Julian Reichelt habe "Fehler" gemacht - so hatte es der Axel-Springer-Verlag im Frühjahr 2021 formuliert, kurz nach einem Compliance Verfahren gegen den damaligen "Bild"-Chef. Es ging um Machtmissbrauch und sexuelle Verhältnisse zu Mitarbeiterinnen. Nach der Untersuchung durch die Kanzlei Freshfields hob der Springer-Verlag die Suspendierung Reichelts wieder auf, da er weder gegen deutsches Recht noch gegen Unternehmensregeln verstoßen habe.
Im Konzern und bei der "Bild" wähnten viele die Krise daraufhin als überstanden, bis im Oktober eine Recherche der "New York Times" erschien. Der Text legte durch Passagen aus Interviewskripten der Freshfields-Untersuchung offen, dass Reichelts Fehlverhalten um einiges schwerwiegender war, als bislang bekannt gemacht worden war. Der Springer-Verlag und sein CEO Mathias Döpfner zeigten sich überrascht von den Enthüllungen und zogen daraufhin die Reißleine - Reichelt wurde entlassen.
"Financial Times" spricht mit Zeuginnen im Fall Reichelt
Eine neue Recherche der "Financial Times" legt allerdings nahe, dass Springer und Döpfner schon vor Beginn des Compliance-Verfahrens über sämtliche Vorwürfe gegen Reichelt Bescheid wussten - und sich trotzdem bis zuletzt schützend vor den Ex-Bild-Chef gestellt hatten.
"Wir haben mit einigen der Frauen gesprochen, die mit Freshfields gesprochen haben", sagt Olaf Storbeck gegenüber @mediasres - er ist einer der Autoren der "Financial Times"-Recherche. In diesen Gesprächen und Recherchen bei Freshfields selbst sei deutlich geworden, dass der Springer-Verlag mit Halbwahrheiten und ausgewählter Darstellung bestimmter Ergebnisse "letztendlich ein Bild der Untersuchungen erzeugt habe, das so nicht stimmt. Es wurde der Eindruck erweckt, dass Reichelt Fehler gemacht habe, aber die seien nicht unentschuldbar. Es wurde allerdings nicht erwähnt, dass Freshfields selbst zu dem Schluss gekommen ist, dass es schwerwiegendes Fehlverhalten von Herrn Reichelt gab".
Reichelt nutzte Machtgefälle aus
Der Fall Reichelt zeige, dass im deutschen Strafrecht die Definitionen für sexuelle Belästigung und sexuelle Nötigung extrem eng sei. "Wenn man als Chef deutlich macht, man hätte Interesse an einer jungen Mitarbeiterin, die zig Hierarchiestufen unter einem steht, und ihr im Zweifel nachts auch SMS-Nachrichten schickt mit Sätzen wie 'Ich denke an dich, ich möchte jetzt bei dir sein' und dann guckt, wer anbeißt und wer nicht, dann kann man im Grunde da schon seine Machtstellung nutzen. Es ist dann oft oberflächlich konsensual und einvernehmlich, aber durch dieses krasse Machtgefälle, und vor allem wenn dann noch Beförderungen ausgesprochen werden gegenüber diesen Personen, dann ist das höchstproblematisch aus unserer Sicht. Und so lange die Unternehmen nicht selber klare Regeln haben, dass das nicht erwünscht ist, kann man das als Chef halt machen", so Storbeck.
Reichelt soll sogar während der laufenden Untersuchungen von Springer Updates erhalten und so Zeugen identifiziert haben, denen Anonymität zugesichert worden war. Darüber hinaus soll Döpfner laut "Financial Times" eine Kanzlei engagiert haben, die gegen mehrere Personen ermitteln sollte. Julian Reichelt habe eine Namensliste erstellt "mit Personen, von denen er der Meinung war: die wollen mir schaden, die wollen dem Verlag schaden", so Storbeck. "Es gab sozusagen den Plan, zum Gegenangriff überzugehen".
Springer-Verlag plante "Gegenangriff"
Auf dieser Namensliste soll den "Financial Times"-Recherchen zufolge beispielsweise eine Zeugin im Fall Reichelt gewesen sein. Ebenso zwei "deutsche Satiriker", die frühzeitig über die Vorwürfe gegen den damaligen "Bild"-Chefredakteur gesprochen hatten.
Das Ziel der Aktion: Der Springer-CEO habe so eine "Verschwörung" gegen Reichelt nachweisen wollen. Döpfner hatte nach den Untersuchungen von Freshfields immer wieder davon gesprochen, dass "Hintermänner" hinter den Vorwürfen gegen Reichelt steckten. Die "Financial Times" zitiert Döpfner mit den Worten:
"Wir sind die letzte Bastion der Unabhängigkeit und Regierungskritik, und deshalb werden wir von einer linken Blase, die ihre Ansichten mit großer Intoleranz verfolgt, bestraft".
Springer-Konzern im internationalen Fokus
Gegenüber @mediasres äußerte sich ein Sprecher des Springer-Verlags, der Artikel der "Financial Times" zeichne "ein irreführendes Bild der Compliance-Untersuchung, der daraus gezogenen Konsequenzen, des gesamten Unternehmens und seiner Führung".
Dass sich nach der US-amerikanischen "New York Times" mit der britischen "Financial Times" nun schon das zweite große internationale Blatt mit dem deutschen Springen Konzern beschäftigt, ist für Olaf Storbeck nur folgerichtig. "Es ist ein international tätiger Verlag mit prominenten Investoren und großen Ambitionen in den USA. Sie haben im letzten Jahr Politico gekauft für eine Milliarde Dollar, eins der größten und erfolgreichsten US-Politik-Onlinemedien". Insofern sei es kein Wunder, dass sich auch internationale Medien für das Verlagshaus interessierten.