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Stasi differenziert erforschen

Seit fünf Jahren berät ein wissenschaftliches Gremium die Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde bei ihrer Arbeit. Auf einer internen Tagung zeigt sich, dass die Stasi-Forschung einen Richtungswechsel vollzieht.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 01.11.2012
    "Es ist ein Allgemeinplatz und jeder weiß das, dass die Staatssicherheit Schild und Schwert der Partei war. Im Prinzip war die Staatssicherheit ein Teil des Parteiapparates. Aber interessanterweise: Die daraus folgende Schlussfolgerung, nämlich mal zu schauen, wie das eigentlich sich in der historischen Realität, in der Praxis vollzog, das ist in der Forschung bislang viel zu selten nachvollzogen worden."

    Eine bemerkenswerte Selbstkritik am bisher eingeschlagenen Forschungsweg übt Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk. Zwar wisse man heute viel über die innere Struktur der DDR-Staatssicherheit, aber nur wenig über ihre Vernetzung mit der Gesellschaft. Zum Beispiel, wie der Geheimdienst konkret mit Partei, Polizei und Justiz, mit den Massenorganisationen und staatlichen Betrieben kooperiert habe.

    Der Historiker arbeitet beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, kurz BStU. In der hauseigenen Forschungsabteilung untersuchen seit 1992 Wissenschaftler einen Teil dessen, was die Behörde zu bieten hat: 111 Kilometer Stasi-Akten im Berliner Zentralarchiv sowie in den Außenstellen, darunter 39 Millionen Karteikarten – außerdem Foto-, Film- und Tondokumente. Die bei der Behörde Nähe Alexanderplatz derzeit beschäftigten 15 Wissenschaftler greifen privilegiert auf das Material zu: Sie suchen sich die benötigten Akten selbst und lesen sie ungeschwärzt – ohne dies vorher beantragen zu müssen.

    Die inhaltliche Ausrichtung zeigt sich an den bisher veröffentlichten Werken, darunter ein vielbändiges MfS-Handbuch, eine Edition von geheimen Berichten der Stasi an die SED-Führung oder das im vergangenen Jahr erschienene MfS-Lexikon. Priorität genoss bislang zu klären, wie die Stasi aufgebaut war und intern funktioniert hat. Herrschte doch nach der Wende 1989/90 in der Öffentlichkeit eine große Unkenntnis über das Wesen, die Tätigkeit und die Wirkung der Geheimpolizei, sagt der Leiter der Abteilung Bildung und Forschung, Dr. Helge Heidemeyer.

    "Da schossen dann die Vermutungen ins Kraut, inwieweit die Staatssicherheit vielleicht die ganze DDR beherrscht haben könnte, überzeichnet jetzt. Und gerade, um hier auf ein sicheres Fundament zu kommen, war es essentiell, auszuloten: Wie hat die Staatssicherheit gearbeitet und wie groß ist ihr Einfluss im Herrschaftsgefüge der DDR gewesen? Also, die DDR ist kein Stasi-Staat gewesen – auf diese flache Formel könnte man es bringen. Aber ohne die Staatssicherheit zu verstehen, kann man die DDR nicht verstehen."

    DDR gleich Stasi – zu diesem undifferenzierten Bild hätte allerdings auch die DDR-Forschung der frühen 90er-Jahre selbst beigetragen, betonen einige Wissenschaftler der Stasi-Unterlagen-Behörde. Dass die Stasi nicht alle Fäden in der Hand hielt, müsse sich in der öffentlichen Wahrnehmung heute noch durchsetzen. Zu wenig ist immer noch bekannt über den eigentlichen Auftraggeber der geheimdienstlichen und -polizeilichen Tätigkeiten: über die Sozialistische Einheitspartei SED. Zu bequem oder sogar politisch gewollt sei es bislang gewesen, so die Experten, die IM, die Inoffiziellen Mitarbeiter, in den Mittelpunkt zu rücken und ihnen die Schuld für die menschenverachtende Kontrolle und Sanktionen in der DDR in die Schuhe zu schieben.

