Die ersten Kritiker begrüßten Christoph Peters Debut "Stadt Land Fluß" geradezu hymnisch. Sie loben seine klare, unsentimentale Sprache, die sinnlich sein kann oder auch eiskalt. Sie erklären "Stadt Land Fluß" zum Glücksfall für Verleger Joachim Unseld, der dieses Buch zu seinem einzigen Frühjahrsbuch machte. Sie attestieren dem Autor Sprachmacht und eine souveräne Beherrschung der Erzählmittel. Sie vergleichen ihn mit Max Frisch. Sie nennen ihn hochbegabt, vielversprechend, und einer will ihm gar die Füße küssen. Und wie reagierte Christoph Peters auf die Lobeshymnen? "Man rennt die ersten Tage furchtbar euphorisiert durch die Gegend. Aber dann kam ganz schnell ein Gegenschlag, psychisch, nicht publizistisch - der erste Verriß kam eine ganze Zeit später -, man wird so mit Glücksbotenstoffen überflutet, daß das Gehirn in dem Moment, wo dann keine tolle Nachricht kommt, quasi in Entzug gerät, und man dann plötzlich unerwartet nach drei, vier vollkommen schwebenden Tagen auf den Boden der Tatsachen fällt oder noch darunter und denkt, das kann alles gar nicht sein, das hat mit mir überhaupt nichts zu tun, das bin gar nicht ich."
Da bleibt es nicht aus, daß soviel Lob irgendwann relativiert wird. Nicht jeder taumelt vor Entzücken. Christoph Peters ist nicht abgebrüht, seine Haut ist dünn, negative Rezensionen treffen ihn. Nach den wunderbaren Kritiken in der "FAZ", in der "Süddeutschen", der "Welt", dem "Merkur", dem "Tagesspiegel" und "Focus" schlugen die "Zeit" und die "Frankfurter Rundschau" zurück: "Die habe ich während einer Frühdienst-Phase am Flughafen morgens um sechs in der S-Bahn gelesen, und morgens um sechs Uhr bin ich sowieso noch ziemlich weich, die ganzen Schutzschilde sind noch nicht richtig aktiviert, und dann sitzt man in der S-Bahn und sieht drei Reihen weiter jemanden auch in der Frankfurter Rundschau blättern und denkt sich: zum Glück haben sie wenigstens kein Photo von mir da reingesetzt, sonst würde der gleich den Text lesen, die Gesichter vergleichen und käme dann zu dem Ergebnis, aha, das muß wohl dieser Mann sein, der diesen schlechten Roman geschrieben hat. Also da kommt dann schon der Reflex, wenn der entsprechende Mensch mir jetzt gegenüber säße, dann würde ich ihm einen Zahn ausschlagen oder so. Aber das geht schnell weg."
Was ist das für ein Buch, das von den allermeisten Kritikern so enthusiastisch aufgenommen wurde? Zunächst einmal ist es eine Liebesgeschichte. Zehn Jahre lang lebt Walkenbach mit der Zahnärztin Hanna zusammen, einer fast spröden Frau, die an die ganz große Liebe glaubt. Walkenbach hingegen weiß von Anfang an, daß er keine symbiotische Liebesgeschichte erleben kann, daß seine Empfindungsfähigkeit viel zu gebrochen ist. Er entscheidet sich für die Liebe, er will diese Frau. Er erobert Hanna ganz kühl, ganz planvoll. Wie der Autor Christoph Peters ist auch dessen Kunstfigur Walkenbach ganz verzaubert von dem in mancherlei Hinsicht so faszinierend altmodischen Mädchen: "Der Reiz dieser Hanna, sowohl für Walkenbach als auch für mich als Erzähler - ich habe diese Frau wirklich unheimlich gern, ich finde sie ist ganz bezaubernd -, besteht darin, daß sie eben nicht nach dem ersten Abend, wo man gemeinsam in der Kneipe gesessen hat, sagt: so, gehen wir zu mir oder zu dir - und sich die Wäsche vom Körper reißt. Es gibt ja Leute, die behaupten, solche Frauen gäbe es nicht mehr - ich kenne solche, und ich bin auch froh, daß es sie gibt."
Hanna ist Walkenbachs Frau, seine Ernährerin. Walkenbach schreibt, raucht und trinkt, findet morgens nicht aus dem Bett und kommt nicht weiter mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Er versucht, seine Dissertation über den niederrheinischen Altarschnitzer Hendrick Douwermann zu schreiben, setzt sich mit der Zentralperspektive in der Kunst auseinander. Hanna erkrankt, hat Knötchen in der Brust. Auf dem Tisch liegt der Brief des Arztes mit dem Befund. Walkenbach wirft ihn ungelesen in den Papierkorb. Was immer er enthalten könnte, es interessiert ihn nicht – denn Hanna ist verschwunden. Walkenbach lebt in seinen Erinnerungen, erzählt sich selbst seine Geschichte: "Er begründet ja, warum er sich überhaupt seine eigene Geschichte erzählt, erzählen will, weil sie vorher Hanna gehört hat, durch diesen zehn Jahre währenden Dauerdialog. Und jetzt, wo sie weg ist, muß er sozusagen durchs Erzählen, durch sich seine eigene Geschichte neu erzählen und auch die Geschichte mit Hanna nur für sich neu erzählen, er muß sozusagen die Herrschaft über seine Vergangenheit zurückgewinnen."
