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Staatlich verordnete Anarchie
Vor 50 Jahren begann die chinesische Kulturrevolution

Am 4. Mai 1966 leiteten der Parteivorsitzende Mao Zedong und ihm getreue Kader der Kommunistischen Partei Chinas die "Große Proletarische Kulturrevolution" ein. Damit begann in der Volksrepublik eine Dekade staatlich verordneter Anarchie, die nicht nur einen großen Teil der kommunistischen Führungselite hinwegfegte, sondern alle Bereiche der chinesischen Gesellschaft ergriff.

Von Norbert Seitz |
    Eine goldene Statue von Mao Zedong in Shenzhen.
    Von Mao Zedong zur Festigung der eigenen Machtposition ersonnen, gewann die Kulturrevolution eine auch für ihn gefährliche Eigendynamik. Erst sein Tod 1976 beendete die letzte Phase dieser gespenstischen Polit-Inszenierung. (picture alliance / dpa / Deng Fei)
    "Der Osten ist rot, die Sonne geht auf. / China hat Mao Zedong hervorgebracht. / Er plant Glück für das Volk. / Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes!"
    "Der Osten ist rot" - dieses Lied stieg während der Kulturrevolution gleichsam zur neuen Nationalhymne der Volksrepublik China auf. Der Kult um den "großen Steuermann" kannte keine Grenzen mehr, seit dieser die Jugend Chinas auf den Plan gerufen hatte, um gegen die eigenen Lehrer und den Parteiapparat zu rebellieren - ein in der Geschichte des Kommunismus im zwanzigsten Jahrhundert einzigartiges Ereignis, das sich in mehreren Phasen – nach offizieller Lesart – von 1966 bis 1976 hinzog.

    "Das ist eben das Ungewöhnliche, dass ein Parteiführer an Massen appelliert, im Wesentlichen an die Massen der Jugend. Das war in Wirklichkeit hypertotalitär in dem Sinne, dass damit alles an destruktivem Potenzial entfesselt werden konnte in einer völlig irregulären Weise, wie das die reinen Sicherheits- und Terrorapparate eines stalinistischen Totalitarismus eigentlich nicht konnten oder nicht gemacht haben."

    So die Einschätzung des Historikers Gerd Koenen, der als Student selbst Maoist war, und für den lange Zeit die "Große Proletarische Kulturrevolution" wie ein "erratischer Block" auf der Historie des "roten" zwanzigsten Jahrhunderts zu lasten schien. Doch langsam ist Licht in das dunkle Dickicht all der Motive und Triebkräfte gekommen. Die Schätzungen der gigantischen Opferzahlen lassen sich kaum mehr leugnen:
    1,5 bis 1,8 Millionen Todesopfer, die gleiche Anzahl von dauerhaft körperlich Versehrten, 22 bis 30 Millionen direkt politisch Verfolgte; über hundert Millionen der von "Sippenhaft" Betroffenen.
    Mit der "Mao Bibel", dem roten Büchlein mit Schriften des chinesischen Führers Mao Zedong, winkt die Masse während der Kulturrevolution am 7.10.1968, dem Nationalfeiertag, ihrem Führer Mao Zedong (r) zu.
    Die Masse winkt dem chinesischen Führer Mao Zedong am Nationalfeiertag 1968 zu (DB AFP)
    Das Versprechen der "großen Ordnung"
    1949 hatte Mao Zedong die Volksrepublik China gegründet mit dem unumstößlichen Dogma:
    "Die Kraft, die unsere Sache führt, ist die Kommunistische Partei. Die theoretische Grundlage, von der sich unser Denken leiten lässt, ist der Marxismus-Leninismus."
    Was waren 1966 die Beweggründe für Mao Zedong, sein Land in ein revolutionäres Abenteuer zu hetzen? Seit dem "Großen Sprungs nach vorn", einem katastrophal endenden Industrialisierungsversuch, bei dem in den Jahren 1958 bis 1962 25 Millionen Chinesen den Hungertod starben, war er nicht mehr ganz unumstritten. Er musste sich seiner Widersacher, des Staatspräsidenten Liu Shaoqi und des Parteisekretärs Deng Xiaoping, entledigen und fürchtete um seinen historischen Rang, wie der Freiburger Sinologe und Historiker Daniel Leese betont:
    "Es ist definitiv so, dass ab den späten 1950er-Jahren Mao Zedong zunehmend auch die Gefahr gesehen hat, dass ähnlich wie in der Sowjetunion so eine Art 'Entmaoisierung' nach seinem Tode stattfinden könnte."
