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Starkes Porträt einer umstrittenen Generation

Ulrike Edschmid beschreibt immer, was sie kennt, so auch in diesem Roman. Philip S. heißt eigentlich Philip Werner Sauber und war drei Jahre lang mit der Autorin zusammen, bevor er 1975 auf einem Parkplatz in Köln als mutmaßlicher Terrorist erschossen wurde.

Von Marie Luise Knott |
    In Edschmids Prosawerken spielen Fotografien Schlüsselrollen. 2003 hatte sie in "Nach dem Gewitter" zufällig gefundene Foto-Negative zum Ausgangspunkt ihrer Erzählung gemacht. Nun beginnt ihr jüngster Roman mit einem Zeitungsfoto, und im Laufe der Erinnerungen holt die Ich-Erzählerin immer wieder alte Bilder hervor, die ihr von Philip S., dem Protagonisten, geblieben sind. Doch diesmal sind die Fotos kein Anstoß zu eigenen Recherchen, vielmehr helfen sie, das Erinnerte zu sichern. Zudem sind sie Zeugen der Unwiederbringlichkeit.

    Ulrike Edschmid schreibt immer, was sie kennt, und auch "Das Verschwinden des Philip S." beruht auf eigenen Erlebnissen. Kurze drei Jahre lang waren sie ein Paar, sie und Philip, der im wirklichen Leben Philip Werner Sauber hieß und 1975 auf einem Parkplatz in Köln als mutmaßlicher Terrorist erschossen wurde. Er stammte, so erfährt man, aus einer reichen Schweizer Familie, mit der er sich überworfen hatte. Im Herbst 1967 war er auf der Suche nach seiner (eigenen) ästhetischen Wahrheit nach Berlin zur Film- und Fernsehakademie gekommen. Der freundliche, warmherzige und eigenwillige 20-jährige Student fällt auf. Er trägt schon bei der ersten Begegnung mit der Erzählerin den gleichen Schweizer Kälbergurt als Gürtel, den er auch trägt, als er 1975 erschossen wird.

    Kurz nach der ersten Begegnung zieht er mit der Erzählerin und ihrem Kind in eine Fabrik-Etage in Berlin-Schöneberg. Wegen einer Rektorats-Besetzung von der Filmhochschule relegiert, arbeitet er in den Zeiten zunehmender Politisierung eine ganze Weile als Taxifahrer; nach einem Gefängnisaufenthalt sucht er Kontakt zu illegalen Aktivisten, irgendwann verlässt er das gemeinsame Leben und taucht ab. Sie hingegen sucht einen Neuanfang und zieht mit ihrem Kind an die Rhön, wo sie Jahre später in der Zeitung das Foto des Erschossenen sieht.

    Über die Liebe erfährt man wenig, über das gemeinsame Leben, viel. Der Roman rekonstruiert die Stationen der Entfernung konsequent aus der Sicht der Frau. Anfangs teilt Philip S. nicht nur die Wohn-Gemeinschaft, sondern auch die Sorge um den Jungen; er singt ihm Schweizer Einschlaflieder, geht mit ihm in den Zoo, organisiert mit anderen gemeinsam den Kinderladen und rettet in einem grandiosen Einsatz die Fingerkuppe eines der Laden-Kinder.

    Alle sind links, alle verbindet der Kampf gegen die repressive BRD-Gesellschaft, über ihrem Sofa hängt ein Plakat, das die Freilassung aller anarchistischen Gefangenen fordert. Und dennoch wächst Zentimeter um Zentimeter die Distanz zwischen den Liebenden. Mit unheimlicher Genauigkeit beschreibt der Roman, wie Philip S. zum Grenzgänger wird zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit, wie er immer weiter abrückt von der Welt, die sie miteinander teilen. Er verschenkt seine Kamera, vernichtet seine Vergangenheit. Erst trennt er sich von den Gegenständen, später von den Menschen. Langsam präpariert er sich zur Militanz; nur der Kälbergurt erinnert daran, dass er einmal ein anderer war. Das Zimmer, das er bezieht, bevor er ganz in den Untergrund abtaucht, ist so asketisch wie eine Klosterzelle. Er hat sich dem Leben entsagt: ein Bett, ein Tisch, ein Buch.