Überdies ist er zehn Jahre lang von Hanna abhängig gewesen, und er war es vom ersten Tag, von der ersten Minute an: "Ich denke, wenn man das Ganze einmal tiefenpsychologisch betrachtet, daß das schon sehr typisch für diese Beziehung ist, daß er sie eben in dieser absolut wehrlosen Position auf dem Zahnarztstuhl zum erstenmal auch als die Frau erkennt, die seine sein soll. Man ist vollkommen wehrlos, man kann sich nicht bewegen, man befindet sich in einer Position, die ziemlich lächerlich ist, und an einem wird gehandelt. Man ist sozusagen zu totaler Passivität verdammt, und das ist, denke ich, schon etwas, das für beide etwas Typisches in dieser Beziehung ausmacht. Sie ist vordergründig schon diejenige, die kraftvoll, die dynamisch, die stark, die dann aber trotzdem sehr labil ist, die zwischendrin in so etwas wie depressive Schübe verfällt. Und er ist auf der einen Seite der, der sich in diese Passivität rettet, um nicht wirklich handeln zu müssen, aber die Art und Weise, wie er dann trotzdem die Herrschaft über seine Geschichte zurückerobert, das hat auch etwas sehr Entschiedenes."
Man kann "Stadt Land Fluß" lesen wie einen Liebesroman, man kann den Schwerpunkt beim Lesen aber auch auf die Todesmotive legen, die das Buch durchziehen. Die Stadt am Niederrhein, aus der Walkenbach stammt, siecht dahin, die Verwandten sterben, seine Freundin ist krank, und dadurch ist der Tod allgegenwärtig: "Es geht ja immer um die Frage nach Glück und Unglück, das direkt verknüpft ist mit Liebe und Tod. Liebe und Tod hängen innerlich ganz dicht zusammen. Wir fürchten den Tod ja nicht deshalb, weil er so weh tut, sondern vermutlich in erster Linie deswegen, weil er den einzelnen in die radikalste Einsamkeit hineinführt, die es für einen Menschen gibt, und die Liebe ist das krasse Gegenteil. Liebe ist im Idealfall die intensivste Kommunikation, die möglich ist zwischen Menschen oder auch zwischen Menschen und Gott."
"Stadt Land Fluß" ist aufgebaut wie ein spätgotischer Flügelaltar, mit einem Hauptteil, zwei Seitenflügeln, Gelenkstellen und der Predella, dem Sockel. Den Tryptichon-Charakter hat Peters auch im Titel anklingen lassen, drei knappe, einsilbige Wörter sollen auf die Dreiteiligkeit der Geschichte oder eben auf den Flügelaltarbau hinweisen. Der Georgsaltar in Kalkar von Hendrick Douwermann ist Symbol für den Roman. Douwermann hat Jesses Alptraum in Holz geschnitzt. Die Jessewurzel rankt empor. Sie verhüllt den Altar, es ist unmöglich, sie freizulegen. Nur hier und da kann man zwischen den dicken Wurzeln einen Ahnen erkennen, die Geschichte Jesses erahnen. Auch als Spiel von Verstecken, Entdecken, Verschwinden ist "Stadt, Land, Fluß" zu lesen. Die Spur Hendrick Douwermanns verschwindet in den Geschichtsbüchern. Hanna taucht nicht mehr auf.
Man kann "Stadt Land Fluß" aber auch lesen wie einen Heimatroman. Christoph Peters kommt vom Niederrhein, und auch sein Protagonist Thomas Walkenbach stammt daher. Der kann weder im Dorf noch in der Stadt leben. "Walkenbachs Perspektive ist die des unbehausten Menschen, der eine bestimmte Prägung durch dieses bäuerliche Dorf erfahren hat, aber eigentlich in seinen Kindheitsschilderungen beschreibt, daß er sich als Kind da schon nicht wirklich zu Hause, nicht wirklich beheimatet gefühlt hat. Und andererseits, in dem Moment, wo er in die Stadt kommt, ist er da auch nicht beheimatet. Weil man diese Prägungen durchs Dorf, durchs Land, durch Tiere, durch die Weite des Blicks, auch durch die sozialen Zwänge, die damit verbunden sind, nicht einfach so los wird, wenn man an einen anderen Ort geht. Das möchte man zwar manchmal gerne und sagen, ich bin jetzt frei und ein autonomes, selbstbestimmtes, modernes menschliches Wesen, aber man stellt doch immer wieder fest, daß einem etwas fehlt von dieser doch vorhandenen Geborgenheit, die dieses Zwangssystem Dorf bietet."
