Die Sprengmeister verrichten ganze Arbeit, damals, vor 50 Jahren. Sie verteilen die Sprengladungen in den Außenwänden und in den Pfeilern der Kirche. 750 Kilogramm Sprengstoff kommen zum Einsatz, es dauert gerade mal sechs Sekunden, um die von Martin Luther geweihte Leipziger Universitätskirche St. Pauli zum kompletten Einsturz zu bringen.
Augenzeugen sind noch heute erschüttert. So, wie eine Leipziger Fotografin, die sich am Morgen des 30. Mai 1968 mit ihrer Kamera und einem Stativ auf dem Vorplatz des Grassi-Museums platziert hat. Viel weiter kommt sie nicht heran an die Kirche, der Platz davor ist weiträumig abgesperrt. Um Punkt 10:00 Uhr dann ein gewaltiger Knall:
"Ich habe dann nur mechanisch auf diesen Auslöser gedrückt und weitergedreht und ich kann mich noch erinnern, dass ich wirklich weiche Knie bekommen habe", erinnert sie sich. "Ohne Stativ hätte ich diese Fotos in dieser Klarheit nicht machen können." Die Zeit des Einsturzes reicht nur für eine Handvoll Fotos, dann ist alles vorbei.
"Ein schrecklicher Moment"
Aus Protest gegen die Sprengung läuten alle Kirchenglocken der Stadt. Augenzeugen erinnern sich:
"Es war mir körperlich schlecht, nachdem ich diese Staubwolke gesehen hatte, und mehr kann ich dazu nicht sagen, und das vergisst man nicht." – "Ein ziemlich schrecklicher Moment. Ein Moment übrigens, der Sekundenhoffnung. Denn nachdem der Knall zu hören war, blieb die Kirche ein knappe Sekunde oder einen Bruchteil von Sekunden noch stehen, so dass ich glaubte und jubelte, die Sprengung sei misslungen. Für einen Moment, doch dann neigte sich als erstes der Dachreiter, dann verzog sich die Rosette, die da an der Front war und dann brach alles in einer riesigen Staubwolke zusammen."
Ironie der Geschichte: Als die 1240 geweihte, ehemalige Dominikanerkirche St. Pauli in einer riesigen Staubwolke versinkt, wird dahinter ein anderer Turm umso besser sichtbar: der Turm der nahegelegenen Nicolaikirche, die Jahrzehnte später in der friedlichen Revolution eine entscheidende Rolle spielen wird.
Den Beschluss zur Zerstörung der Kirche soll SED-Chef Walter Ulbricht bereits 1960 gefasst haben. Als er anlässlich der Eröffnung des neuen Opernhauses in der Messestadt weilt und nach der Vorstellung seinen Blick über den damaligen Karl-Marx-Platz streifen lässt, stößt sich sein Auge an dem unversehrten gotischen Kirchenbau vis-a-vis. "Das Ding muss weg!" soll er ausgerufen haben. Acht Jahre später ist es soweit.
Geistig-intellektuelles Herz der Stadt
Bis zu ihrer Zerstörung war die Universitätskirche ein bedeutender Ort deutschen Geistes- und Studentenlebens: Hier streiten die Gelehrten ihrer Zeit in den "Leipziger Disputationen", hier musizieren Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Johann Sebastian Bach.
Hier schlägt das geistig-intellektuelle Herz einer der ältesten deutschen Universitäten, sagt Rudolf Hiller von Gaertringen, Professor für Kunstgeschichte und Kustos der Universität Leipzig:
"Die Universitätskirche hat in historischer Zeit als ein sehr wichtiger Ort für die Identitätsstiftung der Hochschule gewirkt und ein Stück weit erhoffen wir uns das natürlich auch für die Zukunft."
1992 gründete sich in Leipzig ein Verein, der sich den originalgetreuen Wiederaufbau der Paulinerkirche zum Ziel setzte. Das Vorhaben stieß über viele Jahre auf erbitterten Widerstand in der Stadt aber auch in der Universität Leipzig.
Der Grundstreit entzündete sich an der Frage, ob es richtig und überhaupt notwendig sei, dass die Universität über eine eigene Kirche verfüge. Schließlich handele es sich um einen säkularen Ort, der der Wissenschaft diene, so die langjährige Haltung der Universitätsleitung.
Der Streit mündete nach zähem Ringen in mehreren Architekten-Wettbewerben. Sieger wurde ein Kompromissvorschlag des holländischen Architekten Erick van Egeraat. Der zukünftige Raum sollte als Kirche und Aula gleichzeitig fungieren, getrennt durch eine acht Meter hohe Glaswand, die bis heute umstritten ist.
Streit um die Neugestaltung
Das neue Gebäude am Augustusplatz verhehlt seine historische Herkunft nicht. Es wirkt wie eine Kirche, was auch Beate Schücking, Medizin-Professorin und heutige Universitätsrektorin einräumt:
"Es mutet alles sehr sakral an, also wenn wir ehrlich sind, sieht es ja hier sakraler aus als in der neuen katholischen Kirche, die ein moderner Bau ist."
Die sakrale Anmutung des neu erbauten, sogenannten Paulinums, in dessen kirchlichen Bereich auch 26 wertvolle, restaurierte Original-Epitaphe wieder eingezogen sind, sei kein Wunder, meint hingegen Peter Zimmerling, evangelischer Theologie-Professor und Leipziger Universitätsprediger:
"Es ist eben wahrscheinlich auch die Besonderheit dieses Raumes, was ja früher auch schon so war in der alten Paulinerkirche, die jedenfalls bis 1945 auch gleichzeitig als Aula genutzt worden war. Und es ist eben schwer für uns heute auch verständlich zu machen, auch dieser Hauptraum ist eben sozusagen gleichzeitig Kirche, deshalb auch diese sakrale Anmutung. Es ist eben letztlich wirklich immer beides."
Gestritten wird bis heute über die Rückkehr der noch erhaltenen Original-Kanzel. Sie müsste in der Aula jenseits der Glaswand eingebaut werden und ist manchem ein Dorn im Auge. Ein Klimagutachten soll letztendlich darüber entscheiden.
"Er ist beeindruckend, ich persönlich bin nicht gläubig, aber die kirchliche Architektur ist sehr beeindruckend, und wenn man sie in den Kontext einer Hochschulveranstaltung setzt, wird es auf jeden Fall auch wirken, denke ich", sagt der Jura-Student Felix Fischer.
In den sechs Monaten seit der Eröffnung der neuen Leipziger Kirchen-Aula sind die Gottesdienste und Konzerte so gut besucht, dass die Stühle manchmal nicht reichen. An diesem Mittwoch, dem Jahrestag der willkürlichen Zerstörung der Universitätskirche St. Pauli, lädt die Universität ein zu einem Symposium und die Kirche zu einem großen Gottesdienst. Er beginnt um Punkt 10 Uhr, dem Zeitpunkt der Sprengung vor genau 50 Jahren.