Für einen leutselig lächelnden Bankier könnte man ihn halten, einen Börsen-Makler, einen Industriellen, aber kaum für einen Botschafter ausgerechnet der Sowjetunion in den dreißiger, vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nichts hat Iwan Maiski äußerlich gemein mit Karikaturen finster blickender Berufsrevolutionäre in Schaftstiefeln und abgewetzter Lederjacke. Er versteht sich als politischer Kopf, der Diplomatie als kreatives Handeln versteht, das Eigeninitiative voraussetzt und über bloße Rapporte für das ferne Moskau hinausgeht.
Ein umtriebiger Netzwerker
Ende Oktober 1937, zur selben Zeit als Stalins "Großer Terror" die Sowjetunion erschüttert, erinnert sich Maiski in seinem Tagebuch an den Beginn seiner England-Mission fünf Jahre zuvor:
"Vor meiner Abreise (auf den Botschafter-Posten) nach London besuchte ich (den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare) Wjatscheslaw Molotov. Er erteilte mir folgende Anweisung: 'Knüpfe so viele Kontakte wie möglich, in allen Schichten und Kreisen! Sei au fait mit allem, was in England passiert, und halte uns auf dem Laufenden.' - Ich befolgte diesen Rat während der Dauer meiner Arbeit in London. Und nicht ohne Erfolg, wie ich sagen darf."
Bald erwirbt sich Maiski den Ruf eines selbstbewussten, umtriebigen Netzwerkers für die Interessen seines Landes. Seine amüsanten, spöttischen bis boshaften Tagebuch-Einträge über die politischen Eliten seines Gastlandes vermitteln faszinierende Einblicke in das politische und gesellschaftliche Leben Londons vor dem Zweiten Weltkrieg und in den Kriegsjahren bis zu seiner Abberufung 1943. Seine Skizzen der britischen Salon-Linken-Szene jener Jahre und deren oft kritiklose Stalin-Verehrung beweisen literarische Eleganz, verführen unwillkürlich zu aktuellen Vergleichen - auch wenn der Hausherr im Kreml heute einen anderen Namen trägt. - Überaus spannend sind Maiskis Analysen rund um das Münchner Abkommen von 1938 und seine - vergeblichen - Bemühungen, ein Bündnis zwischen Moskau, London und Paris gegen Berlin zu schmieden: Maiski - ein hellsichtiger Beobachter der britischen "Appeasement"-Politik, der die Tschechoslowakei 1938 zum Opfer fällt. -
Der "Molotov-Ribbentrop-Pakt": Schock für den Westen
Allerdings muss Maiski, ohne von seiner Moskauer Zentrale vorab informiert worden zu sein, auch Stalins Hinwendung zu Hitler im August 1939 offiziell vertreten - mit zähneknirschender Loyalität, ist zu vermuten. - Der so genannte "Molotov-Ribbentrop"-Nichtangriffspakt mit all seinen Konsequenzen trifft die westlichen Demokratien ins Mark. - Maiski notiert:
"17. September 1939: Das alles schlug in London ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Zwar wird hier schon lange über eine deutsch-sowjetische Vereinbarung zur - in Anführung: 'Aufteilung Polens' – Abführung, geredet und gemutmaßt, aber die Tatsache, dass die Rote Armee die polnische Grenze überschritten hat, entfaltet eine ausgesprochene Schockwirkung. [...] Wie wird man in England auf unser Vorgehen reagieren? Ich rechne mit einer Protestnote, einer wütenden Parlamentsrede des Premierministers und einer Welle der Kritik in der Presse, aber nicht mit mehr."
Die zynische Prognose eines kühl beobachtenden Pragmatikers, der sich dabei zweifellos an der britischen "Appeasement"-Politik kurz zuvor orientiert. - Nur zwei Tage später, am 19. September, verzeichnet er trocken: "Meine Erwartungen machen Anstalten sich zu erfüllen. Am späten gestrigen Abend gab die britische Regierung eine zahnlose Erklärung - nicht einmal eine Protestnote - zu unserem Vorgehen in Polen heraus."
Zum "Großen Terror" hingegen, Stalins "Säuberungswellen" ab Mitte der dreißiger Jahre, ist in Maiskis privaten Aufzeichnungen so gut wie nichts zu finden. Verständlich, denn wer - käme es hart auf hart - hinterlässt schon gerne schriftliche Beweise über vermeintlich anti-sowjetische Gedanken? Maiski, Ex-Menschewik und Sowjet-Diplomat der ersten, nun buchstäblich aussterbenden Generation, weiß, dass es auch ihn jederzeit treffen kann.
