Viele sind heute da. Sehr viele. 100 vielleicht, 120. Vielleicht sogar 150. Auf jeden Fall sind es mehr als sonst. Sonst führt Christopher Flade nämlich maximal 50 Interessierte, Nostalgiker oder Touristen durch den Spreepark im östlichen Berliner Stadtteil Treptow. Aber heute ist alles anders: "Wat Presse ausmacht... Hach, Wahnsinn!"
Heute ist nämlich nicht wie sonst. Vor ein paar Tagen ging es durch die Presse: Die Stadt Berlin will den Vergnügungspark "Spreepark" nach jahrelangem Hin und Her von den Eigentümern zurückkaufen und wieder eröffnen. Als "hochwertigen Kultur- und Freizeitpark". Dann hätte Christopher Flade seine alte Liebe zwar wieder - sein Baby aber, die Führungen durch den alten, verlassenen Spreepark, das wäre er los. Immerhin: Heute scheint die Sonne, 18 Grad, keine Wolken. Ein letzter unverstellter Blick auf eine der größten Ruinen der Hauptstadt.
Die Schlange der Wartenden kriecht Richtung improvisiertes Kassenhäuschen, einen Sonnenschirm mit Tisch, dahinter ein freundlicher Mann mit silbrig schimmerndem Haar. Ein paar Meter weiter vorne am alten Eingang stehen noch die alten Häuschen aus DDR-Zeiten. "VEB Kulturpark" hieß der Spreepark damals. Der Blick auf die Hütten bringt Gewissheit: Ist schon ne Weile her.
Der VEB Kulturpark wurde am 4. Oktober 1969 eröffnet. Ein Geschenk der Staatsführung für das Volk, zum 20. Geburtstag der DDR. 1989 dann, zum 40. Geburtstag der DDR, wieder ein Geschenk: ein neues Riesenrad. Fünf Meter höher als das alte, rot lackiert, mit 40 statt 36 Gondeln. Es überlebte die Wende und die Neueröffnung des Parks 1992, bis heute.
Der Spreepark ist jetzt vor allem eine Frage der Fantasie
Unsere Gruppe hat sich in Bewegung gesetzt. Christopher Flade vorneweg, Hotelfachmann, 26 Jahre alt und so groß, dass er keinen Tourguideschirm braucht. Ach ja, gebürtiger Westberliner ist er auch noch.
"Sie freuen sich grad so. Würden Sie mir ihren Vornamen verraten? Petra ist heute meine Kulturpark-Assistentin. Ganz einfacher Grund, haben sie im Internet gelesen: Meine Überschrift ist 'Spreepark-Führung', ich kenne den Kulturpark überhaupt nicht. Sollten wir also in den nächsten zwei Stunden irgendeine Frage zum Thema 'Kulturpark' haben, fragen wir vertrauensvoll: Petra!"
Petra hat dann aber doch nichts zu tun. Fragen stellt fast niemand heute. Geht auch kaum. Christopher Flade erzählt einfach so viel. Einerseits. Andererseits ist der Spreepark jetzt, im Jahr 2014, vor allem eine Frage der Fantasie. Vieles ist seit der Schließung des Parks Ende 2001 verschwunden. Geklaut.
"Das ist eine von neun voll bestückten Imbissbuden, die dem Insolvenzverwalter übergeben worden sind. Dass jetzt nach acht Jahren so toller Bewachung kein Geschirr, keine teuren Küchenmaschinen mehr hier drin stehen - ist wahrscheinlich jedem klar. Dönerspieße und Fritteusen waren wirklich das erste, was hier gestohlen wurde. Jetzt sehen sie aber: Es ist gar nichts mehr da. Es gibt keinen Tresen mehr, keine Jalousien, keine Dachplatten, keine Seitenwände, keine Rückwände. Sie haben Recht: Alle diese neun Imbissbuden wurden in dieser Zeit komplett entkernt."
Ja, und wenn man sich so zwischen dem wucherndem Bärlauch, Korkenzieher-Weiden und tristem Gestrüpp umsieht: Nicht nur die Imbissbuden waren begehrt. Sondern auch die Kupferkabel im Boden, der große Springbrunnen in der Parkmitte, alles weg. Sogar ein Autoscooter fehlt. "Und weil wir von Berlin reden, reden wir nicht von einem Auto, sondern selbstverständlich vom kompletten Fahrgeschäft."
Christopher Flades Besuchergruppe lässt diese Anekdote weitgehend kalt. Ein paar Anstandskiekser hier und da, mehr nicht. Warum auch? Das Debakel um den neuen Hauptstadtflughafen setzt ja ständig neue Maßstäbe in Sachen Berliner Wunderlichkeit. Was sind da schon ein paar gestohlene Kabel und ein Autoscooter von einer Brache?
Überhaupt könnte man das ja mal fragen: Welchen touristischen Wert hat so eine Brache wie der Spreepark eigentlich? Ein gut 30 Hektar großes Stück Wald mit bröckelnden Häusern und Fahrgeschäften, eine halbe Stunde mit Bahn und Bus vom Alex entfernt? Wen interessiert das und warum?
