Jörg Biesler: Seit am Dienstag die didacta eröffnet hat, die größte Bildungsmesse der Welt, sind wir dort und berichten täglich hier bei "Campus und Karriere" über Digitalisierung an Schulen und Hochschulen, zum Beispiel über Workshops zum leichteren Fremdsprachenlernen oder das Schulsystem in Singapur, dem Land, das bei den PISA-Tests ganz oben steht. Manfred Götzke ist für uns am Deutschlandfunk-Stand in der Hannover-Messe, und heute geht es um das Dauerthema Inklusion. Ich gebe ab nach Hannover, und dann Manfred Götzke.
Manfred Götzke: Genau, denn Inklusion ist ja neben der Digitalisierung das bestimmende Thema. Kein Wunder, in den vergangenen Jahren wurde ja in mehreren Bundesländern, man kann sagen: die Inklusion eingefroren oder sogar zurückgedreht. Nordrhein-Westfalen lässt die Förderschulen, die eigentlich peu à peu abgeschafft werden sollten, jetzt doch erst mal bestehen. Ähnlich sieht die Lage hier in Niedersachsen mit der neuen rot-schwarzen Regierung aus. Bei uns am Messestand ist Raul Krauthausen. Herr Krauthausen, Sie nennen sich Inklusionsaktivist. Wie sehr ärgert es einen Inklusionsaktivisten, was gerade in den Schulen passiert?
Raul Krauthausen: Ich finde es einfach bezeichnend, dass wir die Tatsache, dass Lehrer seit Jahrzehnten immer mehr arbeiten müssen, die Klassen immer größer werden, das sich jetzt irgendwie entlädt in der Debatte an den Kindern mit Behinderung, die jetzt eben auch in Regelschulen natürlich wollen und natürlich auch ein Recht auf Bildung haben, und dass sich diese Debatte an diesen Kindern gerade entlädt, und ich glaube, dass Inklusion bedeutet, dass wir alle Kinder in die Lage versetzen sollten, gemeinsam miteinander zu lernen, und zwar nach dem Tempo, das sie brauchen.
Wir müssen also die Schule den Kindern anpassen und nicht die Kinder der Schule, und das machen wir in Deutschland grundsätzlich falsch. Wenn wir jetzt also über Moratorien in bestimmten Bundesländern reden, dann ist das eigentlich ein Armutszeugnis für die Bildungspolitik in den jeweiligen Bundesländern, weil sie eingesteht damit, dass sie es nicht gebacken bekommen hat, ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu stellen für alle Kinder. Auch nicht behinderte Kinder haben ein Recht auf kleinere Schulklassen, auf bessere Pädagogen, auch nicht behinderte Kinder haben ein Recht auf Förderschulen – könnte man auch mal so sagen –, wir könnten Förderschulen öffnen für Kinder ohne Behinderung, denn das, was wirklich teuer ist, ist, dass wir beide Systeme aufrechterhalten, nämlich das Förderschulsystem und das Regelschulsystem, und das macht es teuer.
Deutschland tanzt auf zwei Hochzeiten, was das angeht, und in der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 unterschrieben hat, steht eindeutig drin, alles, was möglich ist, soll investiert werden in inklusive Bildung und nicht in zwei Bildungssysteme.
"Ein Totalversagen der jeweiligen Landespolitik"
Götzke: Ist man da zu schnell vorgegangen? Also die Politik sagt ja, die Inklusion sei gescheitert, die Lehrer seien überfordert, deswegen müssten wir jetzt erst mal die Förderschulen bestehen lassen. Für Sie kein Argument?
Krauthausen: Na ja, also ich meine, die UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2009 unterschrieben. Also von zu schnell kann hier ja wirklich nicht die Rede sein, wenn wir 2017, 18 über ein Moratorium diskutieren.
Ich glaube, was wir einfach nicht gemacht haben, ist, dass wir Lehrer mitgenommen haben, dass wir Elternschaft mitgenommen haben und dass wir die Schulklassen entsprechend ausgestattet haben. Das ist ein Totalversagen der jeweiligen Landespolitik, muss man auch ganz klar so sehen, und da sollte sich die Politik einfach selbst an die Nase fassen, anstatt zu sagen, na ja, seht ihr, hat ja eh nicht geklappt.
Götzke: Es gibt ja Länder, in denen das ganz gut funktioniert - Schleswig-Holstein, Bremen, die machen schon seit gut 20 Jahren Inklusion. Mangelt es in Ländern wie Nordrhein-Westfalen oder auch Niedersachsen da vielleicht einfach an der Routine seitens der Lehrerschaft?
