Pastos, ölig, zäh lässt Sylvain Cambreling das Tristan-Vorspiel erklingen. Fett ist dieser Liebesschmerzensklang. Man könnte fast sagen ranzig. So hat man Wagner lange nicht mehr gehört. Vielleicht ist er so einmal um 1900 gespielt worden, wer weiß. Schön ist das nicht, eher übertrieben. Wie Cambreling auch im weiteren Verlauf alles übertreibt oder akzentuiert, wie man genauer sagen müsste. Superexpressiv lässt er die Klangwogen der Meeres- und Liebesfahrt in den Tod sich aufbäumen. Schroff schlagen die Farben der Instrumentengruppen gegeneinander. Nichts liegt Cambreling ferner als ein harmonischer Mischklang. Das fabelhafte Staatsorchester setzt sämtliche Segel im Orkan der Gefühle und stampft wie ein altes Schlachtschiff durch die aufpeitschenden Wogen. Das ist auch nicht schön, aber eindrucksvoll, und vor allem macht es Sinn.
Während der Vorspiele zu den drei Aufzügen sieht man auf dem Gazevorhang in den riesigen Innenhof eines heruntergekommenen Gefängnisses, entworfen nach den Ideen des englischen Philosophen und Juristen Jeremy Bentham. Der Wachturm in der Mitte unter einer gigantischen Kuppel gibt den Blick frei auf das Rund der Gefängniszellen: Privatsphäre gleich null, Überwachung total. Konkret handelt es sich um den alten Gefängnisbau Presidio Modelo auf Kuba. Die den Vorspielen folgende Geschichte von Tristan und Isolde spielt sich in einer dieser Gefängniszellen ab, also unter den Bedingungen vollkommener Unfreiheit. So wie Wagner selbst als gescheiterter Revolutionär sich in die Schweiz flüchtete, sich in die Leidenschaft zur Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck stürzte und ihre unmögliche Liebe musikalisch in eine nachtromantische Liebesmystik übertrug.
Fantastische Sänger
In der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito ist die Liebeswelt der Titelhelden reine Pappkulisse, durchsichtiger Theaterzauber. Die Wellen vor und hinter einem jämmerlichen Segelboot werden hoch- und runtergezogen, Isoldes Krone besteht aus klimperndem Blech, ihre Kleidung zitiert den Orientalismus des 19. Jahrhunderts, Tristan trägt einen Zylinder. Pathetisch sind ihre Gesten, als imitierten sie das spätromantische Bewegungsrepertoire eines Eugène Delacroix. Bei ihrem nächtlichen Liebestreffen im Garten der Königsburg schwingen Tristan und Isolde sich an Lianen durch einen Urwald aus silberblinkenden Wucherungen und spielen schließlich Tarzan und Jane, bis Tristan sich vollkommen zum Affen macht und wie ein Orang-Utan auf allen Vieren herumhopst. Christiane Iven als Isolde und Erin Caves als Tristan sind fantastische Sänger. Iven überzeugt mit einem voluminösen und äußerst farbenreichen Sopran, Caves mit einem klangschönen und wunderbar geführten Tenor.
Doch was hier so traumverloren klingt, ist für das Regieduo Wieler/Morabito blanker Unsinn, Verblendung, Hysterie von Leuten, die im Knast sitzen und sich was vormachen. Die Gefangenschaft bringt krankhafte Imaginationen hervor. Wagners Liebesmystik samt ihrer musikalischen Ausformung sind die schwülstigen Auswüchse eines unfreien Geistes. Pathos ersetzt die wahren Gefühle. Das macht Cambreling auch im Graben deutlich. Insofern ist der Stuttgarter "Tristan" eine durch und durch stimmige Produktion, die viel zu denken gibt. Sie zu mögen, fällt jedoch schwer. Spinnt man ihre Grundthese weiter, dann ist Wagner ein Irrtum und damit überflüssig. So radikal ist der Tondichter noch nie befragt worden. Immerhin: Der einzige, der wirklich leidet, ist König Marke. Er wird um alles betrogen, um Liebe, Freundschaft, Treue. Den totalen Verlust singt Attila Jun mit herzzerreißender Intensität. Sein Schmerz über den Verlust ist der Kern dieser Inszenierung.