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Stadtentwicklung
Wie die Corona-Pandemie unsere Städte verändert 

Plötzlich entstanden Pop-up-Radwege, der Autoverkehr wurde eingeschränkt und das öffentliche Leben in den Städten verlagerte sich in die Parks. Was die Corona-Pandemie für Stadtentwicklung und Architektur bedeuten könnte, zeichnet sich schon jetzt ab. Ob die Veränderungen von Dauer sind, muss sich noch zeigen.

Von Mathias von Lieben |
"Spurmacher" malen auf eine Straße in Berlin einen neuen Fahrradstreifen.
"Spurmacher" sind in Berlin unterwegs: Wegen Corona bekam die Straßen der Hauptstadt im Rekordtempo neue Fahrradstreifen. (Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster)
Anfang Juli, ein wolkiger Montagnachmittag in Düsseldorf. Thomas Tönshoff hat Feierabend und fährt wie immer mit dem Fahrrad am Rheinufer entlang nach Hause ins circa 25 Kilometer entfernte Duisburg. Mit einem Unterschied: Er muss mit seinem Rad nicht mehr neben, sondern darf auf der Cecilienallee, einer Düsseldorfer Prachtstraße, fahren. Mit gelb markierten Linien und Pollern sind seit dem 13. Juni zwei der ehemals vier Autospuren als Radweg ausgewiesen:
"Ich kann gefahrlos überholen. Ich bin völlig getrennt von den Autos und auch von den Fußgängern, mit denen man sich häufig in die Quere gekommen ist da drüben. Ist genial. Und die Autos haben genug Platz, jeder eine Spur, absolut in Ordnung."
Pop-up-Radwege in vielen deutschen Städten
Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Düsseldorfs, Thomas Geisel, hat hier mitten in der Corona-Pandemie im Schnellverfahren die erste, sogenannte Pop-Up-Bike-Lane der Stadt eröffnet – einen temporären Radweg, für den eine Autospur wegfällt: drei Kilometer lang, am Wochenende sogar mit verlängerter Strecke: "Also wenn man solche Infrastruktur vorhält, dann kommen die Radfahrer. Das ist ja bekannt: Wer Straßen sät, erntet Autos. Und wer Fahrradwege sät, erntet Fahrräder. Und das ist im Grund auch das, was man kann mir hier erkennen."
Blick auf einen provisorischen Radstreifen im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg
Angesichts des verringerten Autoverkehrs hat der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die Fahrradstreifen verbreitert. (imago images / Klaus Martin Höfer)
Um mehr Raum für Radfahrer*innen zu schaffen, wurden und werden in vielen deutschen Städten gerade Pop-up-Radwege eingerichtet. Argumentiert wird in Düsseldorf, Berlin oder München einerseits mit dem Infektionsschutz: Konventionelle Radwege würden nicht ausreichen, um den in Pandemie-Zeiten gebotenen Abstand von 1,50 Meter einzuhalten. Und andererseits besonders dann nicht, wenn deutlich mehr Menschen als sonst mit dem Fahrrad unterwegs sind: im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt zum Beispiel laut Allgemeinem Deutschen Fahrrad Club 26 Prozent mehr Fahrradbewegungen an den Zählstellen registriert als im Vorjahr. Der Anstieg lässt sich vor allem durch die Monate während der Corona-Pandemie erklären:
"Corona hat sehr deutlich gemacht, dass sich manches im Stadtleben verändern wird, aber auch manches ganz schnell verändert hat. Der öffentliche Raum ist unendlich wichtig geworden. Wenn Sie in die Städte schauen, ist das in Düsseldorf wie in vielen anderen Städten auch. Da wurde gerufen: Schafft mehr Platz für den Radverkehr", sagt die Grünen-Politikerin Cornelia Zuschke, die Beigeordnete für Planen, Bauen & Grundstückwesen im Düsseldorfer Rathaus, das von einer Ampel-Koalition geführt wird.