    Darum vollzieht sich in der Stasi-Forschung derzeit ein Richtungswechsel. So untersucht ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Ilko-Sascha Kowalczuk, dass es in der DDR viele Formen von Denunziation gab – unabhängig davon, ob jemand bei der Stasi mitgearbeitet hat oder nicht:

    "Ganz oft sind bestimmte Denunziationen, die ein staatlicher Funktionär, wer auch immer, gemacht hat, weitaus dramatischer und schlimmer gewesen, als die Arbeit von vielen, vielen IM's. Denn was viele nicht wissen: Nur eine Minderheit der Inoffiziellen Mitarbeiter hat zum Beispiel überhaupt über Personen berichtet, sondern die haben gewissermaßen über Sachkontexte berichtet."

    Zunehmend geraten Mikrokosmen in den Blick der Wissenschaft. An ihrem Beispiel zeigt sich, wie die Stasi in der DDR gewirkt hat. So nimmt ein regionalgeschichtliches Forschungsprojekt Halberstadt unter die Lupe: Welche Rolle spielte das MfS fast 40 Jahre lang in der Kleinstadt im Harz? Wie interagierte es mit der Bevölkerung einerseits und dem Herrschaftsapparat andererseits? In einem anderen Projekt wollen die Historiker herausfinden, inwieweit die Stasi als Bindeglied funktionierte zwischen der staatlichen Umweltpolitik und den Umweltgruppen der 80er-Jahre.

    Doch auch über die DDR-Grenzen hinaus richten die Forscher ihren Blick. Inwieweit kooperierte die Stasi mit den osteuropäischen Staatssicherheitsdiensten? Wie abhängig war sie vom KGB, dem sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienst?

    Neuland betreten die Stasi-Forscher in einer soeben beschlossenen Kooperation mit dem Bundesnachrichtendienst. Dessen Unabhängige Historikerkommission und die Stasi-Unterlagen-Behörde wollen die "Konfrontation von MfS und BND in der frühen Bundesrepublik und DDR" untersuchen. Die aus den jeweils eigenen Akten gewonnenen Erkenntnisse sollen die beiden Behörden austauschen. Wie, das werde noch verhandelt, sagt die zuständige Projektleiterin und Historikerin, Professor Daniela Münkel.

    "Es ist eine historisch einmalige Chance, dass sozusagen ein toter Geheimdienst und ein noch aktiver Nachrichtendienst, dass die Akten abgeglichen werden können. Und so was hat es natürlich noch nie gegeben. Und wir erwarten uns da sehr spannende Ergebnisse, weil – wie gesagt – wir erstmals auch die Akten, die hier bei uns im Hause sind, sozusagen die Gegenüberlieferung uns anschauen können."

    Das Interesse gilt dem MfS als einem von vielen Akteuren in der DDR. Ungeachtet der Diskussion, wie lange es die Stasi-Unterlagen-Behörde und mit ihr die Forschungsabteilung noch geben soll, wollen die Wissenschaftler sich mit dieser Sichtweise fortan in die Akten vertiefen. Kowalczuk:

    "Letztendlich erhoffen wir uns damit auch Neues oder einen Beitrag dazu zu leisten, andere Perspektiven auf Staat und Gesellschaft der DDR zu entwickeln. Weil das natürlich etwas anderes wäre, als wenn man immer nur über die Stasi redet. Und alles, was mit Repression, Unterdrückung und Denunziation zu tun hat, nur immer mit der Staatssicherheit in Verbindung bringt. Wenn man das aufbricht und praktisch die Vielfalt zeigt, dann entstehen andere Gesellschaftsbilder, und zugleich entstehen dann natürlich auch andere Bilder, wie man sich wehren konnte, wie man sich abducken konnte, wie man nicht mitmachen konnte – aber eben auch, wie man mitgemacht hat."