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Sprung ins Ungewisse

Der US-Autor Richard Powers ist bekannt dafür, dass er in seinen Romanen unsere Existenz in einer modernen Welt auslotet - zwischen archaischer Natur, wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher Realität. So wird bei Thassa, der Heldin seines letzten Romans "Das größere Glück" ein Glücksgen vermutet. Dabei ist ihr Geheimnis lediglich, ganz sie selbst zu sein. Nun hat sich Richard Powers selbst in die Rolle einer Romanfigur begeben und sich einem brisanten Experiment unterzogen. Vor drei Jahren war er vom amerikanischen Männermagazin "Gentlemen's Quarterly" gebeten worden, sein eigenes Genom sequenzieren zu lassen und einen Artikel darüber zu schreiben. Entstanden ist dabei der Text "The Book Of Me", das als "Das Buch Ich #9" nun auf Deutsch erschienen ist.

Von Annette Brüggemann |
    "Das diploide Genom enthält beinahe ebenso viele Einzelinformationen, wie es Menschen auf der Erde gibt. Wenn wir ein 250 Seiten starkes Buch mit 500.000 Buchstaben veranschlagen, bräuchten wir 12.000 solcher Bände, um das Genom eines einzelnen Menschen zu veröffentlichen. Wenn wir die Basenpaare des Genoms in einem pennygroßen Abbild alle hintereinanderlegen wollten, würde diese Kette etwa dreimal um die Erde reichen. Wäre das Genom eine Melodie die man im flotten Allegrotempo von 120 Beats pro Minute spielte, würde der Song knapp ein Jahrhundert dauern."

    Als neunter Mensch auf Erden hat Richard Powers sein Genom entschlüsseln lassen. Sein "Buch Ich #9" hat nur 79 Seiten und doch gleicht Richard Powers Experiment einem bemannten Flug zum Mars. Erste Schritte auf einem ungeheuerlichen Planeten. Überhaupt lässt Richard Powers seinen Blick für das Ungeheure und Unerklärliche ganz beiläufig in seine Reportage einfließen. Dann, wenn er in lakonischen Sätzen die Diskrepanz von wissenschaftlicher Euphorie und persönlicher Realität deutlich macht. Ihm sei zumute, schreibt er, "wie jenen Jägern und Sammlern, die zum ersten Mal tiefgefrorene Lasagne sahen". Eindrücklich beschreibt er die Autofahrt mit Jorge Conde, einem Mitarbeiter des Knome-Instituts, bei dem Richard Powers sein Genom entschlüsseln lassen möchte. Jorge Conde schwärmt vom magischen Ziel des Tausend-Doller-Genoms, von der Genom-Information für jedermann. Und während beide im Stau stehen, erzählt Conde von den neuesten Erfolgen bei der Erforschung des Tunneleffekts in der Quantenphysik, von da aus sei es nur noch eine Frage des Hochrechnens: der Materietransport zum Greifen nah. Spätestens zu diesem Zeitpunkt beschleicht einen das Gefühl, man befinde sich in einem Roman von Thomas Pynchon - aber nein: reality beats fiction!

    Richard Powers Reportage bietet erhellende Einblicke in eine boomende Wissenschaft. So stößt er bei seinen Recherchen immer wieder auf einen Namen: George Church. Church war Mitbegründer des Human Genome Projects, das erstmals zur vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms geführt hat. Und er gründete das Personal Genome Project, kurz PGP - ein nichtkommerzielles Versuchsprojekt unter der Federführung der Harvard University. Für Teilnehmer am PGP ist die Untersuchung kostenlos unter der Bedingung, dass die Ergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden können. George Church war auch Mitbegründer von Knome, das als erstes Unternehmen weltweit die Decodierung des kompletten menschlichen Genoms auf dem freien Markt anbietet. Und er war wissenschaftlicher Berater bei den Genotypen-Boutiquen der Konkurrenz: DNA Direct und 23andMe - willkommen im biokapitalistischen Zeitalter und ihrem Propheten.

