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Stadt mit vielen Stimmen

Antakya – das antike Antiochien – gilt als Geburtsstätte des Christentums. Sie liegt auf dem Pilgerweg nach Jerusalem und nach Mekka – und sie rühmt sich heute, die Stadt des religiösen Miteinanders in der Türkei zu sein, wo Muslime, Christen und Juden friedlich zusammen leben

Von Marion Trutter |
    Die Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
    Dann öffnet sich über uns der Raum: eine Höhle, sieben Meter hoch, mit ein paar klitzekleinen Fenstern. Der Raum ist leer – bis auf einen weißen Steinaltar und eine Statue des Heiligen Petrus. Dies ist also der Ort, an dem sich die Apostel um Petrus und Paulus mit ihren Anhängern versammelt haben. Die St. Peters-Kirche – oder kurz Petrusgrotte – gilt als erste christliche Kirche der Welt. Und nicht nur das:

    "Was wichtig ist für diese Kirche und was für alle Christen von Bedeutung wäre, dass die Gemeinde dieser Kirche zum ersten Mal sich Christen nannten. Wenn wir mit dem Priester sprechen unten, er hat einmal so etwas gesprochen, das Christentum wurde in Jerusalem empfangen, in Antiochia geboren und es soll in Rom aufgewachsen sein. Ganz wichtig, dass zum ersten Mal die Christen hier Christen genannt wurden."

    Da sie im Römischen Reich verfolgt wurden, mussten sich die Christen im Verborgenen treffen. Damals, vor 2000 Jahren, lag die Grotte noch schwer zugänglich in den Bergen oberhalb der Stadt Antiochien. Im modernen Antakya aber kann man mit dem Bus bis an den Fuß des Felsens fahren und dann über eine Treppe hinaufgehen.

    Wir sind an diesem Morgen nicht die ersten. Vor uns ist schon eine arabische Familie heraufgestiegen – die Frauen ganz in schwarz, die Mädchen in Jeans mit rosa Kopftüchern. Touristen aus Südarabien, wie unser Reiseleiter erklärt. Gemeinsam erkunden wir die Grotte.

    "Auf der rechten Seite soll es damals eine kleine Quelle gegeben haben, eine Wasserader und diesem Wasser wurde damals auch Heilkraft zugesprochen. Auf der linken Seite dort gibt es einen Fluchtweg. In den ersten Zeiten mussten die Christen ja flüchten, und auch hier haben sie es nicht unbedingt leicht gehabt. Und wenn sie in Gefahr waren, sie haben einen Fluchtweg ausgegraben an der anderen Seite. Wenn Sie hier schauen wollen. Das ist natürlich jetzt versteckt und nicht so wie damals, aber von hier, wenn man weitergeht, könnte man auf der anderen Seite des Berges ankommen."

    Von der Petrusgrotte streift der Blick über Antakya. Man sieht den Orontes-Fluss, Häuser und Gassen, dazwischen Minarette und einen Kirchturm. Der Guide zeigt uns auch, wo die Synagoge liegt. Dann weist er nach Süden: Von hier sind es nur 30 Kilometer bis zur syrischen Grenze und nur 20 bis zum antiken Mittelmeerhafen Seleukia. Von dort startete Paulus zu seiner ersten Missionsreise. Bald schon war Antiochien eine wichtige Station für Pilger. Für Pilger auf dem Weg nach Jerusalem und später auch für Pilger nach Mekka. Das Miteinander der Religionen war nicht immer ganz einfach, doch heute gilt Antakya als toleranteste Stadt der Türkei. Hier leben Türken und Araber, Muslime, Christen und Juden ohne größere Konflikte zusammen.
    Äußerlich ist Antakya nicht gerade eine Schönheit: Schmucklose Häuser ziehen sich vom Orontes die Hügel hinauf, viel Beton, wenig Genuss fürs Auge. Dafür bezaubert die Stadt durch innere Werte.
    Wir besuchen die Habibi-Neccar-Moschee – einen hellen Steinbau mit Kuppel und Minarett. Hier residiert ein sunnitischer Imam, der gerade das Mittagsgebet leitet. Gesänge dringen aus den offenen Türen ins Freie, ein paar Männer und Frauen beten auch unter den Säulen im Innenhof.
    An diesem Platz stand im Verlauf der Geschichte immer abwechselnd eine Kirche und eine Moschee – je nachdem, wer gerade über die Gegend herrschte. Bis heute trägt die Moschee den Namen eines christlichen Märtyrers: Habibi Neccar.

