewaffnete Konflikte gelten üblicherweise als Angelegenheit der Politik, jedenfalls dann, wenn sie sich nicht direkt vor der eigenen Haustür abspielen. So wird auch der aktuelle Krieg in Nahost vor allem als politisches Problem thematisiert, das nach politischen Lösungen verlangt. Und auch die Spannungen und Konflikte, die dieser Krieg hier auslöst, werden als politische Probleme gerahmt, die in die Zuständigkeit etwa des Kultur-, Wissenschafts- oder Innenressorts fallen.
Diese Lesart verschleiert, dass das Kriegs- und Gewaltgeschehen nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale und gesellschaftliche Dimension hat. Und gerade um zu verstehen, wie dieses weit entfernte Kriegsgeschehen so einschneidende Effekte hier hat, ist diese soziale und gesellschaftliche Dimension der Konfliktkonstellation von größter Bedeutung. Die eben erwähnten neuartigen Herausforderungen, die dieser Krieg aufwirft, entstehen vor allem in dieser Dimension. Neu ist nicht nur das Ausmaß und die Intensität von Gewalt und Leid in Israel, im Gazastreifen und dem besetzten Westjordanland. Neu ist vor allem auch die Art und Weise, in der sich dieses weit entfernte Kriegs- und Konfliktgeschehen hier - oder anders formuliert: bei uns - artikuliert.
Die Debatten und Auseinandersetzungen über diesen Krieg finden im Kontext dichter und vielfältiger Verflechtungen zwischen Deutschland und der Konfliktregion statt, die - wie eben erwähnt - eben nicht nur politischer oder wirtschaftlicher Natur sind, sondern vor allem auch gesellschaftlich. Zudem zeigt sich in der aktuellen Situation, wie vielfältig die Bevölkerung der Bundesrepublik geworden ist. In einem Land, in dem jede fünfte - und unter jungen Menschen sogar jeder dritte - eine jüngere Migrationsgeschichte hat, sind verschiedene Perspektiven auf Weltgeschichte und Weltpolitik gleichzeitig präsent. Und so kommt es, dass Konflikte und Krisen anderswo in der Welt sich bisweilen sehr deutlich auch hier niederschlagen.
In Ansätzen ließ sich dies bereits in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine beobachten, der für viele näher als andere bewaffnete Konflikte an die persönliche Erfahrung heranrückte. Das lag nicht nur daran, dass die ukrainische Grenze anders als Syrien, Afghanistan oder der Sudan in wenigen Stunden Autofahrt zu erreichen ist. Es war auch darauf zurückzuführen, dass 4,5 Millionen Menschen mit jüngerer eigener oder familiärer Migrationsgeschichte aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in der Bundesrepublik zuhause sind. Hinzu kommt, dass im Zuge der politisch vorangetriebenen und vor allem zivilgesellschaftlich getragenen Versöhnungsarbeit ab den 1990er Jahren ein dichtes Netz von Austausch- oder Kooperationsbeziehungen entstanden war. In den ostdeutschen Ländern kamen Verbindungen aus der Zeit vor dem Mauerfall hinzu. Aufgrund dieser engen Verflechtungen wurde dieser Krieg für sehr viele Menschen unmittelbar alltagsrelevant. Es gab Betroffenheit - nicht nur bei denen mit familiären Bezügen in die Konfliktregion, sondern auch bei allen, die aktuell oder in der Vergangenheit in berufliche oder zivilgesellschaftliche Kooperationszusammenhänge eingebunden waren. Und auch Menschen mit engem Kontakt zu den eben Genannten hatten an dieser Betroffenheit teil.
Die Auseinandersetzungen über die aktuelle Gewalt im Nahen Osten sind durch ähnliche soziale und gesellschaftliche Dynamiken geprägt. Es gibt enge und vielfältige Verflechtungen. Allerdings greifen sie in diesem Fall in sehr unterschiedliche Richtungen aus, was Konfliktpotenzial erzeugt.
Ein erster wichtiger Motor für die Entstehung dieser Verflechtungen waren staatliche Initiativen, etwa im Bereich der Wirtschafts- oder der Wissenschaftskooperation, die bereits ab den 1950er Jahren aufgebaut wurden. Nach der Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel 1965 intensivierte sich dieses Engagement. Für das Selbstverständnis Nachkriegsdeutschlands hatten diese Kooperationen eine wichtige symbolische Dimension. Denn die Unterstützung des entstehenden jüdischen Staates demonstrierte die Abkehr von der politischen Ideologie des Nationalsozialismus und unterstrich das Ansinnen, fortan Teil der westlichen Staatengemeinschaft sein zu wollen.