    "Ich stelle mir George Church - den Edison der DNA-Sequenzierung, den Berater von zwölf wissenschaftlichen Zeitschriften, fünf Behörden, die Forschungsmittel vergeben, und vierundzwanzig Biotechfirmen - als einen geheimnisvollen, widersprüchlichen Antihelden wie aus einem Stück von Mamet vor. In Wirklichkeit ist er eher wie eine Gestalt von Shaw: wortgewandt, spielerisch, bald eindringlich, bald ironisch und vor allem voller Fantasie. Eins fünfundneunzig groß, Bergsteiger, Roboterbastler, Eiswasserschwimmer, ein Mann, der sein Aquarium liebt, der Schildkröten züchtet und an Narkolepsie leidet. Nach Churchs Begriffen ist die Genomsequenz für jedermann 'Teil eines Experiments, wie es uns verändert, wenn wir mehr über uns wissen'."

    Schließlich steht die Büchse der Pandora vor Richard Powers in Form eines Rosenholzkästchens, in dem sich ein USB-Stick mit den Daten seines Genoms befindet. Richard Powers hatte erwartet, dass das, was er erfährt, sein Bewusstsein verändert - dass er in seinem eigenen Buch des Lebens schon die letzte Seite aufschlägt. Dass ihn zu viel Wissen unfrei macht. Die Botschaft aus der Zukunft befreit ihn von diesem Schreckgespenst. Sie bleibt im Bereich des Wahrscheinlichen - nicht einklagbar. Neugier und Intelligenz wurden festgestellt und eine Neigung zur Fettleibigkeit - trotz der dürren Statur Richard Powers. Viele Genvarianten sind neu und noch bei niemand anderem beobachtet worden.

    Und auch wenn das Ergebnis seiner Genom-Entschlüsselung so hypothetisch ausfällt, bezweifelt Richard Powers, dass die Allgemeinheit in Zukunft in der Lage sei, die Erkenntnisse der Genomforschung mit Verantwortung und moralischer Reife zu tragen. Für ihn schreitet die Wissenschaft schneller voran, als unser Verständnis dafür, wie wir sie nutzen wollen. Deshalb appelliert er zwischen den Zeilen und am Schluss ganz explizit an unsere Selbstverantwortung und Selbstbestimmtheit.

    "Wir haben lange gebraucht, uns von bloßen Figuren im Buch unseres Lebens zu Mitautoren zu entwickeln. Das individuelle Genom ist ein weiterer zaghafter Schritt vom Schicksal zur Selbstbestimmtheit, vom Fatalismus zum Risikomanagement. Wir legen uns fest darauf, dass wir nicht festgelegt sind. Der Code ist veränderlich und ist es von jeher gewesen. Ob es nun gut ist oder nicht - unser Geist hat sich noch nie in eine Flasche bannen lassen."

    Richard Powers öffnet in seiner Reportage die Tür zu uns selbst: Kein überstarker Gott hält unser Leben umklammert und kein biologischer Materialismus kann es vollständig deuten und perfektionieren.

    Charakter lässt sich von Genvarianten nicht bestimmen. Die Genomforschung befindet sich noch in Dantes dunklem Wald, während die Schwesterwissenschaft Epigenetik der Allmacht der Gene ihre Grenzen aufzeigt. Sie hat in den letzten Jahren gezeigt, dass wir nicht nur Passagiere, sondern auch Kapitäne unsere Erbanlagen sind. Umwelteinflüsse und Lebensstil verändern unsere Gene.

    Der Wille zur Freiheit ist für Richard Powers unsere Chance, ein Sprung ins Ungewisse. Wir selbst schreiben das Buch unseres Lebens. Und so ermutigt seine Reportage, den eigenen kritischen und neugierigen Blick für die Vielfalt und Komplexität des Wirklichen zu bewahren.

    Richard Powers: "Das Buch Ich #9. Eine Reportage". Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Hardcover, 79 Seiten, 12,-- Euro. ISBN 978-3-10-059027-5