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Staatsrechtlerin
"Es sind ganz massive Grundrechtseinschränkungen"

Solche massiven Grundrechtseinschränkungen wie derzeit habe man so noch nicht gekannt, weil eine Situation wie die Coronakrise noch nicht gegeben habe, sagte die Staatsrechtlerin Sophie Schönberger im Dlf. Derzeit werde abgewägt "zwischen der Einschränkung von Freiheit und dem Schutz eines höheren Ziels".

Sophie Schönberger im Gespräch mit Sandra Schulz | 24.03.2020
Die Passantin läuft im Gegenlicht einfallender Sonnenstrahlen durch eine menschenleere U-Ebene.
Die Frage sei, ob man die drastischen Maßnahmen für das wirtschaftliche, aber auch soziale Leben, so lange durchhalten könne, sagte die Staatsrechtlerin Sophie Schönberger im Dlf. (Kay Nietfeld / dpa)
Versammlungsverbote, Geschäftsschließungen, Ausgangsbeschränkungen oder sogenannte Kontaktverbote – in Deutschland ist im Moment Realität, was sich noch vor kurzem niemand hätte vorstellen können. Als die chinesische Hubei-Region Ende Januar abgeriegelt wurde, waren viele Menschen in Deutschland der Ansicht, solche drastischen Maßnahmen seien nur in China möglich.
Jetzt waren die chinesischen Eingriffe ohne Frage weitergehend, aber trotzdem hat es in Deutschland in Friedenszeiten so einschneidende Beschränkungen der Grundrechte noch nicht gegeben.
Das alles folgt dem Ziel, Leben zu retten, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren, zu viele schwere Verläufe gleichzeitig sollen vermieden werden. Professor Sophie Schönberger, Staatsrechtlerin der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, zu verfassungsrechtliche Fragen in der aktuellen Situation.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Wie blickt die Staatsrechtlerin auf die massiven Einschnitte, die wir jetzt haben ins öffentliche Leben?
Sophie Schönberger: Die Staatsrechtlerin ist auch erst mal überrascht und hat so etwas noch nicht gesehen. Es sind natürlich ganz massive Grundrechtseinschränkungen, die wir hier sehen. Sie haben es gesagt. Solche Grundrechtseinschränkungen kannten wir bisher nicht, weil wir einfach eine entsprechende Lage noch nicht gekannt haben. Das ist immer relativ schwierig.
Wir sind alle überrascht, dass die gesetzliche Lage das hergibt zu großen Teilen, wenn eine entsprechend große Bedrohung ist. Dann sind wir in der ganz klassischen grundrechtlichen Abwägung zwischen der Einschränkung von Freiheiten und dem Schutz eines höheren Ziels, hier tatsächlich dem Leben und der Gesundheit der Menschen.
Schulz: Wir haben es mit einer Situation zu tun, die es so noch nie gegeben hat. Sie haben es gerade schon gesagt: Im Zentrum stehen dann immer die Verhältnismäßigkeitsabwägungen. Aber wie gehen die, wenn wir im Moment doch wissen, dass wissenschaftlich belastbar, abschätzbar weder die Folgen der Maßnahmen, noch die weitere Entwicklung ist?
Schönberger: Das ist tatsächlich eine gute Frage und da sind wir in einer Situation, wo tatsächlich einfach originär politische Entscheidungen getroffen werden müssen, und das ist für viele vielleicht auch erst mal wieder schwierig zu begreifen und zu akzeptieren.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass vieles von dem, was wir machen, von Wissenschaftlern ein bisschen politisch determiniert wird – seien es Verfassungsrechtler wie ich, die dann sagen, das ist rechtlich zulässig, das ist rechtlich nicht zulässig, seien es Naturwissenschaftler, die konkrete Aussagen treffen über Klimawandel, über Krankheitsverläufe, über irgendetwas anderes.
Hier sind wir jetzt in einer Situation, wo die Wissenschaft ganz klar sagt, wir wissen es noch nicht, und es ist gut, dass die Wissenschaftler das sagen, weil das die ehrliche Antwort ist. Nur trotzdem muss ja gehandelt werden und da sind wir in einer Situation, dass aufgrund unsicherer Tatsachengrundlage politische Entscheidungen getroffen werden müssen – ganz klar mit dem Risiko, dass sie falsch sind.