Am Niederrhein spielen die ersten achtzig Seiten. Walkenbach kehrt zurück, um seiner Freundin Hanna die Stätten der Kindheit zu zeigen, die Eltern, die Verwandten vorzustellen. Auch der Autor Christoph Peters ist zurückgekehrt in seine Heimat. Er führt die Bauern nicht am Nasenring vor, er will sie nicht lächerlich machen, aber er tut auch alles andere, als das Landleben zu verherrlichen. "Das ist sicherlich der autobiographischste Teil, und für mich war es der Versuch, diese Welt, die ich als Kind in ähnlicher Form erlebt habe, zu zeigen mit der ganzen Trauer, die ich selber auch habe angesichts dessen, was da kaputtgegangen ist oder kaputt gemacht wurde, übrigens von den Bewohnern dieser Landschaften selbst, aber auch mit der Größe, die diese Leute zum Teil haben. Die Figur des Onkel Henno, der ist ja jemand, der, obwohl er überhaupt nicht intellektuell ist und wie eine moderne Hiobsfigur sozusagen sämtliche Plagen, die der Körper zu bieten hat, übergestülpt bekommt. Das ist eigentlich auch eine Art moderne Märtyrergeschichte. Das ist wirklich jemand, der ganz ohne intellektuellen Hintergrund dieses Kranksein, dieses Leben in Krankheit annimmt und aushält, der zu einer Vertiefung kommen kann, die der von Walkenbach um ein Vielfaches überlegen ist. Ich glaube, Walkenbach würde das selber auch so sehen, weil dieser Onkel Henno, der hat wirklich das geschafft, was eigentlich jemand schaffen sollte, nämlich keine Angst mehr zu haben - weder vor dem Tod noch vor dem Leben. Und Walkenbach hat sowohl vor dem einen wie dem anderen furchtbare Angst und kann dann weder das eine noch das andere."
Je länger man in "Stadt Land Fluß" liest, desto unsicherer ist man sich, ob das, was man gerade gelesen, gerade interpretiert hat, auch wirklich so ist, wie man soeben noch glaubte. Diese Verwirrung schlägt sich nieder in den Betrachtungen der Rezensionen. Die eine Rezensentin ist sich sicher, die Frau des Ich-Erzählers ist tot. Ein anderer Kritiker schwört, daß sie lebt. Jemand schreibt, sie sei todkrank, jemand widerspricht, todkrank sei sie nur in Walkenbachs Phantasie. Fest steht nur, daß Hanna fort ist. Ob sie von selbst gegangen ist, ob sie gestorben ist, ob gar Walkenbach seine Hand bei ihrem Verschwinden mit im Spiel hatte, kann der Leser nur erahnen. Da ist von einem Hügelgrab die Rede, von einem Hubschraubereinsatz, der bei Regen zwecklos wäre. Immer wieder, und damit auffällig oft, betont Ich–Erzähler Walkenbach, daß er keine Krimis mag: Hat er am Ende selbst einen geschrieben, eine Beichte abgelegt? "Zumindest ist es als Kriminalroman deutbar. Wenn man will, könnte man quasi als eine Art lesender Staatsanwalt einen Indizienprozeß gegen Herrn Walkenbach führen und ihm nahezu sicher nachweisen, daß er an dieser Frau ein Gewaltverbrechen verübt hat. Aber es kann auch ganz anders sein. Es kann auch sein, daß das, was darauf hindeutet, nur eine Angstphantasie ist, beziehungsweise eine Geschichte, die kurzfristig angesichts der Bedrohtheit seiner Frau oder auch ihres wirklichen Todes immer wieder die natürliche Aggression, die man angesichts eines Menschen, der einem wegstirbt, jetzt zwischenzeitlich empfinden kann, in Gewaltphantasien ummünzt, einfach auf der Basis dieser Wehrlosigkeit, die man ja hat, wenn jemand möglicherweise krank ist und man nichts dafür tun kann, daß er gesund wird, und er stirbt."
Walkenbachs Lebensgefühl ist nicht zyklisch, sondern historisch. Deshalb versucht er, seine Geschichte, wenn doch nicht linear, immerhin einigermaßen chronologisch aufzubauen, unterbricht sich allenfalls, wenn er eine Pizza holen geht, einer Erinnerung an eine längst vergangene Reise nachhängt, einen Traum hat, der ihn weit in die Zukunft einer völlig überbevölkerten, hochtechnologisierten, perfekt überwachten Welt führt. Und mit der Zukunft des Autoren und Angestellten am Frankfurter Flughafen Christoph Peters, wie geht es damit weiter? "Ich bekomme ja als Debutant einen Traumstart geschenkt, und denke mir, ich wäre bescheuert, wenn ich den nicht nutzen würde und jetzt in erster Linie an den Flughafen dächte und nicht an das nächste Buch."