Ein mittelgroßer Mann mit sympathisch wirrem, grauen Haar läuft hinter der Gruppe her, sogar noch hinter ihrem Schatten. Jan, so heißt der Mann, ist aus Holland und Fotokünstler. Seine Kamera sieht ein bisschen aus wie eine dieser alten Balgkameras. Ist aber digital, sagt er.
"Ich hatte eigentlich keine besondere Erwartung, als ich hierherkam. Dieser Ort ist schon so oft fotografiert worden, fast schon überfotografiert. Das hat mich neugierig gemacht und ich dachte mir: Ok, dann mache ich mir mal ein eigenes Bild."
Overphotographed. Daran wird wohl auch diese Führung nichts ändern. Mindestens jeder Zweite, den Christopher Flade durch den Park führt, hält einen Fotoapparat in der Hand oder eben ein Smartphone.
"Was ist da denn gerade so spannend? Ach so, 'ne Schiene! Ach, Gott, ´tschuldigung, bin ich an 'ner Schiene vorbei. Ich find auch Schienen am Boden total langweilig. (Einwurf von einem Besucher: Für 'nen Fotografen gibt es nichts Langweiliges.) Ja, ok, 'tschuldigung, ich bin kein Fotograf. Da habe ich gerade nicht dran gedacht. Ne Achterbahn-Schiene in der Luft, dit find ick jetzt ooch noch spannend."
Jetzt regiert morbider Charme
Das mit dem Spannendfinden im Spreepark ist die Krux. Wer den Park von der Zeit vor der Schließung im Jahr 2001 kennt, der hat vielleicht jetzt wieder das Rattern der Achterbahn "Spreeblitz" im Ohr oder sieht die beiden Clowns Hopsi und Hops auf ihrer Diskobühne. Wer aber nicht da war, und das ist die Mehrheit der Besucher heute, der sieht jetzt vor allem eine große, weitgehend leere Fläche. Gespickt mit rostigem Stahl, viel leblosem Holz und trüben Wasserläufen. Morbider Charme, tuscheln die Leute. Was für den Rest Berlins als Beschreibung nur noch bedingt taugt - hier gilt sie:
"Ich denke, das trifft es ganz gut. Vielleicht (...) missglückte Wirtschaftssituation (...) Probleme zwischen Stadt, Land und Unternehmern (...) ein Zeichen der Zeit, nehme ich mal an."
Der junge Mann aus Österreich wohnt in Berlin. Seine Laufstrecke führt ihn mehrmals in der Woche um den Spreepark herum. Durchlaufen ist nicht gestattet. "Privatgrundstück. Betreten verboten", schreien die Schilder am Zaun. 500 Menschen pro Tag pfeifen auf die Schilder. Hausfriedensbruch, Paragraph 123 Strafgesetzbuch. Eigentlich. Manche der Aktionen sind aber auch einfach nur lustig: Einmal haben ein paar Jungs eines der Ausflugsboote in Schwanenform auf der Spree ausgesetzt. Gefunden wurde es dann auf der Mecklenburger Seenplatte. Damit das nicht mehr passiert haben die Eigentümer jetzt Löcher in jeden Schwan gesägt. Allzeit bereit zum Untergehen.
Ohne den Namen Witte ist die Führung durch den Spreepark eben nicht komplett.
Wir machen Halt an der Wildwasserbahn. Kenntnisreich und gut gewürzt erzählt Christopher Flade wieder Details über den Park. Die jahrelange Hängepartie zwischen der Betreiberfamilie Witte, möglichen Investoren und dem Land. Das Parkplatzproblem. Das Umweltschutzproblem. Das Zufahrtsproblem. Der leichte Größenwahn der grauen Eminenz Norbert Witte samt Drogenschmuggel und Gefängnisstrafe. All das füllt inzwischen ein Buch und mehrere Filme. Die Führung bremst das jetzt aber. Die ersten Besucher scharren schon mit der Hufe.
Vorsichtig betreten wir den Kommandostand der Wildwasserbahn. Die Beschriftung: französisch. Die Blicke der Besucher: ratlos. Christopher Flade kennt diese Fragezeichen schon und erklärt: Das Gerät stand vor dem Verkauf nach Berlin in einem Park bei Paris.
Andere Besucher sind mit Selfies beschäftigt. Selbstporträts in den staubigen Booten der Bahn. Im Hintergrund erzählt Christopher Flade weiter tapfer Anekdoten, in denen jetzt doch häufiger der Name der Noch-Eigentümerin, Pia Witte, vorkommt. Eigentlich wollte Flade das nicht. Aber ohne den Namen Witte ist die Führung durch den Spreepark eben nicht komplett.
Ganz langsam nähern wir uns dem Ausgang. Nur noch der Themenbereich Klein-England liegt vor uns. Und das Riesenrad, die umgestürzten Dinosaurier, die tropfende Spielautomatenhölle, ein Spielplatz und die ehemalige Hundetagesstätte des Parks.
Da kriecht die alte Parkbahn um die Ecke. Voll besetzt, drei Euro die Fahrt. Früher gab es mal Zwischenstopps. Das wäre es jetzt.