Autostraßen zu Spielstraßen
In ihren Dezernats-Bereich fällt auch die Verkehrsplanung. Für Zuschke sind die neuen Radwege die sichtbarste, Corona-bedingte Veränderung im Stadtbild – und zugleich die umstrittenste:
"Öffentliche Räume können nicht nur Transit und autodominiert sein, sondern sie müssen Aufenthaltsqualität haben. Sie müssen auch langsamer funktionieren und auch mit mehr Abstand. Und das heißt: Umverteilung. Und deswegen ist es in dieser Sache angelegt, dass man es niemandem recht macht. Weil den einen ist es zu viel, den anderen ist es zu wenig, den anderen geht’s nicht schnell genug, den anderen geht es viel zu schnell mit den vielen Veränderungen."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Dabei entspricht die Entwicklung einem weltweiten Trend: Schon länger räumen europäische Metropolen wie Brüssel, Mailand oder Paris Fußgängern und Radfahrern deutlich mehr Platz ein. London und Wien wollen bald nachziehen – in Skandinavien sind viele Städte bereits autofrei. Und auch in der deutschen Hauptstadt Berlin wurden seit Ende März in verschiedenen Bezirken insgesamt 22 Kilometer Autospuren in temporäre Fahrradwege umgewandelt. Kürzlich widmete der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg an Sonntagen sogar einige Auto- in Spielstraßen um.
Coronakrise beschleunigt viele Entwicklungen
Cordelia Polinna ist Stadtforscherin und Geschäftsführerin des Berliner Beratungsunternehmens Urban Catalyst. Mit ihrem Unternehmen hilft sie bundesweit Kommunen und Regionen bei Umbauprojekten und städtischen Veränderungsprozessen. Derzeit analysiert Polinna mit ihren Kolleg*innen für viele Verwaltungen die Folgen der Corona-Pandemie für Städte:
"Ich glaube, generell haben wir jetzt erstmal verstanden, dass die Coronakrise viele Entwicklungen beschleunigt, die ohnehin ablaufen. Das sind ja Themen, die waren schon in der Stadtentwicklungspolitik durchaus präsent und auf dem Tisch. Aber die haben noch leise geköchelt. Und jetzt durch Corona sind die zu einem Tsunami geworden und müssen dringend auf die Tagesordnung und laufen viel schneller und beschleunigter ab."
Das gelte nicht nur für den Verkehr, sondern auch für den Bereich Bauen und Wohnen oder die Themen öffentlicher Raum und Klimawandel. Und egal ob Berlin im Osten oder Düsseldorf im Westen Deutschlands: Die Corona-Pandemie zwingt Städten die Frage auf, wie sie sich verändern müssen, um krisenfester, nachhaltiger und zugleich lebenswerter zu werden – um damit attraktiv zu bleiben.
Skepsis bei der Verkehswende
Dass die Suche nach Antworten auf diese Frage in einer durch die Pandemie aufgewühlten Stadtgesellschaft zu Konflikten führt, liegt auf der Hand. Die Pop-Up-Radwege in Düsseldorf seien dafür ein gutes Beispiel, sagt die Düsseldorfer Verkehrsdezernentin Cornelia Zuschke:
"Wir merken auch, dass es für solche Belange nicht nur eine Lösung gibt. Die kann auf dem Papier und in der Theorie und sicherheitstechnisch noch so ausgetüftelt sein. Wenn sie auf der Straße nicht funktioniert, gibt’s Ärger. Und es gab richtig Ärger."
Fahrgäste sitzen in einer U-Bahn, wobei eine Frau einen Mundschutz trägt. 
Busse und Bahnen sollen nur noch mit Maske betreten werden. (dpa/ Christoph Soeder)
Daran war die Stadtverwaltung nicht unschuldig. Die Einrichtung des Radwegs wurde erst nicht kommuniziert, dann musste er zwei Mal verändert werden. Die Verkehrsführung war anfangs so irreführend, dass es zu einem großen Durcheinander mit Unfällen kam – zum Ärger der Düsseldorfer Opposition und von Anwohner*innen und Autofahrer*innen.
