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Stadt des Zögerns

"In Genua spricht man über alles, aber man vollbringt nichts", sagt der alteingesessene Genueser Silviano Fiorato. Das Zögern verhindert oft genug die Umsetzung einer guten Idee. Gleichzeitig bewahrt das Zögern jedoch auch das Wesen der Stadt.

Von Sibylle Hoffmann |
    Da steht er in feinem Zwirn und in einem zitronengelben Pullover, den Hemdkragen und die Manschetten darunter sorgfältig hervorgezogen: Bruno Musso - ein eleganter Herr aus guter Familie. Bruno Musso ist der Sohn einer alteingesessenen ligurischen Reederfamilie. Er wohnt mitten in Genua sehr prominent - direkt gegenüber der mächtigen Kathedrale San Lorenzo . Er arbeitet in einem provisorischen Bürocontainer am Hafen. Er ist ein verehelichter Casanova , ein Dichter, Denker und Planer. Und er lispelt.

    Bruno Musso spricht von einem Gesetz, das Anfang des 20. Jahrhunderts von den Hafenarbeitern in Genua erkämpft wurde. Damals gründete sich eine Hafenarbeiterkooperative die den Mindestlohn für die vielen Hafenarbeiter festsetzte.

    Inzwischen aber ist das Geschichte. Die Container, die in den 60er- und 70er-Jahren in der Schifffahrt eingeführt wurden, haben die Mehrzahl der Hafenarbeiter arbeitslos gemacht.

    "Wir haben das erste reine Containerschiff in Italien gebaut, 1967 ist es zuerst im Linienverkehr mit Sardinien eingesetzt worden. 1969 kam das nächste und hatte eine Ladevorrichtung an Bord, denn damals gab es die Kräne am Kai noch nicht."

    Bruno Musso will nun wieder eine Innovation befördern. Die Politiker allerdings hören nicht auf ihn, und er überlegt, ob und wie er als Privatmann seine Pläne durchsetzen kann.

    Der erfinderische Reeder plant einen Spezialtunnel für elektronisch gesteuerte Gütertransporte - eine Verbindung, die Waren aus der 250 Kilometer entfernten Industrieregion um Alessandria - also von jenseits der Berge - nach Genua bringt. Bergwelt und Stadt blieben dank der Elektronik von den Abgasen der Laster verschont, meint der Reeder, und von Genua aus könnten die italienischen Produkte in den gesamten Mittelmeerraum verschifft werden. Das käme der Industrie, dem Handel, dem Hafen und der Stadt Genua zugute. Silviano Fiorato, ein alteingesessener Genueser, lacht über diese Idee:

    "In Genua spricht man über alles, aber man vollbringt nichts. Wenn es eine Idee gibt - eine gute vielleicht, die woanders sogar funktioniert, trifft sie in Genua auf dermaßen viele Hindernisse, dass sie zwar voran, aber nicht zu Ende kommt."

    Das Zögern hat zwei Seiten. Es verhindert vieles - aber es bewahrt auch manches: Genua hat den größten zusammenhängenden mittelalterlichen Stadtkern Europas, zahlreiche Piazze und Piazzette, Kirchen, Türme, Museen, Bars, Geschäfte, Restaurants mit ligurischen Spezialitäten und eine Universität, die sich auf Nanobiotechnologie spezialisiert. Öffentliche Aufzüge hat die Stadt, die man mit Busfahrkarten benutzen kann. Sie ersparen den Fußgängern das mühsame bergan steigen. U-Bahnen gibt es, zwei große Bahnhöfe, und Autobahnen, die auf sehr hohen Stelzen ruhen, ein vom weltberühmten Genueser Architekten, Renzo Piano neu gestaltetes altes Hafenbecken mit einem modernen Aquarium, ein prächtiges Schifffahrtsmuseum und eine "Sopralevata" - eine Hochstraße, die den Verkehr am Hafen entlang und an der Altstadt vorbei leitet. Die sei eine Bausünde, sagen die einen, ein Segen sei sie, finden andere.

    Klar ist, dass die Stadt, die so malerisch zwischen Meer und Gebirge liegt, nur wenig Platz bietet. Mit 2500 Einwohnern pro Quadratkilometer zählt Genua zu der am dichtesten bevölkerten Region Italiens. Bauland ist knapp angesichts der Morphologie: Berge, Täler, Flüsse und das Meer behindern die Ausdehnung der Stadt. Livio Petrone arbeitet im Katasteramt von Genua.

    "Da es hier wenig Baugrund gibt, sind die Preise dafür ziemlich hoch. Darum ziehen junge Leute, wenn sie ein eigenes Haus kaufen wollen, aus der Stadt weg und in die umliegenden Gebiete. Denn wer in der Stadt nicht erhebliche Finanzmittel zur Verfügung hat, sei es von der Familie oder weil der Job gut bezahlt ist, hat es schwer, eine Immobilie zu kaufen und in einem eigenem Haus zu leben. Denn Baugrund gibt es eigentlich nicht. Es gibt nur einige verlassene Industriegebiete, die man nach dem völligen Niedergang der Fabriken, herrichten will."

