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Stalin "säubert" seine Armee

Die Rote Armee spielte in der jungen Sowjetunion eine unangefochtene Rolle. Doch 1937 beginnt Stalin auch die Armeeführung seiner persönlichen Macht zu unterwerfen: Das Todesurteil gegen den populären Marschall Tuchatschewski wurde zum Auftakt einer monatelangen Terrorwelle.

Von Klaus Kuntze |
    In Moskau liefen Ende April 1937 Gerüchte um, in denen von einer geheimen Verschwörung höchster Militärs gegen die Führung der Sowjetunion die Rede war. Dabei fiel unter anderen der Name Michail Tuchatschewskis. Er war Marschall der Sowjetunion, stellvertretender Verteidigungsminister, er verfügte über große militärische und organisatorische Fähigkeiten, galt als absolut loyal und war sogar populär. Am 1. Mai telegrafierte die Deutsche Botschaft Moskau nach Berlin.

    "Tuchatschewski angeblich erkrankt. War aber bei Maiparade noch anwesend. Durch diese Erkrankung erhalten Gerüchte, dass Stellung Tuchatschewskis erschüttert, neue Nahrung."

    1934 lieferte dem praktisch schon allein herrschenden Josef Stalin die Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow den Vorwand, in der Innenpolitik die Schrauben anzuziehen.

    Hinter dem Mord standen – so die Anklage – parteifeindliche, trotzkistische Kreise. Mit dieser unscharfen Eingrenzung gab Stalin seinem Sicherheitsdienst freie Hand, Gruppen und Personen zu verdächtigen, die ihm bedrohlich erschienen. Erste Höhepunkte erreichte dieser Terror mit den Todesurteilen gegen namhafte Genossen im August 1936 und im Januar 1937. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, schien aber die Rote Armee in dieser Zeit unantastbar. Der Historiker Manfred Hildermeier.

    "Nach ‚ihrem’ Sieg im Bürgerkrieg begriff sich die Armee als vollwertige […] Streitmacht, die sich ganz in den Dienst des revolutionären Staates stellte. Sie entwickelte eine eigene Identität, verbunden mit der Forderung nach einer angemessenen Wertschätzung und Rolle im Staat."

    Stalin hatte sich nach Lenins Tod an die Spitze der Partei gearbeitet. Mit dem Terror, den so genannten Säuberungen, sollten der einfache Bürger, wie auch Staats- und Parteiapparat seiner diktatorischen Machtausübung gefügig gemacht werden.
    Persönliche Ergebenheit gegenüber Stalin hieß das ab Frühjahr 1937 für die Armee, anstelle der bislang geltenden Regimetreue. Stefan Creuzberger, Osteuropahistoriker:

    "Stalin denkt in diesen Kategorien: Möglicherweise könnten sich daraus in kritischen Situationen Widerstand oder auch potentielle Gegner herauskristallisieren und er neigt dann in diesem Fall dazu, einfach prophylaktisch vorzugehen und dann zu säubern und in dem Fall – um es stalinistisch auszudrücken, zu liquidieren, sprich: zu erschießen."

    Stalins Sprachrohr, die "Pravda", schrieb am 24. April 1937.
    "Die Armee soll sich mit Politik beschäftigen und den inneren Gegner ebenso bekämpfen wie den äußeren."

    Galten der deutsche und der japanische Faschismus als die äußeren, so zeigten die folgenden Ereignisse, wen Stalin mit dem inneren Gegner im Auge hatte.
    Am 22. Mai werden Michail Tuchatschewski und etwa zeitgleich weitere hochrangige Kommandeure verhaftet. Eine Woche später beschuldigt Stalin Tuchatschewski, einen antisowjetischen, trotzkistisch-rechten Verschwörungs-Block in der Armee gebildet und Spionage zugunsten des faschistischen Deutschlands gegen die UdSSR betrieben zu haben. Eine Tagung des Militärrats in Moskau Anfang Juni beschreibt der Publizist Rudolf Ströbinger.
    "Nur wer sich des Vertrauens der Partei und Stalins würdig erweise, könne mit Nachsicht und Vergebung rechnen. Einer nach dem anderen treten die Teilnehmer ans Rednerpult, beschuldigen und beschimpfen ehemalige Genossen und fordern deren strenge Bestrafung."

    Am 11. Juni 1937 verurteilt ein geheim tagendes Militärtribunal Michail Tuchatschewski und acht weitere führende Kommandeure zum Tode, das Urteil wird im Morgengrauen des 12. Juni vollstreckt.

    Das Verfahren gegen die Militärführung löste eine Terrorwelle aus, durch die in den
    folgenden Wochen und Monaten hunderte weitere hohe Offiziere ihr Leben lassen mussten. Die Armee wurde gleichsam "enthauptet". Parteichef Nikita Chruschtschow erklärte 1956 die Vorwürfe für unbewiesen, die Opfer wurden voll rehabilitiert.

    "Tuchatschewskis Verhaftung kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er verstand etwas von militärischen Neuerungen, und ich bin überzeugt, dass unsere Armee viel besser ausgebildet und ausgerüstet Hitler hätte entgegentreten können, wäre Tuchatschewski nicht hingerichtet worden."