Das ist bei Politik immer so, dass man es später besser weiß, aber natürlich in der Regel nicht so dramatisch, wie es hier ist, aber das ist das System von Politik und daran müssen wir uns vielleicht jetzt auch wieder stärker gewöhnen, dass es keine Sicherheit gibt, dass politische Entscheidungen keine wissenschaftlichen Richtig oder Falsch-Aussagen sind, sondern dass man sich herantasten muss und nach bestem Wissen und Gewissen diese politischen Entscheidungen diskutieren und dann treffen muss und dann das Beste hoffen.
"Hinterher ist man immer schlauer"
Schulz: Da verstehe ich Sie richtig, selbst wenn sich erweisen sollte, dass diese Schritte, diese weitgehenden Einschnitte, dass die sich rückblickend als falsch erweisen, ändert das nichts daran, dass sie aktuell verfassungsgemäß sind?
Schönberger: Man kann es immer nur aus der jetzigen Situation begreifen. Hinterher ist man immer schlauer, aber jetzt muss man sehen, muss man das Ganze prozeduralisieren: Ist die Tatsachengrundlage richtig ermittelt? Wird das berücksichtigt, was wir im Moment zum jetzigen Zeitpunkt wissen über den Virus?
Gibt es verfahrensmäßige Absicherungen, zum Beispiel, indem Maßnahmen befristet werden, indem sie immer wieder überprüft werden? Das sind die kleinen Prüfschritte, die kleinen Mechanismen, die man einbauen kann, um auch in diesen schwierigen Zeiten eine Verhältnismäßigkeit zu wahren.

Schulz: Es soll im Moment – so hat es die Kanzlerin immer wieder erklärt – Zeit gewonnen werden, damit das Gesundheitssystem nicht in diese Situation reinläuft, die wir in Italien teilweise gesehen haben, dass Ärzte abwägen müssen, welchem Patienten können sie noch helfen, welchem Patienten nicht.
Coronavirus
Das ist ja eine Sachlage, die jetzt noch über längere Zeiten, über Wochen, über Monate möglicherweise andauert. Sind solche Einschnitte auch so lange denkbar?
Schönberger: Das ist im Moment eine offene Frage und auch das ist eine, die die politisch entschieden werden muss. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie lange der Virus noch dauern wird. Ich lese es auch, dass solche Möglichkeiten bestehen. Die Frage ist, kann man das wirklich so lange durchhalten, weil es natürlich auch hohe, hohe Folgekosten hat, wenn man das wirtschaftliche, vor allen Dingen aber auch das soziale Leben über so einen langen Zeitraum derart einschränkt.
Deswegen muss jeden Tag neu die Frage gestellt werden, können wir das so noch rechtfertigen. Ich halte es persönlich für sehr schwierig, diese Maßnahmen so lange aufrecht zu erhalten, aber auf der anderen Seite steht diese ganz große Schwierigkeit. Man kann ja jetzt nicht auf einmal sagen, okay, wir lassen es alles sein und dann sterben halt die Menschen.
"Der Föderalismus zeigt tatsächlich im Moment seine problematische Seite"
Schulz: Es wird jetzt im Moment viel auf den Föderalismus geschimpft. Zurecht aus Ihrer Sicht?
Schönberger: Der Föderalismus zeigt tatsächlich im Moment seine problematische Seite, vor allen Dingen auch an diesem Spannungsverhältnis, dass wir in Deutschland immer den Föderalismus hochhalten, und auf der anderen Seite doch in der Bevölkerung sehr große Bedürfnisse nach Vereinheitlichung sind. Das sehen Sie immer ganz klassisch in der Schulpolitik, klassische Länderdomäne, und trotzdem sind die Eltern immer unglücklich, dass es unterschiedliche Maßstäbe gibt, unterschiedliche Abiturbewertungen, und bei einem Umzug von einem Bundesland zum anderen ganz unterschiedliche zum Teil auch Lerninhalte.
Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern
Schwesig (SPD): "Wir wollen die Menschen nicht in den Wohnungen einsperren"
Die neu beschlossenen Kontaktverbote seien eine harte Maßnahme, sagte die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, im Dlf. Man habe damit aber noch härtere Regeln wie Ausgangsbeschränkungen vermeiden wollen.
Jetzt in der Krise ist es so, dass wir genau wieder das sehen. Eigentlich wünschen sich sehr, sehr viele Menschen die einheitliche Regelung, den starken Durchzug von oben und das Gefühl, dass da zentral schnell in diesen Krisenzeiten reagiert wird. Auf der anderen Seite ist das alles Länderkompetenz, und dann haben wir diese typische deutsche Zwischenebene der Koordination zwischen den Ländern. Wir haben das gesehen letzten Sonntag, dass die Ministerpräsidenten sich koordiniert haben, um eine annähernd gleiche deutschlandweite Regelung zu haben, um die Alleingänge zu verhindern. Jetzt ist die Frage, ist der Alleingang schlimm oder nicht. Darüber kann man intensiv diskutieren.