    Um der eigenen Geschichte neu auf die Spur zu kommen, wählt Edschmid eine Sprache, die sich den üblichen Terminologien und vorgefundenen Begriffen verweigert. Nie ist von "RAF", Terror oder "Bewegung 2. Juni" die Rede, vielmehr bleibt sie bei den kleinen Begebenheiten, traut nur dem eigenen Sinnen; Fakten und Erläuterungen werden sparsam gesetzt, und so können auch wir uns freimachen von den eigenen Vorurteilen über diese "Geschichte", die wir so gut zu kennen glaubten. Manchmal beim Lesen wünscht man sich, jemand hätte einmal – wie Hannah Arendt – den Satz gesagt: "Aber das sind doch unsere Kinder!", statt die Studenten gewaltsam von den Unis zu entfernen. Und dann weiß man: Es hätte eben alles - alles! - auch ganz anders kommen können.

    Ulrike Edschmid sucht in ihrer Erinnerung nach jenen unscheinbaren Momenten, in denen Weichen gestellt wurden und Türen zufielen, die im Augenblick des Erlebens selbst unsichtbar waren. Ein solcher Wendepunkt ist in der Erinnerung der Icherzählerin die falsche Anklage, die sie beide ins Gefängnis brachte. Philip S. wehrte sich gegen die Inhaftierung, er probte im Gefängnis den Aufstand; sie zog sich damals in sich selbst zurück. Die Erzählerin zieht Bilanz:

    "Wir sind nicht an den gleichen Ort zurückgekehrt, nicht in das gleiche Leben. Aber das wissen wir noch nicht."

    "Er hat mich im Gefängnis an seiner Seite gesehen, aber ich war nicht dort, ich war bei meinem Kind. An dieser Unvereinbarkeit zerbricht das gemeinsame Leben. Es geschieht in kleinen Schritten, von uns selbst unbemerkt."

    Tonlos wird die Ohnmacht mitgeteilt. Die Militarisierung der Auseinandersetzungen schreitet voran. Die Hausdurchsuchungen häufen sich.

    "Sie haben jetzt Maschinenpistolen, und mein Sohn wünscht sich ein Gewehr."

    Heißt es lakonisch. Bekanntlich haben die RAF-lerinnen der ersten Stunde, Gudrun Ensslin und Ulrike Marie Meinhoff, ihre Kinder Felix Ensslin und Bettina Röhl auf ihrem Weg in den Untergrund fortgegeben, sie empfanden sie als Hindernisse im Kampf für die "richtige" Sache. Auch die Ich-Erzählerin teilt im Roman die Überzeugungen, die Philip S. in den bewaffneten Kampf treiben. Ein Stück von ihr geht mit ihm; sie hilft, sie fälscht Pässe und transportiert Waffen. Doch was sie rettend auf Distanz hält, ist letztlich die Kraft ihrer inneren Beziehung zu dem Kind. Diese Kraft gibt der Geschichte der extremen Linken, wie wir sie bisher kannten, eine neue Dimension.

    Die Handlung ist im Roman in kleine Szenen geschnitten, die sich gerade in ihrer sinnlichen Intensität wie eine Folge von Filmstills lesen. Jede Einstellung ein Miniaturbild. Die Frage, warum die gemeinsam geteilte Welt nicht stark genug war und warum Philip S. verschwunden ist, lässt die Erzählerin in der Geschichte offen, denn alle Erklärungsversuche, so heißt es, würden ein Netz über ihn werfen, das ihn gefangen hielte. Ulrike Edschmid erzählt mit "Das Verschwinden des Philip S." eine wahre Tragödie. Fernab der üblichen Zuschreibungen gelingt ihr ein unglaubliches Porträt ihrer Generation.

    Ulrike Edschmid, Das Verschwinden des Philip S.
    Roman, Suhrkamp Verlag 2013, 158 Seiten, 15, 95 Euro