Krauthausen: Also ich glaube, wir müssen auch ganz klar mal die Frage stellen, wessen Privilegien wir eigentlich gerade zählen. Um es mal provokant zu formulieren: Wir leben in einem Bildungssystem, also in einem Regelschulsystem sagen wir mal, das darauf aus ist, sich zu erhalten und das nicht bereit ist, sich zu verändern. Ich glaube, die letzte große Schulreform gab es 1920, als man gesagt hat, wir beschulen Jungs und Mädchen gemeinsam. Danach ist alles so geblieben, und die Leute, die sich jetzt gegen Inklusion stellen, sind meistens ältere Herren in Gymnasien, die irgendwie meinen, wir brauchen aber hier diese Exzellenzen und diese Eliteschulen.
Ich glaube – was heißt, ich glaube, das ist wissenschaftlich belegt –, dass letztendlich eine vielfältige Klasse, inklusives Lernen, eine bunte Schülerschaft mit entsprechend ausgebildeten Pädagogen für alle Kinder auch im Bildungserfolg besser ist.
Götzke: Was sagen Sie denn den Bildungspolitikern, auch den Lehrern, die sich jetzt eben überfordert fühlen? Also was müsste jetzt geschehen, statt, wie Sie sagen, die Förderschulen zu erhalten, wo Sie sagen, das ist der falsche Weg?
Krauthausen: Also ich würde sagen, ja, ich sehe die Probleme, ich sehe die Probleme, dass es immer mehr Arbeit wird für die Pädagoginnen und Pädagogen an Schulen und Lehrerinnen und Lehrer, aber anstatt, dass wir jetzt nach unten treten und letztendlich die Kinder aussortieren und die unliebsamen rausnehmen, sollten wir nach oben treten und dem Bildungssystem bzw. der Bildungspolitik klarmachen, dass das so nicht weitergeht, denn letztendlich geht es auf jeden Fall immer um Kinder.
Kindern ist es erst mal egal, ob ein Kind eine Behinderung hat oder nicht. Untereinander kommen die super miteinander klar in der Regel. Das heißt, die Einzigen, die ein Problem damit haben, sind Erwachsene, und jetzt tragen wir aber diesen ganzen Konflikt auf dem Rücken der Kinder aus, und wir lassen es sogar zu, dass Elternschaften gegeneinander ausgespielt werden, nämlich Eltern nicht behinderter Kinder gegen Eltern behinderter Kinder, und es wird immer argumentiert, dass die eine oder die andere Kinderschaft langsamer lernt, was einfach de facto nicht der Fall ist, und da müssen wir, glaube ich, als Elternschaft und auch als Bürgerinnen und Bürger ganz klar machen, es liegt nicht an der Eigenschaft eines Kindes, sondern es liegt daran, dass Deutschland im europäischen Vergleich pro Kind viel weniger investiert als zum Beispiel die skandinavischen Länder.
"Wir haben kein Forschungsdefizit, sondern ein Handlungsdefizit"
Götzke: Sie haben sich ja jetzt auch den Koalitionsvertrag der künftigen GroKo angeschaut in Sachen Inklusion. Zu welchem Ergebnis kommen Sie da? Also wird mehr getan für die Inklusion, wird Deutschland mit einer GroKo möglicherweise etwas inklusiver?
Krauthausen: Das Tragische ist ja, dass wir in Deutschland ein Kooperationsverbot haben. Das bedeutet, dass jedes Bundesland in Sachen Bildung sein eigenes Süppchen kocht. Das soll jetzt angeblich in dem neuen Koalitionsvertrag angegangen werden, dass letztendlich das Kooperationsverbot aufgehoben wird. Die Frage ist, ob das auch für die Inklusion gilt, also ob der Bund dann bereit ist, mehr Gelder zur Verfügung zu stellen für entsprechende Schulen zum Thema Inklusion. Da sehe ich noch meine Zweifel, und außerdem habe ich ein großes Problem damit, was im Koalitionsvertrag momentan drinsteht, dass man ganz viel zum Thema Inklusion forschen möchte, dabei haben wir kein Forschungsdefizit, sondern ein Handlungsdefizit. Es ist bereits genug geforscht worden. Man kann natürlich so lange forschen, bis man Gründe findet gegen etwas, aber genauso kann man auch so lange forschen, bis man Gründe findet für etwas, oder man kann einfach mal loslegen und dann die Probleme auf dem Weg lösen. Letzter Punkt, wenn ich darf: Was wir bei dem Thema Inklusion momentan im Koalitionsvertrag vorfinden ist vor allem, dass immer nur geprüft wird, aber es wird niemand verpflichtet, Inklusion zu machen.
Götzke: Sagt Raul Krauthausen, der Inklusionsaktivist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.