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Staatsrechtler warnt vor Freibrief für die Politik

Trotz gegenteiliger Medienberichte sieht der Staatsrechtler Wolf-Rüdiger Schenke noch Chancen, dass das Bundesverfassungsgericht am Donnerstag den Klagen gegen eine vorgezogene Bundestagswahl stattgeben wird. "Wenn jetzt diese Auflösung akzeptiert wird, dann stellt das in der Zukunft einen Freibrief dafür dar, dass bei beliebigen Situationen je nach politischem Kalkül des Bundeskanzlers eine Auflösung herbeigeführt werden kann", warnte Schenke.

Moderation: Dirk Müller | 25.08.2005
    Dirk Müller: So ganz steht es noch nicht fest, doch alle Beobachter gehen mit fast hundertprozentiger Sicherheit davon aus: die Karlsruher Richter entscheiden heute mit ja, also grünes Licht für die Bundestagswahlen am 18. September. Bereits vorgestern hatte sich herausgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht die Klage zweier kleinerer Parteien gegen den Wahltermin abgewiesen hat. Heute soll dies auch so mit den Klagen der beiden Bundestagsabgeordneten Jelena Hoffmann und Werner Schulz ablaufen, Klagen gegen die Entscheidung des Bundespräsidenten, die Neuwahlen zuzulassen. - Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Staatsrechtler Professor Wolf-Rüdiger Schenke. Er vertritt als Anwalt den Kläger Werner Schulz. Guten Morgen!

    Werner Schenke: Guten Morgen!

    Müller: Herr Schenke, wussten Sie, dass Sie verlieren werden?

    Schenke: Das weiß ich bis jetzt noch nicht. Wenn man gute Argumente hat, ist es natürlich so, dass man bis zum letzten Moment hofft, dass man gewinnt. Das ist ja klar!

    Müller: Interessieren die Richter Ihre Argumente?

    Schenke: Entschuldigung, die Frage habe ich jetzt nicht verstanden.

    Müller: Sind die Richter an Ihren Argumenten interessiert?

    Schenke: Ich würde sagen wenn man die Verhandlung verfolgt hat, war das in unterschiedlicher Weise der Fall. Es ist sicher so, dass das eine oder andere Argument der Antragsteller für meine Begriffe in der mündlichen Verhandlung nicht genügend gewürdigt worden ist, aber ich meine da kann man sicher unterschiedlicher Auffassung sein. Insofern ist es schlecht, dazu etwas zu sagen.

    Müller: Das heißt Sie haben auch so etwas wie Ignoranz und Arroganz entdeckt?

    Schenke: Nein! So etwas würde ich jetzt nicht sagen. Ich glaube, dass in der mündlichen Verhandlung jetzt in der Tat auch neue Argumente von Seiten der Antragsteller vorgetragen wurden und ich etwas vermisst habe, dass auf diese Argumente nicht eingegangen wurde. Von Ignoranz kann natürlich jetzt nicht die Rede sein. Ich gehe davon aus – das Bundesverfassungsgericht hat meinen Respekt -, dass es nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden kann. Dass man hier jetzt unterschiedlicher Auffassung sein kann, ist klar. Auch in der Staatsrechtslehre sind ja die Auffassungen geteilt. Es gibt aber sehr viele Staatsrechtslehrer, die ähnlich wie die Antragsteller und ich davon ausgehen, dass diese Verfahrensweise der Bundestagsauflösung verfassungswidrig gewesen ist.

    Müller: Wenn wir, Herr Schenke, sinngemäß mit Ihrem Kläger Werner Schulz argumentieren, dann stellt sich die Frage, sind die Richter in Karlsruhe – wir setzen einmal voraus, dass es heute zu einem Ja für die Neuwahlen kommt – bei einem Ja Erfüllungsgehilfen der Politik? Könnte man das so sagen, so fragen?

    Schenke: Nein, das kann man sicher nicht sagen. Das wäre jetzt eine Abwertung, die nicht angebracht sein würde. Sicher muss man aber das eine sagen, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es zu einer Ablehnung kommen würde, jetzt eine große Möglichkeit verpasst hätte, in der Tat deutlich zu machen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Gegengewicht zu den politischen Parteien darstellt und dass es sich nicht davon beeinflussen lässt, dass ja alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien für die Neuwahlen gewesen sind. Insofern wäre es in der Tat ein Zeichen nach außen gewesen, mit dem deutlich gemacht worden wäre, das Bundesverfassungsgericht lässt sich in keiner Weise durch solche Auffassungen beeinflussen, sondern versucht, ganz unabhängig davon nur nach dem Verfassungsrecht seine Entscheidung zu treffen. Insofern ist es schade, wenn es zu einer Ablehnung kommen würde, dass dieser Eindruck dann in der Öffentlichkeit nicht entstehen kann.

    Müller: Herr Schenke das heißt aber auch, die ganze Diskussion, die es im Nachhinein 1983 gegeben hat, also beim ersten prominenten konkreten Vorfall in dieser Auseinandersetzung, da sind Hürden gesetzt worden aus Karlsruhe. Diese Hürden haben jetzt offenbar keinerlei Rolle gespielt?