    Eine Zeit lang war Mao in der Versenkung verschwunden, ehe er mit dem Versprechen zurückkehrte, "großes Chaos unter dem Himmel" zu schaffen, um zu einer "großen Ordnung" zu gelangen. Gerd Koenen:
    "Heute wissen wir, dass das Ganze eben schon seine eigene Ratio der Macht hatte von Mao her, aber dass auch dieses scheinbare Chaos so seine eigenen Strukturen hatte."
    Ein Grund für den revolutionären Beginn war rasch gefunden.
    Der Anlass der Kulturrevolution oder: Wie die Kultur unter Generalverdacht gerät
    Ein parteikritisches Theaterstück musste herhalten, das sich an die Historie anlehnt, und in dem anspielungsreich der Kampf eines Bauernführers gegen die staatliche Despotie inszeniert wird. Das Drama geriet im November 1965 auf den Index. Ein Grund, die gesamte Kulturarbeit des Landes an den Pranger zu stellen, weil sich in ihr die "Linie der Bourgeoisie" durchgesetzt habe.
    Hinzu kam viel angestauter Ärger im kommunistischen Großreich über fortbestehende Privilegien, die quer standen zu den alten egalitären Idealen.
    "Also Mao Zedong hat die Gefahr gesehen, dass die revolutionäre Bewegung einschläft, dass also möglicherweise eine Annäherung, eine friedliche Theorie der Überwindung der Klassengegensätze sich in den Vordergrund rückt, und er hat nach dem 'Großen Sprung nach vorn' auch in China dafür Anzeichen gesehen, dass also der Klassenkampf zu erlahmen drohe. Und das wollte er mit allen Mitteln verhindern."
    So wurde am 4. Mai 1966 auf einer erweiterten Tagung des Politbüros der KP Chinas die "Große Proletarische Kulturrevolution" eingeläutet, begleitet von wüsten Beschuldigungen prominenter Parteikader untereinander wie der Bildung einer konterrevolutionären Vereinigung oder Putschversuchen.
    Gleichzeitig sprengte die von Verteidigungsminister Lin Piao forcierte Mao-Verherrlichung alle Maßstäbe des bislang weltweit erlebten Führerkults.
    Der Mao-Kult oder die mythische Aura des "Großen Steuermanns"
    Die "Mona Lisa der Weltrevolution" wurde er wegen seiner entrückten Präsenz genannt. Regelrechte "Loyalitätstänze" und "Zitatengymnastik" gab es um ihn und sein "rotes Büchlein", die Mao-Bibel. Auflage: 740 Millionen.
    Werner Gille, über viele Jahre freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, wurde am 1. Mai 1967 Augenzeuge des revolutionären Spektakels, als Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens Massenaudienz vor Millionen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern hielt. Gille erinnert sich:

    "Ich saß auf der Ehrentribüne circa fünfzig Meter entfernt von Mao Zedong. Ich bin ja im Dritten Reich zur Schule gegangen. Und mein erster Eindruck war: Reichsparteitag auf chinesisch!"

    Man begrüßt jubelnd den Führer, die ganze Stadt ist ein einziges Fahnenmeer. Dann marschieren sie und die Lautsprecher sagen: "Dreitausend Sportler marschieren zum Platz des Himmlischen Friedens, um Mao Zedong ihre Liebe zu bekunden. Zwanzigtausend Rotgardisten kommen, dreißigtausend Studenten. Und dann zum Schluss: Und jetzt kommt unser geliebter Führer, die rote Sonne in unserem Herzen, Mao Zedong, zehntausend Jahre soll er leben. Das heißt: Immer wollen wir dir folgen, wollen wir dir treu sein."