    Man will herrichten. Livio Petrono wird etwas ungeduldig angesichts der Genueser Trägheit.

    "Wir denken über diese verlassenen Grundstücke seit 30 Jahren nach. Und sie sind immer noch verlassen - weil die Angst so groß ist, eine Entscheidung zu treffen, was geschehen soll."


    Sollte "La Superba", die Stolze, wie Genua oft genannt wird, tatsächlich ängstlich und zögerlich sein? Früher schützten sich die Genueser vor dem Meer und Angriffen feindlicher Flotten hinter den dicken Mauern ihrer Altstadt. Heute erstreckt sich der historische Stadtkern über fast zwei Quadratkilometer. Enge, halbverfallene Sträßchen bilden ein labyrinthisches Gewirr, durch das Einwanderer aus Afrika und Südamerika streifen. Hohe Häuser mit bröckelnden Fassaden wirken finster und heruntergekommen. Handwerksbetriebe, kleine, oft von Asiaten geführte Geschäfte, Bäckereien, Gemüse- und Fischläden, Schlachtereien und Boutiquen mit viel Neonlicht bringen Farbe in die sonst sonnenarmen, feuchten Gassen.

    Unter Kunsthistorikern ist Genuas Altstadt vor allem für ihre Fassadenmalereien berühmt. Gemalte Säulen, gemalte Fenstersimse, gemalte Balkongeländer, Löwen, Girlanden, Wappen, Greifvögel, allegorische Gestalten. Die Straßen waren zu eng, um solchen Schmuck dreidimensional anzubringen.

    Die Kunsthistorikerin Giovanna Rotondi Terbignello steht auf der Piazza Sauli, einem kleinen, dunklen unscheinbaren Flecken voller Mülltonnen, ein Presslufthammer arbeitet. Oben an der Hauswand ein Fresco aus dem 15. Jahrhundert.

    "Wenn man in Genua spazieren geht, muss man den Blick nach oben richten. In der Altstadt von Genua sind heute die Geschäfte leider allgegenwärtig. - Es ist gut, dass sie da sind, denn das Leben wird vom Handel ja aufrechterhalten, aber es ist so, dass die Leute, die in den Gassen von Genua spazieren gehen, in die Schaufenster gucken und dementsprechend sind sie wenig geneigt, den Blick nach oben zu richten."

    Der reich bemalte Palazzo San Giorgio aus dem 13. Jahrhundert lag früher direkt am alten Hafenbecken. Erst diente er als Rathaus, zwei Jahrhunderte später zog die Banco di San Giorgio ein, eine der ältesten Banken der Welt. Sie verwaltete die Einnahmen aus den zahlreichen Kolonien, die Genueser Kaufleute im Mittelmeerraum und an den Küsten des Schwarzen Meeres gründeten. - Die Bank verlieh Geld an die katholische Kirche, investierte in Kriege und in die Entdeckungsreise des Christopher Columbus. - Karl V., habsburgischer Kaiser und König von Spanien, war bei der Bank des Heiligen Georg hoch verschuldet. -

    Das am besten erhaltene mittelalterliche Gebäude Genuas ist die Commenda di Prè. Im 12. Jahrhundert war sie als Kirche und als "Hospital", also als Unterkunft für Kranke, Pilger, Wanderer und Kreuzfahrer gebaut worden. Kranke, so meinte man, müssen häufig gewaschen werden und brauchen viel Licht, darum lagen sie in der oberen Etage, in einem Zimmer mit großen Fenstern zum Meer. Die Sicht auf den Hafen ist heute allerdings behindert. Die Sopralevata, die Schnellstraße auf Stelzen die in den 60ger und 70ger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand, führt direkt an dem alten Gebäude vorbei.

    Im 16. Jahrhundert schließlich zogen die Reichen um in die Strade Nuove, in neue Straßen. Die Villen in der Via Garibaldi zum Beispiel, haben prunkvolle Fassaden, gartenähnliche Innenhöfe, Terrassen und große Fenster, die viel Licht und Luft einlassen. Im Palazzo Spinola residiert heute die Deutsche Bank. Der Palazzo Rosso und der Palazzo Bianco bilden gemeinsam eine Gemäldegalerie. Von ihrer kleinen Dachterrasse schauen die Besucher über ein Gewirr von Schieferdächern, die mit der Witterung sandfarben geworden sind. Man blickt auf kupfergrüne Kuppeln, Hafenbecken, Segeljachten und Dachgärten. Die Terrassen der Reichen sind großzügig und gepflegt, auf denen der weniger Betuchten flattert Wäsche über Blumentöpfen, Plastikstühlen und Wassertanks. Aus diesem Kontrast steigt heute noch vage Erinnerung ans Mittelalter auf.