Man kann sagen, na ja, ein Bundesland wie Bayern, das ganz anders vom Virus betroffen ist, trifft andere Maßnahmen als ein Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern, das noch relativ wenig betroffen ist. Das kann man sachlich gut rechtfertigen. Umgekehrt ist es aber schwer kommunizierbar, sondern das, was kommuniziert wird, ist: Nein, wir wollen geeint und gemeinsam und einheitlich handeln. Das ist natürlich unter den jetzigen Umständen des Föderalismus im Grunde kaum möglich. Deswegen haben wir wieder dieses Dilemma, dass wir einerseits föderal organisiert sind, aber dann mit den Folgen des Föderalismus niemand leben will.
"Merkel hat da tatsächlich nur die Funktion einer Moderatorin gehabt"
Schulz: Wobei man ja sagen kann, auch wenn es da Rangeleien oder Streitereien oder Diskussionen gegeben hat zwischen den Ministerpräsidenten, leben wir und erleben wir jetzt einen relativen Zustand des Durchregierens. Angela Merkel hat es am Sonntagabend gesagt. Diese Ausgangsbeschränkungen oder Kontaktsperren – das ist ja teils unterschiedlich benannt worden -, das sind jetzt keine Empfehlungen mehr, sondern das sind Regeln. Gibt es in der Verfassung denn auch ein Instrumentarium, das davor schützt, dass dieses Durchregieren in Krisenzeiten möglicherweise in falsche Hände gerät?
Schönberger: Die Verfassung hat ja umfangreiche Sicherungen. Und tatsächlich, Sie sagen, Angela Merkel hat gesagt, Regeln, die gelten. Das ist richtig. Aber es ist nicht, weil Angela Merkel sie angeordnet hat, sondern weil die Landesregierungen das alles umgesetzt haben. Das heißt, sie hat da tatsächlich nur die Funktion einer Moderatorin gehabt. Im Übrigen ist unsere Verfassung natürlich nicht im Krisenmodus.
Internist Ullmann (FDP): - Ausgangsbeschränkungen "unausweichlich"
Bei steigenden Covid-19-Infektionszahlen würden die Kapazitäten in den Intensivstationen möglicherweise sehr schnell aufgebraucht, warnte der Internist und FDP-Politiker Andrew Ullmann.
Gerade das Grundgesetz kennt diesen Notstand für die innere Bedrohung nicht, sondern geht davon aus, dass die demokratischen Institutionen ganz normal weiterfunktionieren, dass die Bundesregierung Entscheidungen trifft, dass das Parlament Entscheidungen trifft und dass die demokratischen Institutionen auch im föderalen Austausch einfach eine solche innere Krise meistern.
Schulz: Und das geht jetzt alles, wie wir auch im Bundestag sehen, wenn wir jetzt bei den Notpaketen sind, in einem Rekordtempo. Wir haben dieses Notpaket gesehen gestern im Kabinett. Morgen soll es der Bundestag beschließen, dann der Bundesrat direkt schon am Freitag. Das ist jetzt natürlich nicht so das Idealbild von "jeder Parlamentarier kann sich das alles ganz genau anschauen". Sehen Sie das als Problem?
Schönberger: Es ist natürlich problematisch, weil der Zeitdruck immens ist. Das ist nicht der einzige Fall, in dem das passiert. Solche Fälle gibt es immer mal wieder. Natürlich ist das problematisch, weil sowohl die Kontrolle durch den Abgeordneten sehr stark eingeschränkt ist. Wie soll er das alles noch verarbeiten?
Teilweise sind die Vorlagen ganz unmittelbar vorher erst bei ihm. Und natürlich auch die öffentliche Kontrolle wird zurückgefahren, und das ist natürlich schwierig, weil wir in einer Zeit leben, wo ja ohnehin die Öffentlichkeit extrem zurückgeschraubt ist. Wir sitzen den größten Teil des Tages zuhause, oder diejenigen, die ins Büro gehen, im Büro. Wir begegnen uns nicht mehr draußen.
Schulz: Professor Sophie Schönberger, wir müssen an dem Punkt leider auf die Uhr schauen. Vielen herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen heute Morgen an die Staatsrechtlerin aus Düsseldorf.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.