Als die junge Annie Sullivan mit der blinden und taubstummen, damals sechs Jahre alten Helen Keller an einer Wasserpumpe steht und das Kind ertasten lässt, wie ihre Hände Zeichensprache formen, legt sich in Helens Kopf plötzlich ein Schalter um. Auf einmal versteht sie Konzepte wie Wasser, und kann von diesem Moment an mit ihrer Lehrerin kommunizieren. Die meisten Verfilmungen und Adaptionen von Kellers Geschichte enden an genau dieser Stelle. Aber nicht die von Joseph Lambert.
"Nur weil Annie und Helen diesen Durchbruch hatten, ist die Geschichte ja nicht zwangsläufig zu Ende. Das ist zwar ein wichtiger und inspirierender Moment, aber kein Happy End wie in einem Märchen."
Für Lambert, einen junger Comiczeichner aus Vermont im Nordosten der USA, fängt Kellers Geschichte damit erst an.
"Es hat sich eine Tür geöffnet, und dahinter befinden sich Schwierigkeiten und Herausforderungen. Dieser Moment war einfach die Grundlage der Bindung zwischen Helen und Annie, deshalb ist er wichtig."
Großen Wert auf historische Genauigkeit gelegt
Aus "Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller", dem Titel von Lamberts erster Graphic Novel, ist im Deutschen "Sprechende Hände - die Geschichte der Helen Keller" geworden. Ganz treffend ist die Übersetzung nicht, denn Sullivan ist die Hauptfigur, die Erzählerin und ein wichtiger Grund, warum "Sprechende Hände" so außergewöhnlich ist. Angefangen hat der Comic als Projekt an der Akademie, dem Center for Cartoon Studies. Mittlerweile wurde er in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat den prestigeträchtigen Eisner-Award gewonnen. Einer der Gründe ist sicher, dass Lambert großen Wert auf historische Genauigkeit gelegt hat.
"Fakten sind das was im Theaterstück oder Film fehlt. Normalerweise bleibt nur die Essenz der Geschichte übrig. Dabei sind es gerade die Details, die sie so menschlich und so außergewöhnlich machen, weil sie sie in der Realität verankern."
Zum ersten Mal ist Lambert der Geschichte als Kind begegnet, als er seinem Großvater beim Bau von Theaterkulissen geholfen hat. Als Enkel eines Bühnenbauers hatte er Gelegenheit, Stücke immer wieder zu sehen - und aus einem Stück über Keller ist besonders eine Szene hängen geblieben:
"Helen ist es gewohnt mit den Händen zu essen, aber Annie zwingt sie, eine Gabel zu benutzen. Im Stück ist die Szene fast schon quälend lang, und dass die beiden so intensiv miteinander ringen zeigt, wie leidenschaftlich und stur sie beide sind."
Zeichenstil hat eine Art Eigenleben
Auffällig sind nicht nur die Unterschiede zu anderen Versionen der Geschichte - Lambert beginnt und endet an anderen Stellen und setzt andere Schwerpunkte - sondern auch der Kontrast zu seinen sonstigen Arbeiten. Sein Indie-Comic "I Will Bite You" beispielsweise könnte kaum verschiedener sein, vor allem visuell.
"Mein Zeichenstil hat eine Art Eigenleben, er entwickelt sich in unterschiedliche Richtungen, angestoßen von meinem Geschmack und meinem jeweiligen Interesse. Ich wollte dass die Zeichnungen vereinfacht und ausdrucksvoll, aber nicht übertrieben sind. Ich finde aber auch, dass der Stil des Helen Keller-Buchs nicht immer aus einem Guss ist."
Tatsächlich setzt er in einigen Szenen die Bildsprache des Comics nicht optimal ein. Dort benutzt er Text, um auszudrücken, was Komposition, Farben und Gesichtsausdrücke eleganter vermitteln könnten. Fantastisch sind dagegen die minimalistisch gestalteten Seiten, die Helens Perspektive zeigen. Sie sind inspiriert von ihrer Autobiografie "The Story of my Life".
"Sie bezeichnet sich selbst, bevor sie Annie kennenlernt, als Phantom. Sie nennt sich "Phantom-Helen", und ein Geist, ein fast völlig formloses Selbstbild, war die Inspiration für diese Art Piktogramm."
Geschichte aus Briefen rekonstruiert
Vor allem erzählt sprechende Hände die Geschichte aber aus Annie Sullivans Sicht, die Lambert unter anderem aus ihren Briefen rekonstruiert hat.
Zitat (Annie Sullivan): "Helens Bedürfnis nach Wissen ist groß und ihre Fragen sind nie nervtötend - auch wenn sie mein bescheidenes Wissen sehr herausfordern. Wäre ich für meine Aufgabe nur besser geeignet. Ich fühle mich von Tag zu Tag unfähiger. Wie Helen brauche ich einen Lehrer."
"Viele dieser Briefe waren noch erhalten und einiges davon habe ich im Wortlaut übernommen. Sie hat zwei oder drei Lehrern geschrieben, aus denen hab ich im Comic einen gemacht."
"Sprechende Hände" wirkt zum größten Teil authentisch und glaubwürdig, und das liegt nicht zuletzt an Sullivans Erzählstimme. Vor allem aber schafft es Joseph Lambert, eine Geschichte, um die sich im Lauf der Jahre viele Legenden gebildet haben, sachlich und gleichzeitig mit viel Leidenschaft neu zu erzählen. Trotz seiner Schwächen ist "Sprechende Hände" unbedingt lesenswert. Eine Frischzellenkur für eine abgenudelte Geschichte, erzählt von einem Autor, den man unbedingt im Auge behalten sollte.