"Meine Tendenz war Richtung Westen schon immer und ein großer Held gewissermaßen war ich auch nicht. Also übers Minenfeld klettern und dieses und jenes und folgendes - das war nicht meine Absicht."
1967 ist der damals 22-jährige Ralf Wolfensteller als DDR-Grenzsoldat an der innerdeutschen Grenze im Harz eingesetzt. Am 25. September des Jahres patrouilliert er wie üblich in einer kleinen Gruppe Soldaten an der Grenze entlang. Als er an einen Grenzbaum gelangt, sieht er seine Chance gekommen. Er rennt los, auf westdeutsches Territorium – in der Überzeugung, dass seine Kameraden nicht das Feindesland betreten würden. Nach rund 60 Metern, sagt er, sei er stehen geblieben. Warum, das kann er sich heute nicht mehr erklären.
"Aber in jedem Fall bin ich stehen geblieben und habe mich seitlich umgedreht und zu meiner totalen Verwirrung steht der Oberleutnant etwa 12, 13 Meter seitlich hinter mir und schon schießt der aus seiner Maschinenpistole aus der Hüfte zwölf Schuss ab a drei Salven a vier Schüsse oder vier Schüsse a drei Salven–ich hab natürlich nicht mitgezählt. Und aus der Hüfte in der Höhe von 80 cm und 135 cm haben mich vier Schüsse getroffen."
Angeschossen und angekettet
Zwei Kugeln bleiben in seiner Brust stecken, zwei gehen durch. Ralf Wolfensteller geht zu Boden. Seine Verfolger überwältigen ihn, schleifen ihn zurück über die Grenze. Auf westdeutschem Gebiet ist zu dem Zeitpunkt niemand in der Nähe, der dem jungen Flüchtenden zu Hilfe kommt. Zurück auf dem Gebiet der DDR wird der schwer verwundete junge Soldat von seinen Kameraden an mehrere Männer in Zivil übergeben.
"Das war ganz klar der Staatssicherheitsdienst. Und dieser – ohne mich überhaupt anzusprechen oder sonst etwas – die legten mir Handschellen um, eine Knebelkette um die Füße, legten mich auf eine Trage und trugen mich in so einen Sani-Bulli, liegenderweise. Dann wurde ich nochmal in dem Fahrzeug an das Gestänge angekettet." Ralf Wolfensteller wird in einem zivilen Krankenhaus im sachsen-anhaltischen Blankenburg notoperiert.
Haftkrankenhaus Hohenschönhausen
Danach ergeht es ihm wie fast allen DDR-Bürgern, die bei ihrem Fluchtversuch an der Grenze verletzt wurden. Er kommt in das Haftkrankenhaus der zentralen Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen: ein langgezogener Bau am Rande der heutigen Gedenkstätte.
Im ehemaligen Haftkrankenhaus steht die Luft. Es riecht muffig. Das sei durchaus Absicht, um die Atmosphäre von damals zu erhalten, sagt der Forschungsleiter der Gedenkstätte in Hohenschönhausen, Stefan Donth. "Der Geruch von den hier verbauten Materialien, also vom Fußbodenbelag, von den verwendeten Reinigungsmaterialien, von der Wandfarbe und ähnlichem - das ist so ein Gesamtkunstwerk, wenn man es mal so bezeichnen will."
Rund 2700 Häftlinge wurden laut den Zahlen der Gedenkstätte zwischen 1959 und 1989 im Stasi-Haftkrankenhaus behandelt. Dazu zählten Grenzflüchtlinge, aber auch andere Untersuchungsgefangene mit gewöhnlichen Krankheiten sowie Haftpsychosen. Das eigene Haftkrankenhaus habe der Staatssicherheit dabei auch zur Geheimhaltung gedient, sagt Stefan Donth.
"Auch um solche Dinge gegenüber der übrigen DDR-Bevölkerung und dem normalen medizinischen Dienst der DDR geheim zu halten. Dass möglichst wenig über diese grausamen Verletzungen, die an der Grenze geschehen sind, dass davon möglichst wenig nach außen gedrungen ist."
Druckmittel Schlafentzug
Auch innerhalb des Haftkrankenhauses versuchten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes die Hoheit über sämtliche Informationen zu behalten. Auf seine Fragen habe das Personal gar nicht erst geantwortet, sagt Ralf Wolfensteller.
"Also Atmosphäre: eine eisige. Keine Worte, keine Erklärung, was mit mir wird oder was da nun dieses Verfahren wäre." Seine Wunden seien professionell versorgt worden, sagt er. Was man ihm jedoch an Medikamenten verabreicht hat, wisse er bis heute nicht. Dazu kam der psychische Druck.
"Das ging also schon den ersten Tag oder die erste Nacht mit Schlafentzug los. Das heißt also, dass man nicht nur durch dieses lebendige Auge, wie wir das nannten, durch diese Klappe schaute – das hat ja ein Geräusch verursacht – sondern es wurde permanent Licht an- und ausgemacht. Also vom ersten Tag an bin ich Schlafentzug unterworfen gewesen."
Vernehmungen am Krankenbett
Besonders getroffen hätten ihn zudem die schweren Vorwürfe gegen ihn: Fahnenflucht, Spionage, staatsgefährdender Gewaltakt. Schon kurze Zeit nach seiner Einlieferung in das Haftkrankenhaus verlasen ihm zwei Vernehmer die Vorwürfe. Ihm drohte jahrelange Haft.
"So hat es begonnen und dann die darauffolgenden Tage, so alle zwei Tage kamen die beiden und haben mich vernommen. Ich lag, die saßen an meinem Kopfende und bearbeiteten mich."
Hand in Hand mit den Ärzten
Die Vernehmer hätten die prekäre Situation der Inhaftierten bewusst genutzt, um Geständnisse zu erzwingen, sagt Stefan Donth. Der Einsatz oder das Verweigern medizinischer Behandlung sei für die Stasi Teil der Vernehmungsstrategie gewesen.
"Nachweisbar ist, dass in vielen Fällen die Ärzte die Vernehmer gefragt haben, welche Behandlungsmethoden sie wählen sollten, welche Schmerzbehandlungen durchgeführt werden sollten, wann diese Behandlungen stattfinden sollten und ähnliche Dinge. Alles Sachverhalte, die auch nach der Maßgabe der DDR, der ärztlichen Schweigepflicht, nicht hätten geschehen dürfen."
Archivunterlagen zeigen: Erst im August 1990, rund zwei Monate vor der Wiedervereinigung, wurde der letzte Gefangene aus dem Haftkrankenhaus in Hohenschönhausen entlassen.
Ralf Wolfensteller war da schon lange im Westen. Er wurde letztlich verurteilt und nach rund vier Jahren Haft von der Bundesrepublik freigekauft.