    "Man sagt, dass Habibi-Neccar ein Heiliger war. Er hat als erster an die Apostel von Jesus geglaubt und das ist nicht zufällig gewesen. Er hatte ein krankes Kind und die Apostel haben das Kind geheilt. Und weil er diese Heilung erlebt hat, hat er gleich an Jesus geglaubt und er hat sie verteidigt, die Gemeinde und die Apostel und so weiter. Und deswegen hat er einen Märtyrertod erleben müssen, und für ihn gibt es jetzt eine Moschee. Es ist eine Moschee mit dem Namen eines Christen."

    Wir statten dem Märtyrer einen Besuch ab. Der Imam persönlich führt uns hinunter in die Gruft, wo Habibi Neccar in einem schlichten Sarkophag begraben liegt.
    Wir spazieren weiter – durch die Altstadt zur Syrisch-Orthodoxen Kirche. Sie gilt als eine der großen Sehenswürdigkeiten Antakyas – und das auch äußerlich:

    "Die Kirche ist wunderschön gebaut, es ist eine Steinkirche, die im Jahr 1872 noch einmal aufgebaut wurde aufgrund eines Erdbebens. Heute sehen wir zehn Säulen: auf der rechten Seite fünf Säulen und auf der linken Seite fünf Säulen, die für die zehn Gebote stehen. Die zwölf Fenster in der Kuppel deuten auf die zwölf Apostel hin, die großen Fenster auf der rechten und linken Seite erinnern ebenfalls an die Apostel. Es gibt einen wunderschönen Chor, es gibt einen Thron des Patriarchen.
    Die mittlere Tür ist nur für den Priester, die mittlere Tür, die in das Allerheiligste hineinführt durch die Ikonostase hindurch führt. Es gibt ganz viele Heiligenbilder, es gibt ganz viel Raum, wo man Kerzen anzünden kann und die Heiligen ja auch mit verehren kann. "

    Schwester Barbara Kallasch, in Wiesbaden geboren, lebt seit 32 Jahren in Antakya. Kennen lernte sie die Stadt bei einer Pilgerreise nach Jerusalem. Sie kam zurück – und blieb. Mitten in der Altstadt, in einem Gewirr aus Gassen, Häusern und kleinen Läden, hat sie eine Oase geschaffen – ein Haus der Begegnung:

    "Was Sie hier sehen, ist ein Teil von unserem Zentrum. Wir sind ganz stolz drauf, dass wir in der nächsten Nachbarschaft einer Moschee hier wohnen dürfen. Hier gibt es eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche in nächster Nachbarschaft. Und diese Straße nennen wir Straße der Freunde, die sich inmitten dieser Moschee, Kirche und Synagoge hindurchzieht. Und das Projekt nennt sich "Haus Pax", Haus Frieden, und das Stadtviertel nennen wir "Dreieck Abrahams". Und wir können mit Sicherheit sagen, dass hier die Apostelgeschichte selbst stattgefunden hat. "

    Im Begegnungszentrum von Schwester Barbara können neben türkischen Studenten auch Pilger und Touristen wohnen – sehr einfach, aber mitten im Leben.

    Um die Ecke in der katholischen Kirche warten Pilger aus Italien gerade auf ihren Gottesdienst – und nur ein paar Schritte weiter sitzt die jüdische Gemeinde im Garten bei Kaffee und Kuchen. Ihre großen Feste – und darauf legen sie sehr viel Wert – feiern die Anhänger der verschiedenen Religionen gemeinsam. Und gemeinsam singen viele auch im Chor der Zivilisationen:

    "Wir singen mit Begeisterung, so wie es ein Heiliger einmal gesagt hat: Wer ein Lied singt, betet doppelt. Wir denken, dass der heilige Petrus, der auch hier in dieser Altstadt gelebt hat, eines Tages den Schlüssel des Paradieses hier verloren haben muss – und wir haben ihn gefunden. Und das ist unser Notenschlüssel heute. Wir glauben, dass Musik etwas Verbindendes ist und eine Sprache des Herzens und uns Menschen zusammenführt, Völker zusammenführt und Menschen jeglicher Religionen und Rasse."

    Heute hat der Chor mehr als 100 Mitglieder: Katholische, protestantische, orthodoxe und armenische Christen, sunnitische und alawitische Muslime und einige Vertreter der kleinen jüdischen Gemeinde. Jede Gruppe schlägt ihre Lieder vor, gemeinsam werden sie einstudiert und gesungen.

    Schwester Barbara nimmt uns mit zur Chorprobe: Hundert Köpfe stecken da zusammen in allen Haarfarben – von blond über brünett und rot bis kohlrabenschwarz. Sie schwatzen, sie lachen; wer zu welcher Religion gehört, ist einfach nicht auszumachen. Dann fangen sie an zu singen: 100 Stimmen – eine Melodie.