    In Gesängen und auf Wandzeitungen wurde Mao unablässig zitiert. Die Absurdität solcher Anbetung bestand freilich darin, dass der angehimmelte charismatische Führer in Wahrheit mehr Verwirrung als Orientierung stiftete. Daniel Leese:
    "Was die ideologischen Ursachen angeht, herrscht bis heute sicherlich der meiste Dissens, was Mao Zedong eigentlich bezwecken wollte. Mao ist selber sehr unklar gewesen mit den ideologischen Zielen der Kulturrevolution. Einerseits betonte er, der Revisionismus existiert in China. Er hat aber nicht genau gesagt, woher er kommt. Und aus diesem Zwiespalt kommt ein Großteil der Dynamik der Bewegung."
    Und diese Dynamik hatte es in sich.
    Rote Fahnen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking der Hauptstadt Chinas, aufgenommen am 07.05.2007.
    Auf dem Platz des Himmlischen Friedens hielt Mao Zedong am 1. Mai 1967 eine Massenaudienz vor Millionen von Teilnehmern. (picture-alliance/ dpa-ZB / Jens Leonhardt)
    Die revolutionäre Dynamik oder: Der Terror der jungen Rotgardisten
    Alle "Ochsengeister und Schlangengötter" sollten hinweggefegt werden. Denn ohne die Zerstörung alter Kulturen und Denkweisen, Sitten und Gebräuche könne nichts Neues geschaffen werden. So lautete Maos aufputschende Doktrin. Jugendliche Aktivisten schlossen sich zu "Roten Garden" an Schulen und Universitäten zusammen, um "reaktionäre akademische Autoritäten" zu stürzen.
    Grausame Exzesse spielten sich dort ab. Die Polizei musste dabei nach einem Befehl des Ministers für Öffentliche Sicherheit nicht eingreifen, wenn "Klassenfeinde" im Affekt erschlagen würden. Begründung:
    "Letztlich sind schlechte Personen schlecht, daher ist kein großes Aufheben darum zu machen, wenn sie zu Tode geprügelt werden."
    Der rote Mob vergriff sich auch an Botschaften, schändete Kulturdenkmale. Wie Maos Spiel mit dem Feuer nicht nur Lehrer und Professoren traf, sondern auch Ordnungshüter und frühere Machthaber, schildert der in Deutschland lebende chinesische Journalist Shi Ming:
    "Sie hatten plötzlich nicht nur keine Macht mehr. Sie hatten auch keine Garantie mehr für ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit. Zu erinnern war der ehemalige Staatspräsident Liu Shaoqi, der sogar mit einer chinesischen Verfassung zu den Rotgardisten hingedackelt war und mit Tränen und Blut im Gesicht bettelt er um sein Leben."
    Die Barbarei der "politischen Vergewaltigung"
    Die täglich expandierende Gewalt der entfesselten Jungen Garden erlebte auch Augenzeuge Werner Gille am abstoßenden Massenritual der öffentlichen Selbstkritik:
    "Man hat sie bloßgestellt, man hat sie vors Mikrofon geholt. Und Massen von Menschen wurde gesagt: 'Kommt hin und hört euch das an.' Also sie wurden vor der Bevölkerung auf die Bühne gestellt. Und dann waren da ein paar Rotgardisten. Und die haben erst eine Rede gehalten und dann ein paar Mao-Zitate vorgelesen oder auswendig aufgesagt. Dann wurden die Einzelnen aufgerufen zu sagen, sie sollen einfach bekennen, warum sie hier sind, dass sie freiwillig hier sind, dass sie niemand gezwungen hat. Und dann kam die Selbstkritik: 'Ich bereue es zutiefst. Ich bitte, das alles wieder gut machen zu dürfen'."

    Shi Ming war 14, als in seiner Umgebung zum ersten Mal die Barbarei der "politischen Vergewaltigung" bekannt wurde:
    "Das war eine Nachbarin, eine Lehrerin, die für ihre konterrevolutionäre 'Gräueltat', angebliche, öffentlich von drei Männern vergewaltigt worden ist. Und dann am Ende wollten diese Menschen drumherum, die Schaulustigen, ihre Schande auf noch auf eine viel scheußlichere Art bestraft wissen, dass sie sogar einen Hund herbeigezerrt hatte. Solche Gräueltaten hatte von oben niemand befohlen."