    Schenke: Ich hatte ja in der mündlichen Verhandlung und auch in der Klageschrift vorgetragen gehabt, dass unsere Argumentation aufbaut auf der Entscheidung von 1983, obwohl ich auch gegenüber dieser Entscheidung meine gewissen Vorbehalte hatte. Ich gehe nach wie vor davon aus, wenn die Grundsätze, die damals 1983 entwickelt wurden, entsprechend auf unseren Fall angewendet würden, müssten wir eigentlich gewinnen. Insofern ist es in der Tat natürlich enttäuschend, wenn es dazu kommen sollte, dass die Klage abgewiesen wird. Im Übrigen muss man zu der Entscheidung von 1983 sagen, dass diese Entscheidung damals zum Teil auf scharfe Kritik innerhalb der Staatsrechtslehre gestoßen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass auch bei dieser Entscheidung, wenn es zu einer Abweisung der Anträge kommen würde, die Kritik in der Staatsrechtslehre sicher nicht ausbleiben wird.

    Müller: Zynisch gefragt: warum kann der Kanzler dann offenbar de facto machen was er will?

    Schenke: Ja, das ist eine gute Frage, die Sie stellen. Das ist ja das große Bedenken, was die Antragsteller haben. Wenn das jetzt toleriert wird durch das Verfassungsgericht, dann sehe ich im Grunde genommen in Zukunft keine echte Barriere mehr für ein unbegrenztes Auflösungsrecht, das dem Kanzler zusteht. Denn das eine muss man ja ganz klar sagen: Wenn der Kanzler erst mal die Vertrauensfrage gestellt hat, ist es für ihn eine Kleinigkeit, noch einige Abgeordnete der Regierungsfraktion – und das genügt ja bereits – zu gewinnen, um die Vertrauensfrage wie er es will scheitern zu lassen. Dann entsteht im Grunde genommen eine entsprechende Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit, wie wir es ja auch hier festgestellt haben, obwohl man zunächst mal keine Neuwahlen wollte. Ehe die Ankündigung des Kanzlers erfolgte, ist in kürzester Zeit die Stimmung umgeschlagen und dann ist es natürlich auch so, dass der Bundespräsident, wie sich ja auch gezeigt hat, unter starkem Druck der öffentlichen Meinung steht, die nun sagt, wir wollen Neuwahlen. Dann setzt sich natürlich ein Automatismus in Gang – ich habe ja darauf auch versucht, in Karlsruhe hinzuweisen -, der eigentlich politisch kaum noch zu stoppen ist, so dass nur die Möglichkeit besteht, durch das Bundesverfassungsgericht hier Einhalt zu gebieten.

    Müller: Also demnach hätte das Verfassungsgericht dann doch versagt?

    Schenke: Das Bundesverfassungsgericht hat oder hätte, um es noch mal so zu formulieren, eine große Chance, die sich ihm geboten hätte, nicht wahrgenommen und das wäre natürlich in der Tat schade.

    Müller: Sie haben das jetzt diplomatisch formuliert. Ist das eine Sprachregelung zwischen Staatsrechtlern, dass man nicht sagen kann, das ist eine falsche Entscheidung?

    Schenke: Ja, nach meiner Auffassung ist natürlich die Entscheidung nicht richtig. Das ist klar. Daran gibt es auch gar nichts zu deuteln. Nur ist es auf der anderen Seite so, dass bei einer Frage, zu der unterschiedliche Auffassungen vertreten werden – das muss man auch als Jurist akzeptieren -, natürlich sich mit vertretbaren Argumenten unterschiedliche Ergebnisse vertreten lassen. Meines Erachtens ist es natürlich auch so, dass es zu einem Verfahren jetzt auch gehört, dass sich die Verfahrensbeteiligten, auch wenn sie nicht siegen, im Grunde genommen fair verhalten und insoweit eine Entscheidung akzeptieren. Daran halte ich mich natürlich auch. Das ist ja selbstverständlich.

    Müller: Gibt es auch Richter, die nach politischem Kalkül entscheiden?

    Schenke: Ich gehe davon aus und unterstelle den Richtern jetzt nichts anderes, dass sie sich bemüht haben, nur auf dem Boden des Artikel 68 Grundgesetz zu entscheiden. Sicher ist es aber natürlich so, auch Richter sind Menschen und sicher sind sie nicht völlig unbeeinflusst davon geblieben, dass alle politischen Parteien, aber auch die öffentliche Meinung dafür waren, dass Neuwahlen im Herbst stattfinden. Sicher muss man in dem Zusammenhang natürlich auch sehen, dass es sehr schwierig ist, der öffentlichen Meinung klar zu machen, welche verfassungsrechtlichen Bedenken hier bestehen. Vor allem ist die öffentliche Meinung sehr stark fixiert auf die von ihr gewünschten Neuwahlen. Sie sieht aber nicht die allgemeine Problematik, die sich hier stellt, nämlich die Problematik, dass wenn jetzt diese Auflösung akzeptiert wird dann in der Zukunft das ein Freibrief dafür darstellt, dass bei beliebigen Situationen eine Möglichkeit je nach politischem Kalkül des Bundeskanzlers eine Auflösung herbeigeführt werden kann. Darin liegt die eigentliche Problematik.

    Müller: Der Mannheimer Staatsrechtler Wolf-Rüdiger Schenke war das. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!