Es gehört zu den Segnungen der Postmoderne, dass ein jeder, der eine Wackelkamera bedienen kann, sich für einen Dogma-Filmer hält und jeder, der auf dem Computer tippt, tendenziell Romancier ist. Derjenige, dem ein lieber Freund einen Staatstheater-Apparat zur Verfügung stellt, nennt sich Regisseur, und bei manchen klappt das dann ja auch. Bei manchen nicht. Robert Borgmann, der vor einem Jahr in Stuttgart einen auf der Stelle tretenden "Onkel Wanja" inszeniert hat (welcher dann auf wundersame Weise zum Theatertreffen kam), Robert Borgmann möchte nun mit Shakespeares "Richard III" das Böse an sich analysieren.
Dreistündige Kreisch-Übung: " Richard III"
Das Unternehmen verendet als dreistündige Kreisch-Übung auf einer wieder zeitlupenhaft sich bewegenden Drehbühne, und die Buhs, die der Master of Ceremonies sich am Ende aus dem Parkett abholte, waren absolut verdient.
Zugegeben: Richard III ist eine Abfolge von Mordtaten und nicht Shakespeares stärkstes Stück. Es steht und fällt mit der Hauptfigur: Richards Bösartigkeit aus seiner wie auch immer gearteten Benachteiligung, seiner Missgestalt nachvollziehbar zu machen, das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe. Wer nun jegliche Psychologie aus der Aufführung verbannt, der ist ein Dilettant: Er will vor allem schick avantgardistisch aussehen, zieht sich dabei aber selbst den Boden unter den Füßen weg.
Ursprünglich sollte Thomas Lawinky den Richard spielen, vor Jahren mal in den Schlagzeilen, weil er einem Frankfurter Kritiker den Notizblock entrissen hatte. Verglichen mit Richards Morden, eine eher verzeihliche Gewalttat. Lawinky, ein Alles-oder-Nichts-Schauspieler, wurde aber krank, und zehn Tage vor der Premiere übernahm (der viel jüngere) Marek Harloff eine Rolle, an der man wirklich irre werden kann. Gemessen an der kurzen Vorbereitungszeit ist das, was er spielte, einerseits bewunderungswürdig, andererseits aber natürlich kein Richard: Harloff geistert athletisch über die Bühne wie eine Art haßerfüllter, pubertierender Mick Jagger, der sich zu Shakespeare verirrt hat. Die Regie gibt ihm fast nichts mit auf den Weg: Schon als Kind meuchelt er seinen Kanarienvogel, und dann geht die Post ab.
Das inszenierte Geschrei, mit dem der Regisseur seine Schauspieler verheizt und das Publikum quält, übergehen wir hier mit Schweigen. Alles ist schwarz auf der Bühne, hysterische Figuren haben alle ihr Solo, Mord reiht sich an Mord, und bald schaut man mehr auf die Kipp-Hydraulik der Drehbühne als auf den hemmungslos vor sich hinspotzenden Schauspieler Peter René Lüdecke, dem die Regie eine enervierende Verfluchungs-Orgie gestattet. Dann, nach 180 Minuten intellektueller Unterforderung, doch noch so etwas wie ein Gedanke: Der in die Enge getriebene Richard suhlt sich in schwarzer Pampe wie früher die Happening-Models bei Yves Klein, und die schwarze Maske, die er aufgelegt hat, erinnert von Ferne an die Mütze mit Augenschlitz, die der Henker, der Enthaupter auf den Videos des "Islamischen Staat" trägt. Richard als Dschihadist – das wäre ein Konzept gewesen. Traut sich aber keiner. Zum Schluss spricht Katharina Knap unendlich traurig "the hollow men", die hohlen Männer von T.S. Eliot – meint das nun die Kriegs-Politik oder den Zustand der Stuttgarter Bühne?
Kritische Heimatkunde: "Die Stadt das Gedächtnis"
Aber: Im Gemischtwarenladen des Stuttgarter Intendanten Armin Petras' gibt es auch noch die Abteilung kritische Heimatkunde, an diesem Wochenende vertreten von dem Projektemacher Jan Neumann, der mit fünf Schauspielern die Stuttgarter Topographie durchstreift. "Die Stadt das Gedächtnis", vom Motto her vage an Hölderlin angelehnt, ist eine liebevolle Selbstvergewisserung, die dramaturgisch wie ein Reißverschluss, wie Schnitzlers "Reigen" funktioniert: Die Figuren springen auf einer Drehbühne jeweils in eine neue Szene mit anderen Partnern, und während eine Fremdenführerin noch in bestem Honoratiorenschwäbisch über die Geschichte des Nesenbachs, der Stuttgarter Kloake referiert, setzt sich ein Situationenkarussell zu einer Fahrt in Gang, die über geblümte Bettdecken und Straßenszenen bis hin zu einem Jüngsten Stuttgarter Gericht führt, wo alle Umweltsünden, sexuellen Abschweifungen und Finanzbetrügereien des Normalbürgers gnadenlos zur Sprache kommen. Berührend, wie Gabriele Hintermeier und Boris Burgstaller ein altes Ehepaar spielen, schräg die Probleme der Computergeneration, statuarisch wie bei Duane Hanson die Standbilder Stuttgarter Bürger. Am Ende liegt Stuttgart als alter Elefant vor uns. Das Ganze ist poetisch und alltagsnah, lustig und melancholisch zugleich, manchmal sprachlich zu pointengeil, aber allemal sorgfältiger und menschenfreundlicher gearbeitet als die präpotenten Shakespeare-Stilübungen des Abends zuvor.