Doch erschöpft sich die Verflechtungsgeschichte mit der Konfliktregion nicht in diesen politisch beförderten Kooperationen. Hinzu kommen enge gesellschaftliche Verbindungen. Bereits seit den 1960er Jahren stellt die Bundesrepublik einen wichtigen Standort für die palästinensische Diaspora dar. Seit Anfang der 2000er Jahre gibt es zudem eine wachsende community jüdischer Israelis im Land. Ab Anfang der 2010er Jahre wurde Deutschland außerdem zum Ort des Exils für viele Kunstschaffende, Intellektuelle und politische Aktivistinnen und Aktivisten aus anderen Staaten der Großregion, die in den Bewegungen des Arabischen Frühlings aktiv gewesen waren und nach der autoritären Wende dort ihre Heimatländer verlassen mussten.
Aufgrund dieser Verflechtungen hat das Kriegsgeschehen in Gaza und Israel auch hier massive Effekte. Es übersetzt sich in Konflikte, die nicht nur von Fachpolitikern und -politikerinnen verhandelt werden, sondern in den Alltag ausgreifen. So ist dieser entfernte Krieg für besonders viele Menschen mehr als ein abstraktes news item. Zwar nehmen die meisten auch diesen Gewaltkonflikt primär als medial vermitteltes Phänomen war. Doch gibt es vielfältige biografische, familienbiografische und institutionelle Bezüge, die dafür sorgen, dass Menschen von dem, was in Gaza, in Israel oder der Westbank geschieht, auf höchstpersönliche Weise getroffen sind. Sehr viel häufiger als in vielen anderen Konflikten überschneiden sich in der Beobachtung des Kriegsgeschehens welthistorische und weltpolitische Aspekte mit Lebensgeschichten, Familienbiografien und Arbeitsprozessen in Organisationen. Es gibt kaum jemanden, der nicht auf die eine oder andere Weise mit dem Geschehen verbunden ist. Doch sind die Perspektiven verschieden.
Da gibt es erstens Verbindungen, die durch direkte familiäre oder berufliche Bezüge nach Israel, Gaza oder die Westbank entstehen, durch Sorge um Angehörige, Freunde, Kolleginnen oder Kooperationspartner auf der einen oder anderen Seite des Konflikts, die verletzt, als Geiseln gefangen genommen oder inhaftiert wurden, die geflüchtet sind oder umgesiedelt werden mussten. Und: durch Trauer um die Toten.
Verbunden-Sein entsteht jedoch zweitens auch dadurch, dass Menschen, ganz unabhängig von konkreten persönlichen Bezügen in die Region, der einen oder anderen Konfliktpartei zugerechnet werden. So etwa wenn Palästinenserinnen, Araber oder Musliminnen in Deutschland aufgefordert werden, sich zu den Taten der Hamas zu verhalten; oder Jüdinnen und Juden gleich welcher Staatsbürgerschaft sich für die israelische Kriegsführung rechtfertigen sollen.
Drittens erzeugt aber auch die erfolgreiche Sozialisierung in die institutionalisierte Erinnerungskultur der Bundesrepublik ein Verbunden-Sein mit dem Geschehen. Denn diese kreist um die Idee, dass die Nachfahren der Täter und Täterinnen des Holocaust heute besondere Verantwortung gegenüber den Opfern und deren Nachfahren tragen. Diese Verantwortung artikuliert sich nicht nur auf politischer Ebene, sondern gilt als höchstpersönliche Angelegenheit und einem daraus resultierenden Auftrag. Dieser verlangt Arbeit am Selbst und soll über die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen National- und Familiengeschichte zu einer authentischen Verpflichtung auf demokratische Werte führen.
Diese verschiedenen Formen des Verbunden-Seins erzeugen unterschiedliche Perspektiven auf das Kriegsgeschehen. Doch schließen sie einander nicht aus. In Familienbiografien beispielsweise können unterschiedliche Bezüge gleichzeitig aufgehoben sein. Und die Erinnerungskultur der Bundesrepublik verpflichtet nicht nur die Nachfahren der Täterinnen und Täter des Nationalsozialismus, sondern berührt alle, die ein paar Jahre im deutschen Schulsystem verbracht haben - auch dann, wenn die eigene Familiengeschichte mit der Tätergeschichte des NS nichts zu tun hat.
