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Staatsbürgerschaft für Nazim Hikmet

Nazim Hikmet gilt als türkischer Nationaldichter, als wichtigster Lyriker der modernen Türkei. Als Kommunist wurde er 1938 verurteilt und musste nach einer 13-jährigen Haftstrafe ins Exil flüchten. Heute, 45 Jahre später, möchte die Türkei ihm die aberkannte Staatsbürgerschaft posthum zurückgeben. Der türkische Schriftsteller Zafer Senocak über die heutige Bedeutung des Nationaldichters.

Zafer Senocak im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig |
    Rainer Berthold Schossig: Die meisten Türken nennen ihn einfach liebevoll "Nazim", den Dichter Nazim Hikmet, den wichtigsten Lyriker der modernen Türkei. Er verbrachte die Hälfte seines Erwachsenenlebens in türkischen Gefängnissen. Von 1938 bis 1950 verbüßte er politische Haftstrafen. Dann floh er, er starb 1963 im Moskauer Exil. Und lange waren seine Werke verboten. Der Kommunist galt als Vaterlandsverräter.

    Doch nun, 45 Jahre nach seinem Tod, will ihm die türkische Regierung symbolisch die entzogene Staatsbürgerschaft zurückgeben. Frage an den türkisch-deutschen Schriftsteller Zafer Şenocak: Hikmets Verszeilen "Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht", die kennt fast jeder Türke. Hat er für Sie auch so eine poetische Schlüsselrolle gehabt?

    Zafer Şenocak: Auf jeden Fall. Ich bin ja 1961 geboren, und mein Interesse für türkische Poesie, das in den 70er-Jahren einsetzte, verlief eigentlich parallel zur Wiederentdeckung von Nazim Hikmet. Der war ja lange Zeit mehr oder weniger ein türkischer Nationaldichter im Untergrund. Seine Werke waren ja nicht verlegt worden lange Zeit. Und in den 70er-Jahren kam aber ein Revival, und fast alles wurde aufgelegt, es gab Gesamtausgaben, und ich bin auch damit aufgewachsen, das kann man schon sagen, ja.

    Schossig: Und nun, 45 Jahre nach seinem Tod, will ihm die türkische Regierung symbolisch die damals entzogene Staatsbürgerschaft zurückgeben. Warum darf denn der verfemte Dichter plötzlich wieder Türke sein?

    Şenocak: Die Diskussion läuft schon fast 20 Jahre, seit den 80er-Jahren. Nachdem sich die Wogen und die schlimmen Ereignisse nach dem Militärputsch 1980 etwas geglättet hatten und die Türkei sich wieder anfing zu öffnen, gab es viele Diskussionen, wie man mit der Geschichte umgeht, wie man mit der Verfolgung in der Geschichte umgeht, wie man mit Unrecht in der Geschichte umgeht.

    Nazim Hikmet wurde ja 1938 völlig zu Unrecht verurteilt und saß im Gefängnis bis 1950, also fast 13 Jahre, und musste dann ins Exil gehen, wurde dann ausgebürgert und war eben als Kommunist verschrien, was er auch übrigens war. Er war Kommunist.

    Schossig: Eben, ja, natürlich.

    Şenocak: Aber das war natürlich damals in der Türkei verboten. Es fiel nicht unter Meinungsäußerung, sondern es war einfach grundsätzlich verboten, kommunistische Äußerungen von sich zu geben oder auch eine Partei zu gründen, die diese Ziele verfolgte.

    Ich sehe dieses Ereignis jetzt eigentlich eingebettet in eine Veränderung in der Türkei, die ich für sehr positiv halte, dass die Türkei sich tatsächlich jetzt nach diesen Reformen, die ja sehr auf dem Papier standen in den letzten drei, vier Jahren, doch langsam bewegt, die ganze Gesellschaft.

    Man diskutiert über kontroverse Themen. Denken Sie an die Petition der Intellektuellen, was die Verfolgung der Armenier in Anatolien angeht vor einigen Wochen. Die Diskussion, die darüber entbrannte, war doch sehr kontrovers. Und auch, dass eine konservative Regierung, muslimisch inspiriert, einen kommunistischen, bekennend materialistischen Dichter wieder in die Türkei eingemeindet, zurückholt in die Kultur hinein, zeigt, dass doch die alten Klüfte, die alten Fronten nicht mehr so bestehen.

    Schossig: Ich finde es erstaunlich. Hikmet sagte einmal, er habe nie ein Gefängnis verlassen, ohne dass alle Mithäftlinge lesen und schreiben konnten. Also das heißt ja, er war und betrachtete sich als Aufklärer. Betrachtet man ihn heute eigentlich auch noch oder kann man ihn wieder als eine Art Lehrer betrachten für eine erneuerte Türkei?

    Şenocak: Nein, ich glaube, das ist vorbei. Das ist eine sehr generationstypische Aussage. Sehen Sie, für die 30er-, 40er-, 50er-Jahre, Entwicklung, Aufklärung des Volkes, heute klären ja ganz andere Medien auf als Dichter. Aber die Poesie von Hikmet, viele, viele Teile daraus, also viele Gedichte sind unsterblich, sind großartige Gedichte, haben einen langen Atem.

    Die propagandistischen, ideologischen Verse hat man schon vergessen. Er gilt nicht mehr als der kommunistische Vorzeigepoet, sondern er gilt als jemand, der ganz sensibel den Atem des Volkes und auch die Geschichte der türkischen Dichtung aufgenommen hat und es geschafft hat, sie auch zu modernisieren, einen neuen Geist sozusagen hineinzuwehen.

    Schossig: Soweit der Schriftsteller Zafer Şenocak über die Rehabilitation des Dichters Nazim Hikmet in der Türkei heute.