    Mao Zedong war im Sommer 1967 auf dem Höhepunkt seiner Radikalität. Doch die Verunsicherung im Lande über die traumatisierenden Gewaltexzesse war immens. Rebellenorganisationen wurden bewaffnet, sodass Teile des Militärs zu meutern drohten und die Gefahr eines Bürgerkriegs unmittelbar bevorstand. Der "Große Steuermann" musste umsteuern, zumal die Wirtschaft in China schweren Schaden an dem hintersinnig inszenierten Chaos genommen hatte. Doch damit sollte eine noch größere Gewaltwelle ausgelöst werden.
    Auf den rotgardistischen Schrecken folgt der Terror der Staatsmacht
    "Wie die neuere Forschung nachgewiesen hat, sind die mit Abstand größten Opferzahlen erst in der späten Phase nach 1969 bis 1971 geschehen, sodass also im Wesentlichen staatliche Akteure für die Hauptopferanzahl der Kulturrevolution verantwortlich sind und nicht nur die Rotgardisten."
    Stabilisierung stand auf der totalitären Agenda, die Armee erhielt Interventionsorder, umfassende Säuberungen und die Landverschickung von Millionen städtischer Rotgardisten in die Mongolei und Mandschurei wurden durchgeführt. Die Phase der "Selbsterziehung der Massen" war damit vorüber.
    Komplementär dazu wurde die Partei durch das maliziös inszenierte Zerwürfnis Maos mit dem ihm zuvor sklavisch ergebenen Verteidigungsminister Lin Piao auf Loyalität getrimmt. Für den Historiker Daniel Leese stellen die heillosen Richtungswechsel den Sinn der "Großen Kulturrevolution" gänzlich infrage:
    "Kennzeichen der Kulturrevolution ist, dass keine klaren Ziele definiert wurden und dass man im Wesentlichen gegen einen abstrakten Revisionismus gekämpft hat. Am Anfang steht auch noch alte Kultur, altes Denken, alte Gebräuche und Ähnliches im Fokus, was aber eigentlich nie klar war, auf welches Ziel man zusteuert, dass man sich also an Sätze, kleine Äußerungen Mao Zedongs geklammert hat, die man aber in vielfältigster Richtung auslegen konnte. Denn Mao Zedong hat sich immer ein Moment der Ambiguität, letztendlich auch Steuerung bewahrt, um hier entsprechend eingreifen zu können. Hier sieht man auch sehr deutlich, dass die Kulturrevolution kaum haltbar ist als Konstrukt."
    Wechsel zwischen Forcierung und Zügelung der Massenbewegung
    Die völlig widersprüchlichen Vorgaben aus der Partei, der Wechsel zwischen Forcierung und Zügelung der Massenbewegung führten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Zu welchen psychologischen und ideologischen Konsequenzen dies aufseiten der unteren Schichten führte, schildert der Publizist Shi Ming:
    "Die Traumatisierung der unteren Schichten ist allerdings ein völlig anderes. Das ist zuerst ein Zerplatzen aller revolutionären Ideale. Auch die Ideale eines einheitlichen Nationalstaats sind am Ende zerplatzt. Also man kann gar nicht mehr genau sagen, was für diese Republik gut oder schlecht war. Das Ideal, dass man das Richtige an großen Führern fest machen könnte, zerplatzt ebenso. Und nach dem Ende der Kulturrevolution war das auch eine unumkehrbare Schicksalsentscheidung von Deng Xiao Ping, niemals wieder von Idealen zu sprechen."
    Doch mit der repressiv herbeigeführten Stabilisierung des Regimes sollte "die Große Proletarische Kulturrevolution" ihr offizielles Ende noch nimmer nicht gefunden haben. Die militärisch ausgetragenen Grenzscharmützel am Ussuri und die Breschnew-Doktrin schufen Bedrohungsängste vor der großen sozialistischen Brudernation. Gleichzeitig war mit der sogenannten "Ping-Pong-Diplomatie" eine fundamentale außenpolitische Wendung in Richtung Entspannung gegenüber dem einstigen kapitalistischen Hauptfeind USA angesagt.