Diese je spezifischen Verbindungen erzeugen nicht zwingend auch eine bestimmte politische Haltung. Doch sorgen sie dafür, dass das Kriegsgeschehen auch außerhalb des Kriegsgebiets Betroffenheit erzeugt. Wenn über die Gewalt in Gaza und Israel gesprochen wird, geht es nie nur um diese Argumente oder jene Agenda, sondern immer auch um persönliche Biografien, um Vorstellungen vom Selbst und den anderen, um sehr grundsätzliche Wert- und Weltvorstellungen und auch um die je eigene Verortung in der Welt.
Für viele gibt es in der Auseinandersetzung mit diesem bewaffneten Konflikt keine Zuschauerplätze. Alle sind vulnerabel, denn für alle steht etwas auf dem Spiel. Für manche geht es dabei um Vorstellungen von sich selbst und der Welt, für andere ums Überleben im engeren Sinne.
Unter solchen Bedingungen zu sprechen, ist riskant. Denn mit den verschiedenen Formen des Verbunden-Seins gehen unterschiedliche Perspektiven auf das Kriegsgeschehen einher, was Konflikt- und Eskalationspotenzial birgt. Vielen Alltagsakteuren ist dies bewusst.
Eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, besteht darin, den riskanten Gesprächsgegenstand einfach zu meiden. Das schützt vor Spannungen und bewahrt alle Anwesenden vor emotional aufreibender Vermittlungs- und Konfliktarbeit. In vielen Alltagskontexten ist die Dethematisierung des Kriegsgeschehens deshalb die Strategie der Wahl.
Allerdings gibt es Kontexte, in denen diese Strategie nicht ohne Weiteres greift. Das ist insbesondere dort der Fall, wo die Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen und Problemen eine zentrale Arbeitsaufgabe darstellt. Dazu zählen Universitäten und Forschungsinstitute, Museen und Festspielhäuser - oder zusammengefasst: viele Einrichtungen des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs. Diese Organisationen und Praxisfelder sind gesellschaftliche Reflexionsinstanzen. Ihnen fällt die Aufgabe zu, gesellschaftliche Prozesse kritisch zu begleiten. Sie sollen Gespräche und Debatten insbesondere auch über jene Probleme und Fragen ermöglichen, die für politische Auseinandersetzungen im engeren Sinne noch zu unübersichtlich und sperrig sind.
So wird in den Organisationen des Wissenschafts- und Kulturbetriebs also nicht nur an Erkenntnis und ästhetischen Ausdrucksformen gearbeitet. Sie sind auch Arenen des öffentlichen Diskurses. Unverständliches, Unverstandenes, Unübersichtliches und Überforderndes denkend zu ordnen ist hier Tagesgeschäft und trägt in entscheidendem Maße dazu bei, dass komplizierte Problemlagen in den Bereich des politisch und gesellschaftlich Besprechbaren überführt werden. Deshalb muss das gemeinsame Sprechen, Denken und Arbeiten hier auch - und gerade - dann ermöglicht werden, wenn es schwerfällt. Die absichtsvolle Dethematisierung eines politisch und gesellschaftlich kontroversen Gesprächsgegenstands stellt in diesen Arbeitskontexten keine Option dar. Sie käme einer Arbeitsverweigerung gleich.
Insbesondere in Zeiten emergenter Krisen ist die Reflexions- und Diskursarbeit, die Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen leisten, besonders relevant. Wenn sich die Gesellschaft neuartigen Herausforderungen gegenübersieht, wenn eingeübte Routinen der kollektiven Bearbeitung von Problemen nicht mehr greifen, wenn deröffentliche Diskurs verstummt oder in Lärm übergeht und die gemeinsam geteilte Welt abhanden zu kommen droht - gerade dann braucht es diese Orte, an denen daran gearbeitet wird, eine unübersichtliche und bisweilen unerträgliche Gegenwart neu in den Blick zu holen und öffentliche Diskurse neu zu konfigurieren.
Wer Hochschulen, Theater und ähnliche Einrichtungen nur aus der Ferne kennt, mag aktuell zweifeln, inwiefern sie diese Aufgaben tatsächlich erfüllen. Wenn in der Berichterstattung der letzten Monate von Auseinandersetzungen mit dem Nahostkonflikt in Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen die Rede war, dann ging es zumeist um abgesagte Veranstaltungen und Preise, um ausgeladene Intellektuelle und Künstlerinnen, um offene Briefe, besetzte Hörsäle oder eskalierende Protestaktionen. So scheint es, als würden, die betreffenden Arbeitskontexte wenig zu einer differenzierteren Auseinandersetzung beitragen, als arbeiteten sie nicht an Lösungen, sondern seien selbst das Problem.
