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Städtchen im Ausnahmezustand

Drei Tage im Jahr herrscht auf den Straßen der belgischen Stadt Binche der Gille. Mit Trommeln und Besen vertreibt er zum Karneval den Winter und böse Geister, schlürft Austern und Champagner.

Von Nicole de Bock | 03.02.2008
    In Binche, einem kleinen Städtchen in der Wallonie, herrscht drei Tage lang der Ausnahmezustand: Alles dreht sich hier jetzt um eine sonderbare maskierte und kostümierte Figur, um den Gille. Christel Deliege, Direktorin des internationalen Karnevalsmuseums in Binche:

    "Ein Gille ist die Symbolfigur des Bincher Karnevals. Es ist eine maskierte Tanzfigur aus ganz alten Zeiten. Der genaue Ursprung des Gille lässt sich nicht eindeutig festlegen. Vielmehr vermischen sich in dieser Figur Einflüsse des Schamanismus und des Bauerntums. Letzteres ist auch in jedem anderen europäischen Karneval zu finden: Es ging immer um eine Figur, die die böse Geister verjagen musste, bevor die Saat stattfand."

    Die Gilles treten erst am letzten Karnevalstag, am sogenannten fetten Dienstag, in Erscheinung. Etwa 1000 Gilles tanzen dann zum Rhythmus der Trommel durch die Straßen von Binche, alles Männer in identischen rot, gelb, schwarz bestickten Kostümen. Ihre Schultern sind bedeckt mit einem großen weißen Kragen aus Tülle. Auf dem Kopf tragen sie eine weiße Mütze, die noch mit einer Art Taschentuch umwickelt ist. Die Maske aus Tuch und Wachs sieht mit ihrer kleinen grünen Brille und ihrem rothaarigen Schnurrbart edel, streng und sonderbar aus. Um die Taille tragen die Gilles einen Gürtel mit großen Glocken, die unaufhörlich bimmeln. Mit ihren Holzschuhen stampfen sie im Rhythmus der Trommel auf die Straßensteine, stundenlang.

    Dienstagnachmittag, auf dem Höhepunkt des Karnevals, legen die Männer ihre Masken ab und setzen dafür ihren drei Kilogramm schweren Hut auf, der mit Vogelstraußfedern geschmückt ist. Für dieses imposante Bild ist der Bincher Karneval weltweit bekannt! Der Karneval ist auch einmalig durch die strikte Vorgaben, an die sich ein Gille halten muss. So darf er zu keiner Zeit betrunken sein. Es ist fast wie eine Liturgie, weiß Christel Deliege:

    "Um Gille werden zu können, muss man in Binche geboren sein oder hier schon sehr lange wohnen. Man braucht Paten, die versichern, dass man die Bincher Traditionen kennt. Man muss sehr strenge Regeln befolgen: Immer wenn man das Kostüm trägt, darf man nicht rauchen, seine Frau nicht umarmen, keine Kinder auf dem Arm tragen, man darf auf der Straße nicht essen, sich nicht hinsetzen. Das geht unheimlich weit, zum Beispiel: Frauen dürfen gar kein Gille werden oder ein Gille darf sich öffentlich nur mit Trommelbegleitung zeigen. Der Karneval ist also sehr streng reglementiert und schon daher etwas Besonderes. Wer kann in unserer individualistischen Welt schon behaupten, in einer Stadt zu wohnen, in der alle einen Code befolgen, der eigentlich keinen praktischen Sinn hat."

    Ab vier Jahren darf ein Bincher Junge ein Gille sein. Der zehnjährige Gordon ist bereits zum sechsten Mal dabei. Es macht ihm richtig Spaß und er ist sehr glücklich, mitmachen zu dürfen. Er weiß auch genau was er da macht: Er verscheucht den Winter mit seinem Reisigbesen und indem er mit den Holzschuhen auf der Straße klappert. Gordons Vater, Gauthier de Winter, ist Vorsitzender der Bincher Karnevalsvereine und wird selbst in diesem Jahr zum dreißigsten Mal den Gille verkörpern!

    "Ich kann es nicht lassen. Es ist fast wie eine Droge. Man fängt als kleines Kind an und wird dann von diesem Rhythmus fasziniert. Dieses Trommeln schafft so eine magische Verbindung zwischen den Menschen. Ich bekomme Gänsehaut wenn ich es erzähle. Wenn ein Karneval zu Ende ist, konzentrieren wir uns schon auf den Nächsten. Wir können nicht damit aufhören."

    Der Bincher Karneval wird ein ganzes Jahr lang vorbereitet und beginnt schließlich sechs Wochen vor den fetten Tagen mit mehreren Musikprobetagen und Bällen für die Jugendlichen. Die Festivitäten kosten den teilnehmenden Familien viel Geld: Kostüm und Hut müssen gemietet und den Vereinsbeitrag bezahlt werden, es gibt viele eingeladene Gäste und an den drei letzten Tagen feiert man fast rund um die Uhr.

