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Sprechtheater über menschlich Verschollenes

Der See Wastwater liegt immer ein bisschen im Schatten, egal wie schön das Wetter ist. Wastwater im Norden der Insel ist der tiefste See Englands, so tief, dass man darin allerlei vermuten kann: Verborgenes, Verschollenes, Verstecktes. Simon Stephens hat deshalb Wastwater als Sinnbild für sein Stück gewählt. Jetzt hat Dieter Giesing es in der Kölner Halle Kalk inszeniert.

Von Dina Netz | 08.04.2012
    Früher war es im Theater so: Auf der Bühne standen Schauspieler, die gepflegt einen Text sprachen und denen das Publikum gebannt lauschte. Inzwischen ist das Publikum oft Teil des Geschehens. Auf der Bühne stehen manchmal Laien, es wird geschrien und viel Blut vergossen.

    In der Kölner Halle Kalk war es jetzt mal wieder ein bisschen wie früher: Der britische Dramatiker Simon Stephens hat ein gut gebautes Stück über sechs Personen und ihre wunden Punkte geschrieben, das Dieter Giesing geradezu altmeisterlich in Szene gesetzt hat.

    "Wastwater" ist ein Triptychon, dessen Teile lose miteinander verbunden sind, die am selben Abend in der Nähe des Londoner Flughafens Heathrow spielen und in denen jeweils zwei Figuren auftreten. In der ersten Szene nehmen Frieda und ihr Pflegesohn Harry Abschied, weil er nach Kanada auswandern wird.

    "FRIEDA:Es regnet nicht mehr.
    HARRY: Ja.
    FRIEDA: Alles ist aufgeweicht. Und immer noch hell, um diese Zeit. Bist Du nicht nass geworden?
    HARRY: Nein, ich hab mich unter die Äste gestellt. Ich hab's mir angeschaut, wie eine Sendung im Fernsehen. Als es richtig gegossen hat, bin ich über den Zaun geklettert und hier reingegangen.
    FRIEDA: Ist dir nicht kalt?
    HARRY: Nein.
    FRIEDA: Soll ich dir einen Pulli holen?
    HARRY: Nein, danke. Wirklich, alles bestens. Mach Dir um mich keine Sorgen. Bitte."

    Harmloses Geplänkel, aber dann rutscht Frieda ein "bitte geh nicht weg" heraus. Und damit ist die Schleuse geöffnet für alle anderen Bekenntnisse: Harry geht vor allem fort, weil er sich die Schuld gibt am Tod seines Freundes Gavin. Frieda sagt über ihren Vater: "Nach seinem Tod hat meine Mutter zugegeben, dass sie ihn viel mehr geliebt hat, als uns." Sätze wie Axthiebe, Einfallsschneisen des Grauens. Das Sprechen darüber bringt sie aber einander nicht näher: Anja Laïs und Carlo Ljubek bleiben an den gegenüberliegenden Enden des Stegs stehen, den Katrin Nottrodt für diese Szene auf die Bühne gebaut hat.

    Das Paar im zweiten Teil von "Wastwater", das von Judith Rosmair und Christoph Luser gespielt wird, verfehlt sich noch gründlicher: Lisa und Mark treffen sich in einem Airport-Hotel zum Seitensprung. Sie sprechen über die Arbeit, über die Einrichtung des Hotelzimmers. Doch dann erzählt Lisa von ihrer Heroinsucht, den Pornofilmen, in denen sie mitgespielt hat. Marks Lust erschlafft, Lisa sitzt vor dem Fernseher.

    Jonathan und seine Frau haben lange vergeblich versucht, Kinder zu bekommen. In ihrer Verzweiflung haben sie eine illegale Adoption angeleiert. Darüber ist offenbar die Ehe zerbrochen, Jonathan wollte raus aus der Nummer, aber nun trifft er auf die Sian, die Vermittlerin.

    "JONATHAN: Wo habt ihr meine Nummer her?
    SIAN: Was glaubst du wohl?
    JONATHAN: Weiß ich nicht. Deswegen frage ich ja.
    SIAN: Alain kennt Stephen Cochrane. Also. Der Groschen fällt. Musst du dich setzen?
    JONATHAN: Nein, danke. Geht schon.
    SIAN: Sieht aber nicht danach aus. Du bist ziemlich blass. So blass wie: "Oh mein Gott, was hab ich denn jetzt schon wieder für eine gottverdammte Scheiße gebaut." Ja? Stimmt's, oder hab ich recht?
    JONATHAN: Mir ist etwas kalt."

    Autorin:Pauline Knof gibt Sian mit süffisanter Kaltschnauzigkeit, demütigt den hilflos-fahrigen Martin Reinke genüsslich. In diesem dritten Teil wird das Dunkle und Unausgesprochene, für das der "Wastwater"-See metaphorisch steht, am deutlichsten spürbar. Die anderen vier Schauspieler kommen ihren Figuren nicht so nahe, lassen stärker die soziale Versuchsanordnung spüren, in die Simon Stephens sie schickt.

    Regisseur Dieter Giesing setzt mit seiner Inszenierung auf Sprech-Theater im Wortsinn: Es wird überwiegend gepflegt gesprochen und wenig getan. Ein guter Theatertext, eine zurückhaltende Inszenierung, die die Bühne den meist überzeugenden Darstellern überlässt – "Wastwater" in Köln ist gutes Handwerk, solide, aber manchmal auch etwas langweilig. Martin Reinke, der am linken Bühnenrand unter den Schikanen Pauline Knofs immer weiter in sich zusammensackt, könnte man allerdings noch stundenlang zusehen.