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Stadtsoziologe
Wenig Willkommenskultur in den neuen Bundesländern

Der beste Ort für die Integration von Zuwanderern sind die großen Städte mit funktionierenden Arbeitsmärkten und einer bestimmten politischen Offenheit, sagte der Stadtsoziologe Walter Siebel im Deutschlandfunk. "Das finden wir eher in den westdeutschen großen Städten."

Walter Siebel im Gespräch mit Karin Fischer | 11.09.2015
    Ein Aufkleber "Asyl-Wahn Stoppen - Nein zum Heim - Wutbürger" klebt am 23.06.2015 an einem Laternenmast in unmittelbarer Nähe des Leonardo-Hotel in Freital (Sachsen).
    Stadtsoziologe Siebel: "Wo es Wohnraum gibt, da sind die Integrationsvoraussetzungen nicht besonders günstig." (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Karin Fischer: Rund 350.000 neue Wohnungen pro Jahr müssen in Deutschland gebaut werden. Diese Zahl nannte die Bundesbauministerin Barbara Hendricks heute auch angesichts des Zustroms von Flüchtlingen, die untergebracht werden müssen. Dass leer stehende Turnhallen wie im Katastrophenfall keine Lösung sind, ist ersichtlich. Auch die Wiederbelebung ostdeutscher Landstriche durch eine Ansiedlung von Flüchtlingen scheint nicht sehr aussichtsreich, angesichts der Tatsache, dass es dort ziemlich wenig Arbeit, aber ziemlich viel Rassismus gibt. Walter Siebel forscht seit Jahrzehnten an der Universität Oldenburg zum Thema Stadtentwicklung. Er ist Stadtplaner und Stadtsoziologe. Und ihn habe ich vor der Sendung gefragt, welche Sicht er und seine Kollegen auf das Thema Wohnraum für Flüchtlinge haben.
    Walter Siebel: Zunächst einmal eine ganz alltägliche und ganz normale. Es handelt sich um eine extreme Notsituation. Die Menschen, die hier ankommen, müssen mit Essen, mit Kleidung und angesichts des Winters vor allem natürlich mit einem Dach über dem Kopf versorgt werden. Und das Problem, das sich dabei stellt, haben Sie schon benannt: Wo es Wohnraum gibt, da sind die Integrationsvoraussetzungen nicht besonders günstig, und wo die Integrationsvoraussetzungen besser sind - das ist vor allem in den großen Städten -, da fehlt Wohnraum.
    Fischer: Inzwischen hat die Bundeswehr Kasernen zur Verfügung gestellt, in Halle soll ein Maritim-Hotel zur Flüchtlingsunterkunft werden, auch Plattenbauten, die sonst dem Abriss geweiht wären, kommen wieder ins Gespräch. Was wäre - Sie haben das ja schon vorformuliert - aus Sicht der Stadtplanung ein guter, was ein weniger guter Standort, konkret gesprochen?
    Siebel: Zunächst mal kann man froh sein, wenn man überhaupt genügend Standorte in so kurzer Zeit und mit halbwegs humanen Wohnstandards zur Verfügung stellen kann, und um Notmaßnahmen wird man gar nicht herum kommen. In Berlin ist das ja schon geschehen mit einem Bankgebäude. Man wird auch darüber nachdenken müssen, inwieweit man länger leer stehende Gebäude auch gegen den Willen der Eigentümer nutzt für die Unterbringung von Flüchtlingen. Aber das Entscheidende ist ja: Was passiert mittelfristig und langfristig. Das heißt, wie gelingt nicht nur die Unterbringung und Versorgung dieser Menschen, sondern wie gelingt ihre Integration.
    Einwanderungsquartiere als Rückzugsfalle
    Fischer: Was nun die Wohnsituation betrifft, sehen wir ja aber auch an den Trabantenstädten deutlich, was eines der größeren Probleme der Zukunft werden kann, nämlich Gettoisierung, die einer besseren Integration ja oft entgegensteht.
    Siebel: Das Wort Getto ist ein sehr dramatisches Wort. Wenn Sie an die Gettos der Schwarzen in den großen Städten der Vereinigten Staaten denken, dann haben wir hier keine Gettos. Man spricht normalerweise in der internationalen Forschung von einem ethnischen Viertel dann, wenn eine bestimmte Ethnie mindestens 40 Prozent der Bewohner eines Viertels ausmacht. Das gibt es in ganz Deutschland in keinem einzigen Stadtviertel. Selbst die größte Gruppe der Türken erreicht fast nirgends mehr als 25 Prozent der Bevölkerung eines Viertels.
    Trotzdem sprechen Sie ein zentrales Problem an, nämlich wie günstig oder wie benachteiligend für Integration ist die Konzentration von Flüchtlingen in bestimmten Stadtvierteln. Und leider ist die Antwort nicht so einfach. Auch die Deutschen, die nach Amerika ausgewandert sind, sind zunächst einmal und mit guten Gründen nach Little Germany gezogen, weil sie dort Landsleute fanden, die ihre Gebräuche kannten, ihre Religion kannten, ihre Sprache sprachen. Das heißt, solche Konzentrationen oder Einwanderungsquartiere sind notwendige Brücken der eigenen Heimat in eine fremde Gesellschaft hinein. Nur: Sie sind immer auch Gefahr, zu Fallen zu werden, aus denen man nicht mehr herauskommt, wo man sich zurückzieht in eine eigene sehr restringierte Herkunftskultur.
    Fischer: In den erwähnten Plattenbau-Siedlungen wäre ja immerhin Platz. Seit Anfang der 90er-Jahre sind rund um Berlin, zum Beispiel aus Marzahn, Hohenschönhausen oder Hellersdorf, fast 50.000 Menschen ausgezogen - natürlich heute mit dem entsprechenden Sanierungsbedarf verbunden.
    Siebel: Und sie sind ja nicht ohne Grund ausgezogen. Sie sind ausgezogen einmal in den neuen Bundesländern, weil halt die Arbeitsmarktsituation miserabel war, dort wo sie wohnten; sie sind auch ausgezogen wegen des immer schlechteren Images solcher Siedlungen. Und wenn wir auf Dauer die Flüchtlinge in solchen Quartieren unterbringen, dann werden sie unter denselben negativen Bedingungen zu leiden haben, die auch die Deutschen dort herausgetrieben haben.Der beste Ort für die Integration von Zuwanderern sind die großen Städte mit funktionierenden Arbeitsmärkten, mit einem funktionierenden Bildungssystem, mit einem differenzierten Bildungssystem, mit einem differenzierten Arbeitsmarkt und mit einer bestimmten politischen Offenheit. Die Willkommenskultur in den neuen Bundesländern ist nicht besonders ausgeprägt. Das finden wir eher in den westdeutschen großen Städten. Das Problem ist nur, dass wir dort zumindest kurz- und mittelfristig nicht genügend Wohnraum haben. Aber langfristig werden auch die Flüchtlinge, die sich hier integrieren wollen, dasselbe machen wie die Deutschen. Sie werden dorthin ziehen, wo sie Arbeit finden und wo sie auch willkommen sind.
    Fischer: Walter Siebel war das, Stadtsoziologe und Stadtplaner, über die Herausforderung der Unterbringung von Flüchtlingen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.