"Armer alter Botschafter..."
Gabriel Gorodetsky, verdienstvoller Herausgeber der Maiski-Tagebücher, findet dazu exemplarisch eine Korrespondenz des 1938 ebenfalls in London stationierten US-Botschafters Joseph Kennedy, des Vaters des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy:
"Kennedy ließ(Präsident)Roosevelt wissen, dass Maiski, der ihm eine lange Erklärung zu den (Moskauer Schau-)Prozessen gegeben hatte, 'selbst wie in Todesangst wirkte.' - Nach Kennedys Eindruck wäre Maiski - Zitat: - 'wenn das Telefon geklingelt und er den Befehl zur Rückkehr nach Moskau erhalten hätte, [...] direkt in meinen Armen gestorben, worauf der Präsident antwortete: 'Armer alter russischer Botschafter! Ich hoffe, er wird nicht vor Angst sterben, wenn ihn der Ruf ereilt.'"
Erst der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 verschafft Maiski, dem erfahrenen Brückenbauer zwischen London und dem frischen Anti-Hitler-Verbündeten Moskau, eine Atempause. - Maiskis Begegnungen mit Winston Churchill, seine scharfsinnigen Analysen zur Politik und zu den vermuteten Absichten des britischen Premierministers gehören zu den spannendsten Abschnitten seines Tagebuchs.
"We will continue hand in hand like comrades and brothers until every vestige of the Nazi-Regime has been beaten into the ground!"
"Wir werden wie Kameraden und Brüder Hand in Hand weitermachen, bis jede Spur des Nazi-Regimes in Grund und Boden gestampft ist", rief Churchill im August 1942 in Moskau in die Kameras der Wochenschauen - zu einem Zeitpunkt, als die Sechste Armee von General Paulus schon kurz vor Stalingrad stand. Churchills Reise hatte Maiski zäh und hartnäckig vorbereitet.
Churchill verzögert die "zweite Front"
Dessen demonstrativ deklamierte Verbundenheit mit Moskau war aber schon damals allenfalls als taktisch motiviert zu bewerten. Denn der notorisch skrupellose Pragmatiker und zugleich überzeugte Anti-Kommunist Churchill hegte keinerlei Illusionen über Stalins Regime. Aber: Jetzt galt es Deutschland niederzuringen. Unermüdlich, so stellt Maiski es dar, habe er Churchill gedrängt, endlich die so genannte "zweite Front" zu eröffnen, um die "Rote Armee" zu entlasten. Doch bis zur alliierten Invasion in der Normandie sollten noch fast zwei Jahre vergehen... - Und so notiert Maiski am 2. Juli 1943 vermeintlich unbekümmert:
"Morgen fliege ich nach Moskau. Vor rund einer Woche erhielt ich ein Telegramm mit der Aufforderung, mich zu Beratungen über Nachkriegsangelegenheiten in Moskau einzufinden. Sehr gut. Ich freue mich auf die Chance, meine Leute wiederzusehen und wieder einmal 'heimatlichen Boden zu betreten.' - Ich glaube indes, dass dahinter mehr steckt als nur Konsultationen. Mir scheint, dass Moskau mit meiner Rückberufung vielleicht auch seinen Unmut darüber bekundet, dass die britische Regierung in der Frage der zweiten Front wortbrüchig geworden ist."
Ein in weiten Teilen glänzend geschriebenes Kapitel Zeitgeschichte enthüllen diese erst vor kurzem entdeckten Tagebücher. Sie liefern substantielle, ergänzende Einblicke bis hin zur Vorgeschichte des Kalten Kriegs. - Allerdings: Ein wenig Zeit und Ausdauer sollte schon mitbringen, wer sich Maiskis knapp 900 Seiten umfassende Tagebücher zulegen möchte. Immerhin: Die Muße zur Lektüre stellt sich nach den ersten Seiten ganz rasch von selbst ein.
Gabriel Gorodetsky (Hrsg.): "Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932 - 1943"
C. H. Beck Verlag, 896 Seiten, 34,95 Euro.
C. H. Beck Verlag, 896 Seiten, 34,95 Euro.