Bald dürfte die Kritik verstummen. Bis zum 31. August sollen die gelben Fahrrad-Sonderspuren wieder abgekratzt werden. Ein Schicksal, das wohl viele der Pop-Up-Radwege ereilen wird – außer in Berlin, wo sie in dauerhafte umgewandelt werden sollen. War es das dann schon wieder mit der Verkehrswende? Stadtforscherin Cordelia Polinna ist auch wegen einer weiteren Entwicklung skeptisch:
"Im Moment muss man aufpassen, dass nicht der ÖPNV zu einem Verlierer der Corona-Krise wird, weil er gerade einfach stigmatisiert ist, weil dort in den geschlossenen Räumen die Ansteckungsgefahr möglicherweise höher ist. Das wäre natürlich eine Entwicklung, die negativ ist."
Öffentlichen Nahverkehr verliert an Attraktivität
Während des Lockdowns sank die Zahl der Fahrgäste im Öffentlichen Nahverkehr nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen auf 20 Prozent des üblichen Aufkommens. Inzwischen liegt sie zwar wieder bei 40 bis 60 Prozent. Doch ein Ergebnis der Corona-Mobilitäts-Studie MOBICOR, die das Bundesbildungsministerium kürzlich in Auftrag gegeben hatte, lässt aufhorchen: Allein im Mai sind mehr als ein Drittel der Fahrgäste auf das Auto umgestiegen. Und: 30 Prozent aller Wege wurden während des Lockdowns zu Fuß zurückgelegt - ein historisches Hoch. Mit dem Ergebnis, dass Parks und Grünflächen bevölkert waren wie nie zuvor.
Städten wie Düsseldorf und Berlin hat das vor Augen geführt, wie wichtig großzügige Freiflächen in der Stadt sind. Der öffentliche Raum müsse daher sicher und attraktiv für Stadtbewohner*innen aller Altersgruppen sein, sagt Cordelia Polinna von Urban Catalyst:
"Dann war es super wichtig, dass wir hier in Berlin auf’s Tempelhofer Feld gehen konnten oder an die Spree, in den Treptower Park oder selbst in kleine Quartier-Parks. Das ist eine ganz wichtige Qualität von Stadt – also fußläufig erreichbare Grün- und Freiräume. Und da hat sich jetzt gezeigt, dass Städte, die solche Nutzungen und Flächen haben, einfach besser aufgestellt sind."
Klimawandel nicht vergessen
Diese Erkenntnis hat Konsequenzen für zukünftige, stadtplanerische Prozesse. Doris Kleilein und Friederike Meyer sind Architektur-Journalistinnen und derzeit Fellows am Thomas Mann House in Los Angeles. Gemeinsam untersuchen sie, wie die Pandemie das städtische Leben beeinflusst – und welche Erfahrungen daraus für eine gemeinwohlorientierte Stadtplanung erwachsen können. Doris Kleilein sagt:
"Nach dem Lockdown ist auch immer vor dem Lockdown: Corona ist eine von vielen Krisen, die noch kommen werden. Von Corona geht es direkt in das Thema des Klimaschutzes."
Ein Pärchen und eine Einzelperson hocken auf einer Wiese an einem Abhang.
Menschen sitzen mit Abständen in einem Park in Berlin. In der Coronakrise entdeckten viele den Wert von Parks. (picture alliance/Xinhua)
Laut einer Studie der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, gehört Berlin zum Beispiel zu den künftig am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen in Deutschland - auch bedingt durch den sogenannten Wärmeinseleffekt: Wenn Wohnviertel dicht bebaut sind und Grünflächen fehlen, heizen sich Städte im Vergleich zum Umland auf. Zwar gibt es in Berlin viele Parks, Wälder und Seen. Doch selbst große Flächen wie das Tempelhofer Feld versorgen immer nur die umliegenden Wohnblöcke mit der nötigen Kaltluft:
"Die Städte bereiten Klimaschutzpläne vor. Das hat man natürlich auch schon vor Corona gemacht, weil klar wurde, dass es durch den Klimawandel insgesamt heißer wird. Auch Frau von der Leyen will ja auf europäischer Ebene den Green New Deal für Europa. Und das ist auf der Ebene der Bürgermeister im Endeffekt dasselbe Thema."
