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Startschuss für die Ära der Mietskasernen

Industrialisierung, wirtschaftliches Wachstum und Zuzug aus dem Umland ließen Berlin Mitte des 19. Jahrhunderts förmlich aus den Nähten platzen. Der 1862 vorgelegte Hobrecht-Plan sollte Abhilfe schaffen. Berlins erster perspektivischer Bebauungsplan läutete die Zeit der Mietskasernen ein.

Von Jochen Stöckmann |
    Industrialisierung, wirtschaftliche Prosperität und Zuzug aus dem Umland ließen Berlin Mitte des 19. Jahrhunderts förmlich aus den Nähten platzen. 1861 wurden weit mehr als eine halbe Million Einwohner gezählt. Über 15 Prozent von ihnen mussten sich mit acht, neun oder gar zehn anderen ein einziges Zimmer teilen, jeder zehnte Berliner lebte in einer Kellerwohnung.

    "Der König hat den königlichen Polizeipräsidenten beauftragt, jemanden zu finden, der den Bebauungsplan für ihn erstellt, und das ist der James Hobrecht gewesen, der viel in der Welt herumgekommen war. Der hatte sich auch Gedanken darüber gemacht, wie er sehr stark konzentrierte Verhältnisse von Armut und Ausgrenzung in Berlin verhindern kann und er hatte diesen Plan der sozial gemischten Nutzung."

    Der Stadtsoziologe Andrej Holm beschreibt die Motive hinter jenem "Bebauungsplan der Umgebungen Berlins", der am 18. Juli 1862 veröffentlicht wurde. Auf den ersten Blick war unter der Leitung des Ingenieurs James Hobrecht, einem Spezialisten für Eisenbahnbau und Kanalisation, nur ein sogenannter Fluchtlinienplan entstanden.

    "Hobrecht hat die Straßenzüge festgelegt, was er nicht festgelegt hat, ist die Hofgröße, die Parzellengröße, sondern die Blockgröße. Diese Blöcke waren - das ist auch das Besondere in Berlin - sehr groß."

    Diese Berliner Block- oder Quartiersstrukturen sind für die Architektin Hilde Léon ein Ergebnis jener Freiheiten, die Berlins 1862 einsetzende Stadtplanung Bauherren und Investoren einräumte. Beschränkungen gab es nur durch eine Baupolizeiordnung, die nicht mehr als sechs Geschosse erlaubte und das Mindestmaß der Innenhöfe auf einen Durchmesser von 5,34 Meter festlegte – damit damals gebräuchliche Feuerwehrleitern bis ins oberste Stockwerk reichten und Löschfuhrwerke eben noch wenden konnten. So entstanden unter einheitlicher Traufhöhe Straßenfronten mit aufwendigem, meist vorgefertigtem Fassadenschmuck. Dahinter aber wurden die Parzellen bis in den letzten Winkel ausgenutzt durch eine Folge von drei, vier und mehr Hinterhöfen – Platz für Arbeiterwohnungen dicht an dicht. Eine Art Gründerzeit-Standard.

    "Vorder- und Hinterhäuser - in vielen anderen Städten eine eher untypische Struktur, die wir hier in Berlin aber sehr ausgeprägt haben. Ein großer Vorteil für die Investoren und Bauherren: eine maximale Ausnutzung der Grundstücke! Das andere war, dass dadurch sehr unterschiedliche Wohnverhältnisse und Wohnqualitäten auf einem Grundstück, auf einer Parzelle entstanden sind."

    Andrej Holm erinnert an einen sozialreformerisch klingenden Anspruch, den der Stadtplaner James Hobrecht erst Jahre nach dem Entstehen dieser Mietskasernen formulierte, nämlich 1868 in seiner Schrift "Über die öffentliche Gesundheitspflege":

    Nicht "Abschließung", sondern "Durchdringung" scheint mir aus sittlichen und darum aus staatlichen Rücksichten das Gebotene zu sein. In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Weg nach dem Gymnasium. Wenn eine Mutter aus dem englischen Arbeiter-Viertel ihr Kind ungewaschen, ungekämmt und zerlumpt umherlaufen lässt, so wird sich die Mutter aus der Kellerwohnung einer Mietskaserne doch scheuen, dies zu tun, denn sie weiß sich beobachtet und dem Tadel besserer Mitbewohner ausgesetzt.

    "Getrieben war das vielfach auch von der Angst, dass es konzentrierte Armutsviertel gibt und die dann auch unkontrollierbar sind, als Hort von Revolten, Aufständen und moralischem Verfall."

    Über Hobrechts Absichten und vor allem über die tatsächlichen Ergebnisse seiner Planung ist lange gestritten worden. Der Historiker Werner Hegemann geißelte die Mietskasernen in den zwanziger Jahren als "Gefängnisse" und "Verbrechen an der Berliner Bevölkerung". Die in Ost-Berlin aufgewachsene Autorin Daniela Dahn dagegen erinnerte sich 2001 in ihrer "Prenzlauer Berg-Tour" gerne an "Hinterhöflichkeit" und meinte damit das Gefühl, "direkter als anderswo füreinander verantwortlich zu sein". Und die Architektin Hilde Léon konstatiert:

    "Natürlich ist es keine Erfindung der Berliner, sondern das Hofhaus ist fast ein Archetypus des menschlichen Wohnens. Also, insofern hat es eine wahnsinnig lange Geschichte - und ich behaupte, es wird auch in Zukunft noch weitergehen."