Dass dieser Eindruck entsteht, ist jedoch genau darauf zurückzuführen, dass Organisationen im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb versuchen, der ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Aufgaben nachzukommen. Während der Politikbetrieb und auch Teile der Medien das Konfliktgeschehen in vertrauten Begriffshorizonten der Außen- und Innenpolitik ordnen, werden hier die radikal neuen Herausforderungen der gesellschaftlichen Konstellation reflektiert. Hier wird thematisiert, was dieser Konflikt in einer Gesellschaft bedeutet, die demokratisch und plural ist - plural insofern die Bevölkerung eine Vielfalt historischer Erfahrungen widerspiegelt; und demokratisch, weil sie im aufklärerischen Versprechen gründet, dass die Vielen hier als Gleiche zusammenkommen können. Innerhalb von Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen werden diese Auseinandersetzungen nicht nur auf diskursiver Ebene geführt in wissenschaftlichen oder künstlerischen Praktiken. Sie artikulieren sich auch auf der Ebene der Organisation. Prozesse der wissenschaftlichen oder künstlichen Reflexion des Kriegsgeschehens sind begleitet von Konflikten darüber, wie diese Reflexionsprozesse in der Organisation stattfinden können und sollten, um verschiedenen Perspektiven, der Vulnerabilität der Beteiligten, aber auch den normativen Prinzipien, auf die sich die Organisation verpflichtet hat, gerecht zu werden. Konflikte um diese entstehen innerhalb der Organisation selbst. Durch politische Interventionen und mediale Diskurse werden sie zudem von außen in sie hineingetragen. Nicht immer ist dabei genuine Sorge um vulnerable Gruppen das treibende Motiv. Interveniert wird auch deshalb, weil die demokratische Pluralität, der hier versucht wird, ins Leben zu verhelfen, keineswegs den Gesellschaftsvorstellungen aller entspricht.
Besondere öffentliche Aufmerksamkeit gilt in diesen Auseinandersetzungen dem Thema Antisemitismus, für das in Deutschland aus bekannten und guten Gründen eine besondere Sensibilität besteht. Dass die Beschäftigung mit dieser Form der Diskriminierung und den damit einhergehenden Vulnerabilitäten dringlich ist, lässt sich aktuell in vielen gesellschaftlichen Bereichen beobachten - auch in wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeitszusammenhängen.
Verkompliziert wird die Lage allerdings dadurch, dass im politischen Betrieb und auch in Teilen des medialen Diskurses zunehmend mit einem Verständnis von Antisemitismus gearbeitet wird, das die Grenzen zwischen Diskriminierung einerseits und der Positionierung in einer kontroversen politischen Konfliktsituation andererseits verschwimmen lässt. Als antisemitisch gilt nicht nur diskriminierendes, vorurteilsbeladenes oder gewaltvolles Sprechen oder Handeln gegenüber Jüdinnen und Juden in ihrer Eigenschaft als Jüdinnen und Juden. Als antisemitisch gelten zunehmend auch politische Positionen, die die Kriegsführung und Politik der israelischen Regierung kritisieren.
Dieses Verständnis von Antisemitismus stellt einen engen Zusammenhang zwischen dem Staat Israel einerseits und Jüdinnen und Juden weltweit, Judentum und Jüdisch-Sein andererseits her. Formalisiert worden ist es in der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, kurz IHRA. „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann,“ heißt es dort zunächst eher allgemein; zur Erläuterung folgen dann elf Beispiele, von denen sich sieben auf Fälle des Sprechens über Israel beziehen. Obwohl sie ursprünglich entwickelt worden war, um stärker für mögliche Erscheinungsformen von Antisemitismus zu sensibilisieren, wird diese Begriffsbestimmung zunehmend als Grundlage verbindlicher Entscheidungen in Politik und Verwaltung herangezogen. Dass diese Arbeitsdefinition in einer Reihe anderer Definitionsvorschläge steht, dass sie nie als rechtsverbindlicher Text formuliert war und dass gegen eine Implementierung in diesem Sinne erhebliche verfassungs- und verwaltungsrechtliche Bedenken bestehen, hat daran kaum etwas geändert.