Künftig keine Wohnungen ohne Balkon mehr
Eine weitere Erkenntnis der Pandemie: Menschen, die über einen Balkon oder gar einen Garten verfügen, haben in Lockdown-Zeiten größere Freiheiten und können Krisen besser meistern. Für die anderen habe sich gezeigt, sagt Friederike Meyer, wie beengend die Dichte der Stadt sein kann:
"Man hatte häufig den Eindruck, die Wohnungen werden regelrecht hingemetert. Es geht um Quantität, um Quadratmeterzahlen, um Stockwerke. Was man auf den immer teurer und immer weniger werdenden Grundflächen möglichst noch einfügen kann. Das hatte zur Folge, dass viele Wohnungen keine Balkons hatten. Und jetzt merkt man, was das für Auswirkungen hat, wenn ich in einem Wohnregal eingepfercht bin."
Meyer prognostiziert: Zukünftig werden keine Wohnungen mehr ohne Balkon gebaut.
Dass dies alles wichtiger wird, zeigt auch der Trend zum Home-Office. Zwar kehren mittlerweile viele Arbeitnehmer*innen in die Büros zurück. Doch gehen längst nicht mehr nur große Tech-Unternehmen wie Facebook davon aus, dass rund 50 Prozent ihrer Angestellten in einigen Jahren dauerhaft ins Home-Office wechseln könnten. Gerade für Familien werden offenere Grundrisse daher wichtiger, die ein Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten und Kinderaufsicht ermöglichen, sagt die Düsseldorfer Verkehrs- und Baudezernentin Cornelia Zuschke:
Ein bunter Sonnenschirm steht auf dem Balkon eines Mietshauses aus den 1920er/1930er im Stadtteil Steglitz in Berlin am 12.06.2020. Foto: Wolfram Steinberg/dpa | Verwendung weltweit
Ein Sonnenschirm auf dem Balkon. In der Coronakrise war ein Balkon Gold wert. (dpa)
"Wir haben das verlernt in der sektoralen Stadt, die eben Wohnen und Arbeiten sehr deutlich getrennt hat. Und wir kommen jetzt wieder zurück zu der Stadt, wo Wohnen und Leben, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach möglich sein soll. Wir müssen uns also darüber Gedanken machen, wie Grundrisse von morgen aussehen. Wie zum Beispiel auch die standardisierte Sozialwohnung, die geförderte Wohnung, ob die nicht vielleicht auch andere Möglichkeiten braucht, ob die flexibler ist."
Blick in die Zukunft in Berlin Kreuzberg
Wie die Zukunft aussehen könnte, davon bekommt man in Berlin Kreuzberg eine leise Idee. Neben der ehemaligen Blumengroßmarkthalle stehen drei Wohn-, Gewerbe- und Atelierhäuser. Neben Seminarräumen, Mini-Ateliers und Werbeagenturen befinden sich in der zweiten Etage des mittleren Hauses auch die Redaktionsräume der Berliner Architekturzeitschrift Arch+. Einer der drei Co-Herausgeber, Anh-Linh Ngo, empfängt an der Tür:
"Die Eingangssituation ist so, dass wir uns hier entscheiden können, in drei Richtungen zu verteilen."