    Maos Tod und das offizielle Ende der Kulturrevolution
    Die letzte Phase der Kulturrevolution begann 1971 mit einem abrupten außenpolitischen Kurswechsel und der Rehabilitierung früherer Revisionisten wie dem Wirtschaftsexperten Deng Xiaoping. Dieser war aus der Zwangsarbeit in einer Traktorfabrik als stellvertretender Ministerpräsident zurück an die Macht gelangt, um bald nach Maos Tod 1976 einen gigantischen ökonomischen Wandel der Volksrepublik in Gang zu setzen, den Gerd Koenen zu erklären versucht:
    "China ist umgekrempelt worden, allerdings auf eine vollkommen andere Weise, aber dieses Mondgesicht von Mao schwebt ja nach wie vor drüber und es ist dieselbe Partei, es sind Parteiführer, die durch dieses Fegefeuer der Kulturrevolution hindurchgegangen sind, die setzen jetzt wieder völlig auf Ordnung. Aber was sie entfesselt haben, das ist diese explosive Mobilisierung von ökonomischem Potenzial."

    Obwohl die KP Chinas die chaotische Dekade der Kulturrevolution als "zehnjährige Katastrophe" geißelte, wollte sie ihren Großen Führer nicht gänzlich vom Sockel stoßen. Zumindest eine partielle "Entmaoisierung", aber keine vollständige Tabuisierung der Kulturrevolution wurde damit eingeleitet.
    "Die Mao-Ideen werden von seinen Nachfolgern, vor allem von Deng, soweit ausgehöhlt, dass nur noch wenige Sätze gelten, zum Beispiel, dass man die Wahrheit in den Tatsachen suchen sollte, war ein Mao-Zitat. Und dieses Mao-Zitat hatte Deng so ausgebeutet, dass quasi er einen Blankoscheck bekommt, denn er kann ja immer in neuen Tatsachen neue Wahrheiten finden."
    Studenten halten Poträts von Mao Zedong während einer Erinnerungsfeier zum 120. Geburtstag von Mao Zedong.
    Studenten halten Poträts von Mao Zedong während einer Erinnerungsfeier zum 120. Geburtstag von Mao Zedong. (dpa picture alliance/ Chinafotopress)
    Opfer wurden zu Tätern
    Die Schwierigkeit einer Aufarbeitung der Kulturrevolution liegt darin begründet, dass sich die Rollen so oft vertauscht haben: Parteikader, die in der Frühphase der Bewegung häufig Opfer waren, wurden in den späteren Phasen zu Tätern. Am Ende war es nur die "Viererbande" um Maos Witwe Jiang Quing, auf die sich die Rache der Partei nach dem Tod ihres Gründers konzentrierte. Deshalb spricht Daniel Leese auch von einer Zweiteilung der Erinnerung:
    "Auf der einen Seite der Versuch der Zuspitzung aller Schuld auf eine relativ kleine Gruppe von Personen. Auf der anderen Seite gab es eine Parteiresolution im Sommer 1981, in der sowohl die Geschichte der Partei als auch die Rolle von Mao Zedong und die Rolle der sogenannten Mao-Zedong-Ideen genauer evaluiert wurden. Hier hat man in der Tat eine Grenze zu ziehen zwischen den 'hehren Motiven' Maos auf der einen Seite und der kriminellen Ausbeutung seiner Ideen auf der anderen Seite."
    Auch wenn die Kulturrevolution noch heute als Entgleisung Mao Zedongs verbucht wird, spricht man weiter von dreißig Prozent Fehlern und siebzig Prozent Leistungen Maos. Doch Shi Ming glaubt nicht, dass sich dieses geschichtspolitische Dogma noch lange halten wird:
    "Inoffiziell wird es immer mehr in die Richtung debattiert, ob man überhaupt diese dreißig zu siebzig aufrecht erhalten kann, auch von offiziellen Kadern. Viele von innen sprechen schon von systemischen Fehlern, die nicht mehr alleine nur auf Mao zurückzuführen sind. Diese Menschen sind noch in der Minderzahl. In der Gesellschaft allerdings ist ihre Meinung sehr einflussreich."