Bereits vor dem 7. Oktober 2023 war zu beobachten, wie sich dadurch Räume des Sprechens, Schreibens und Arbeitens über die Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts verengten. In der aktuellen Situation macht das Bestehen auf allein dieser Definition die Auseinandersetzung mit der politischen Dimension des Kriegsgeschehens nahezu unmöglich. Wo bestimmte Perspektiven auf den Konflikt systematisch als antisemitisch klassifiziert und diejenigen, die sie einbringen, des Diskursraums verwiesen werden, entsteht kein Dialog, sondern nur Selbstgespräch.
Damit im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb und auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Debatten- und Organisationskultur entstehen, in der die vorhin beschriebenen vielfältigen Formen der Betroffenheit angemessen aufgehoben sind, ist die Auseinandersetzung mit Antisemitismus unerlässlich. Denn wie auch wissenschaftliche Studien immer wieder zeigen, gibt es kein soziales und auch kein politisches Milieu, das gegen Antisemitismus immun wäre. Doch ein Verständnis, das es nicht erlaubt, hinreichend zwischen Diskriminierung und Positionierung in einem politischen Konflikt zu unterscheiden, trägt wenig zum Umgang mit diesem drängenden Problem bei. Es schafft zusätzliches Konfliktpotenzial, bindet Ressourcen und Energien und wird so weder dem politischen Konfliktgeschehen gerecht noch den Anliegen der Antidiskriminierung.
Dabei werden aktuell alle verfügbaren Kräfte gebraucht. Denn Räume für gemeinsames Sprechen und Arbeiten über den Konflikt und die Gewalt im Nahen Osten herzustellen ist, wie bereits ausgeführt, eine alles andere als triviale Aufgabe, die im Wissenschafts- und Kulturbetrieb mit besonderen Herausforderungen einher geht. Denn die Organisationen in diesen Arbeitsfeldern sind häufig durch ein hohes Maß an Internationalisierung und Diversität geprägt. Im Hochschulbereich kommt hinzu, dass hier junge Menschen den mit Abstand größten Teil der Organisationsangehörigen ausmachen und somit der Alltag nicht nur durch kulturelle und politische, sondern auch durch generationale Vielfalt geprägt ist. Infolgedessen ist die spannungsreiche Vielfalt persönlicher Bezüge zum Konfliktgeschehen in Nahost sowohl im Kultur- als auch im Wissenschaftsbetrieb häufig besonders deutlich ausgeprägt. Die Gleichzeitigkeit verschiedener und zum Teil unvereinbarer Perspektiven in einem Umfeld, in dem das Beschweigen schwieriger Sachverhalte keine selbstverständliche Option ist, erzeugt Konfliktpotenzial, dem aktiv begegnet werden muss.
So stehen viele Wissenschafts- und Kultureinrichtung heute vor einer doppelten Herausforderung: Sie müssen kollektive Arbeits- und Reflexionsprozesse über den Krieg, die Gewalt und die politischen Konflikte im Nahen Osten ermöglichen; und gleichzeitig müssen sie dafür Sorge tragen, dass die Organisation von allen in sie Involvierten als sicherer Ort des gemeinsamen Nachdenkens, Arbeitens und Lernens erlebt werden kann. Notwendig sind Prozesse der Organisationsentwicklung und des Kompetenzaufbaus, die in der Einsicht gründen, dass in der aktuell angespannten Situation die Qualität der Arbeit nicht zuletzt von Praktiken der Fürsorge innerhalb der Organisation abhängt, die alle Organisationsmitglieder in den Blick nehmen. Mancherorts lässt sich dabei an Erfahrungen in der Antidiskriminierungs- und Inklusionsarbeit der letzten Jahre anknüpfen. Doch müssen Kompetenzen, Kapazitäten und Ressourcen überall massiv ausgebaut werden.
Kultur- und Wissenschaftspolitik sollte diese Prozesse entschieden und nachhaltig unterstützen. Denn was hier auf dem Spiel steht, ist mehr als die Wiederherstellung eines störungsfreien Ablaufs künstlerischer oder wissenschaftlicher Produktion. Hier wird an neuen Konstellationen des Miteinanders unter Bedingungen der Multiperspektivität und Vielstimmigkeit gearbeitet, an den sozialen und diskursiven Grundlagen einer pluralen Demokratie, und damit auch der Zukunft dieser - unserer - Lebensform.