Gleich geradeaus betritt man das Zentrum der Arch+-Redaktion: ein großes Zimmer mit Oberlicht und Sofa, das je nach Bedarf als Bibliothek, Wohnzimmer, Veranstaltungs- oder Rückzugsraum genutzt werden kann. Es ist offen nach allen Seiten. Die schalldichten Flügeltüren rechts und links können bei Bedarf zugeklappt werden, um den Raum von den regulären Redaktionsräumen zu isolieren, die in U-Form außen herum verlaufen:
"Das ist das Grundmotiv dieses Grundrisses. Dass wir sehr schnell die Räume isolieren in einzelne Räume, dass die Mitarbeiter auch entsprechend isoliert sein können. Aber wir können auch den gesamten Grundriss öffnen und miteinander verbinden."
Ein Vorhang trennt den privaten Bereich
Das sei gerade in Pandemiezeiten hilfreich gewesen. Und der Grundriss bietet sogar private Nutzungsmöglichkeiten: Anh-Linh Ngo arbeitet hier nicht nur, sondern wohnt gemeinsam mit dem Architekten Arno Löbbecke auch vor Ort:
"Ich kann hier einfach den Vorhang zu oder auf, also das heißt, ich kann mich einfach dahinter verstecken und werde dann nicht gesehen. Das ist so die leichteste Schwelle oder Grenze, die man ausbilden kann."
Hinter einem silbernen Vorhang beginnt mit der Küche der private Bereich der beiden. Ist der Vorhang zugezogen, bedeutet das für die Kolleg*innen: kein Zugang, Privatsphäre gewünscht. Ist er offen, kann die Küche entweder mitgenutzt oder bei Veranstaltungen zu einer Bar umgewandelt werden. Hinter der Küche wiederum ist das Badezimmer, links ein Arbeitsraum - und rechts das Schlafzimmer:
"Das Problem mit dem Schlafzimmer ist ja: Es steht tagsüber immer leer und das Bett besetzt das gesamte Zimmer. Und dann kann man es nicht nutzen. Und von daher ist diese altbewährte Lösung mit einem Klappbett wirklich sinnvoll, weil wir dadurch ein zusätzliches Zimmer gewinnen. Tagsüber könnte ich mich zurückziehen und das wird dann zum Lesebereich oder Musikzimmer. Und man kann das Bett auch wieder schnell verschwinden lassen. Zack haben wir ein Zimmer mehr."
Flexible Raumgestaltung für Leben und Arbeiten
Die gesamte Fläche der Immobilie von knapp 250 Quadratmetern, inklusiv zweier Balkone, wird sowohl im privaten, als auch im redaktionellen Teilbereich optimal genutzt. Und: Wohnen und Arbeiten radikal miteinander verbunden:
"Tagsüber dehnt sich das Arbeiten stark aus. Brauche dann kein Wohnzimmer und kein Schlafzimmer in der Zeit. Dann sind alle Räume geeignet zum Arbeiten. Abends kehrt sich das komplett um. Man kann dann schnell den Besprechungsraum für ein Dinner nutzen. Das vermischt sich dann je nach zeitlichem Ablauf."
Diese flexible Raumgestaltung mit Bewegungs- und Isolationsmöglichkeiten, sagt Anh-Linh Ngo, war nie so wichtig wie während des Corona-Lockdowns. Es räche sich nun, dass in der Vergangenheit nur noch profitable Standard- und Familienwohnungen gebaut wurden. Ihr Grundriss passe nicht zu parallelem Wohnen und Arbeiten, "weil wir gesehen haben, welche soziale Folgen der Lockdown und die Isolierung der klassischen Kleinfamilie hatte. Alle Familien waren überfordert damit, Homeoffice, Home-Schooling und Pflegearbeit miteinander kombinieren zu müssen. Und das funktioniert aber nur, wenn man isolieren oder öffnen kann."
Und dafür biete ihr Experiment die besten Voraussetzungen. Anh-Linh Ngo geht zurück in den zentralen Aufenthaltsraum:
"Übertragen auf ein Wohnhaus wäre das hier der Gemeinschaftsraum, wo man sich trifft, die Kinder spielen können, wo Care-Arbeit stattfinden kann, während andere Eltern in ihren Bereichen Homeoffice machen können und dann wechselt man sich ab. Corona ruft eher dazu auf, sich stärker mit diesen gesellschaftlichen Fragen des Wohnens auseinandersetzen als das man sagt: Die Wohnung, Tür zu und dann ist alles gut."