    "Der fette Dienstag ist die Apotheose. Jeder Gille steht um etwa drei Uhr morgens auf und dann beginnt das ’Ankleiden’ des Gilles. Das ist eine richtige Zeremonie, bei der vor allem das Ausstopfen des Kostüms mit Stroh eine wichtige Rolle spielt. Der Gilles bekommt so einen Buckel auf Brust und Rücken. Um fünf Uhr morgens verlässt der Gilles das Haus und holt von Tür zu Tür seine Kollegen ab. Die Vereine gruppieren sich und um sieben Uhr gehen wir in unsere Stammkneipen für das traditionelle Frühstück mit Austern und Champagner. Der Karneval ist dann schon voll im Gange!"

    Echter Champagner gehört als Luxusprodukt genauso zum Bincher Karneval wie die Orangen, die am Karnevalsdienstag ins Publikum geworfen werden. Jeder Gille verteilt etwa 50 bis 60 Kilogramm, rechnet Gauthier de Winter:

    "Noch vor etwa 50, 60 Jahren haben die Gilles Brot oder Süßigkeiten angeboten. Dann kamen Orangen in Mode, die aus Portugal oder Spanien importiert wurden. Das war ein luxuriöses Produkt, das gut ankam beim Publikum. Orangen passten zur Bourgeoisie und der Gille ist ein Bourgeois. Die Orange ist also ein Statussymbol genau wie der Champagner, den wir morgens trinken."

    Der Bincher Karneval also eine exklusive Männerdomäne? Mitnichten, sagt Christel Deliege. Obwohl Frauen kein Gille sein können, spielen sie doch eine bedeutende Rolle. Ohne die Frauen liefe nichts. Bei etwa 1000 Gilles gibt es genau so viele beteiligte Ehefrauen, Mütter, Schwestern oder Freundinnen.

    "Das sind eine Menge Frauen, die alles daran setzten, ihren König des Tages zu umsorgen. Ja, man hat einen König für einen ganzen Tag! Der Gille hat einen Hof von Damen, die dafür sorgen, dass er im richtigen Augenblick das vorgeschriebene Ritual befolgen kann: Dass er seinen Holzbüschel tragen kann, die Orangen parat hat, seine Maske aufsetzen kann. Das ist auch eine Form des Teilnehmens. Die Frauen fragen nicht danach, Gille sein zu können, weil sie stolz sind, ihre eigene Rolle zu erfüllen. Eine wichtige Rolle, die dazu beiträgt, dass die Tradition des Karnevals erhalten bleibt und dass die Männer motiviert bleiben."

    Die Frauen kümmern sich auch um die Fantasiekostüme, die von den Vereinsmitgliedern am Karnevalssonntag getragen werden oder um die Kostüme der Kinder und Jugendlichen. Sie ziehen vor allem am Karnevalsmontag durch die Straßen und verkörpern die anderen typischen Figuren des Bincher Karnevals. So sind die Schüler des katholischen Gymnasiums die "Bauern", mit einer ähnlichen Maske wie die Gilles. Andere Schüler spielen den "Harlekin" und die Kleinen der Grundschule sind die "Pierrots". Eine Großmutter fühlt sich voll im Karneval engagiert.

    "Ja, meine Enkelkinder machen mit ihrer Schule mit beim Karneval. Sie sind die Pierrots. Am Karneval kommt viel Besuch, viele kommen zum Essen, es ist eine gute Stimmung, man wirft mit Konfetti. Das Haus ist voll, drei Tage lang."

    Der Bincher Karneval ist ein echtes Familiengeschehen und sozialer Höhepunkt des Jahres. Treue Teilnehmer werden gebührend honoriert. Der Bürgermeister der Stadt, Laurent Devin, der natürlich auch eine lange Laufbahn als Gille vorweisen kann:

    "Mein wichtigster Kontakt mit den Karnevalsteilnehmern, den Gilles, Pierrots, Harlekins oder den Bauern, findet am Dienstagmorgen statt, wenn ich die Medaillen übergebe. Wir feiern da die Teilnahme derjenigen, die schon lange dabei sind. Es gibt Kindermedaillen und Medaillen für Gilles die 25, 40 oder 50 Jahre mitmachen. Das geht mit viel Emotionen einher, schließlich huldigt die Stadt ihre Bürger! In diesem Moment - ich habe es selbst auch erlebt - ziehen dem Gille vor dem inneren Auge alle wichtigen Etappen seines Karnevallebens vorbei. Solche emotionsgeladenen Momente sind selten und etwas sehr schönes."

    Die große Sammlung an tollen Kostümen, Masken und Hüten des Bincher Karnevals markierte einst den Anfang des internationalen Karnevalsmuseums in Binche. Mittlerweile zeigt das Museum Karnevalskostüme und maskierte Traditionen aus der ganzen Welt. Der Bincher Karneval hat aber immer noch einen Ehrenplatz inne. Auf alten Fotos kann man sehen, wie die Kostümierung im Laufe der Zeit variiert wurde. Auch lernt man hier etwas über die 26 Melodien, die extra für den Bincher Karneval kreiert wurden.