Ein Ausnahmeprojekt
Allerdings: Möglich ist die Arch+-spezifische Verbindung von Wohnen und Arbeiten nur, da es sich bei der gesamten Immobilie um das erste planerische Konzeptvergabe-Verfahren Berlins handelte. So konnte die Baugruppe Frizz23 den kulturellen gewerblichen Neubau überhaupt erst errichten. Der Inhalt war wichtiger als der Preis – eine sinnvolle Strategie, um städtische Entwicklungen aktiv mitzusteuern, sagt Ngo.
Was bei Arch+ zu funktionieren scheint, sei von der Realität jedoch noch weit entfernt, sagt Stadtforscherin Cordelia Polinna. Viele Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen hätten derzeit ganz andere Sorgen:
"Sicherlich ist eine flexible Wohnung, wo man die Räume unterschiedlich nutzen kann, eine tolle Sache. Das ist sicherlich aber auch eine Kostenfrage. Und 90 Prozent der Stadt mindestens stehen. Und wir müssen auch immer beachten, dass die Leute, die im Homeoffice arbeiten, das ist eine absolute gesellschaftliche Elite. Ganz viele Menschen, gerade auch mit einer nicht so guten Bezahlung, können sich das nicht aussuchen. Und da müssen wir, glaube ich, auch aufpassen: Über wen reden wir hier und wen blenden wir völlig aus?"
Kommunen vor großen Herausforderungen
Im Angesicht der Corona-Pandemie stehen Städte und Kommunen also vor großen Herausforderungen. Sie müssen wirtschaftliche und soziale Härtefälle abfedern, Wohnungen und Grünflächen umgestalten, ein verändertes Mobilitätsverhalten kanalisieren, den öffentlichen Raum neu denken – und dürfen dabei den Klimawandel nicht aus den Augen verlieren. Ob sie darauf vorbereitet sind?
"Ich denke, das hängt zu einem gewissen Grad auch von der Finanzkraft der Kommunen ab."
"Aber aufgrund der wirtschaftlichen Krise, die sich jetzt auf die Pandemie draufsetzt, sind drastische Einbußen bei den Steuereinnahmen zu erwarten. Und das wird sich massiv auf die öffentlichen Haushalte niederschlagen. Und das wird dazu führen, dass Fördergelder für Kitas wegbrechen, dass wahrscheinlich auch Personalressourcen eingespart werden müssen mittelfristig, Stellen vielleicht nicht besetzt werden. Und deswegen letztendlich die Krise dann doch nicht so gut bewältigt wird."
Unterschiede zwischen Städten werden größer
Schon jetzt gibt es große Unterschiede bei der Finanzkraft von Städten. Während Düsseldorf vor der Coronakrise schuldenfrei war, trug das weitaus größere Berlin eine Schuldenlast von 57 Milliarden Euro. In der Hauptstadt sondiert der Finanzsenator auch mit Blick auf neue, krisenbedingte Schulden bereits Sparmöglichkeiten bei Personaleinstellungen oder Bauprojekten. Dabei werde genau dort das Geld dringend benötigt, sagt Beraterin Polinna. Sie prophezeit:
"Ich denke, das könnte in vielen Städten ein wichtiges Thema für Wahlkämpfe und die nächsten Monate sein, wie die Stadt jetzt auch durch die Pandemie kommt. Jetzt auch gerade in den Sommermonaten, wo viele Leute nicht wegfahren können. Wie eine Stadt so etwas managt, ist eine wichtige Frage, weil die viel darüber sagt, wie ist Verwaltung aufgestellt, was sind politische Prioritäten und wie geht eine resiliente und gute Stadtentwicklung, die wirklich auf den Menschen schaut."