Dina Netz Die Armen in Deutschland sind immer ärmer und die Reichen immer reicher geworden. Das ist das wichtigste Ergebnis einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die gestern öffentlich vorgestellt wurde und für viel Aufsehen gesorgt hat. Die Forscher haben dabei die Einkommensentwicklung der Deutschen zwischen 1993 und 2009 untersucht. Das Ergebnis bedeutet, die Mittelschicht erodiert weiter, wenn auch nur schwach. Im vergangenen Jahr zählten 61,5 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht, im Jahr 2000 waren es noch 66,5 Prozent. Ein weiteres, bisher weniger diskutiertes Ergebnis der Studie ist die Statuspanik. Die hat die Mittelschicht nämlich. Das heißt, sie hat Angst abzurutschen unter die Armen. Dabei belegen die Zahlen doch, dass die Gefahr zumindest kurzfristig gar nicht so groß ist. Den Soziologen Hartmut Rosa von der Universität Jena habe ich gefragt: Ist diese Statusangst also mehr eine gefühlte Angst als eine reale?
Hartmut Rosa Ja, das, glaube ich, kann man schon sagen. Also wie Sie ja richtig sagen, gibt es zwar Tendenzen, die da auch, ... die leichten Erosionserscheinungen deutlich machen – und wenn man das akkumuliert, dann kann das langfristig auch wirklich zu einem Problem werden –, aber die gefühlten Ängste scheinen tatsächlich eher das stärkere Problem zu sein. Mittelschichten, insbesondere Mittelschichten, sind sehr beunruhigt über ihre Zukunftsaussichten, was nicht zuletzt sich daran ablesen lässt, dass eben die allermeisten nicht mehr von dem Ziel getrieben sind, dass ihre Kinder es einmal besser haben sollen als sie, sondern von der Sorge, dass sie es schlechter haben könnten als sie selbst.
Netz Sie sagen schon, eigentlich ist es nicht so sehr eine reale als eher eine gefühlte Angst, aber warum ist die denn dann so groß, wenn der Trend der Mittelschicht abzurutschen gar nicht so groß ist?
Rosa Weil Verunsicherungen zugenommen haben, der Grad der Sicherheit, auch der Erwartungssicherheit nimmt ab. Also was wir wissen, ist, dass sehr viel mehr Menschen Angst darum haben, zum Beispiel ins Prekariat abzurutschen beziehungsweise ihren Arbeitsplatz zu verlieren, unter schlechteren Bedingungen leben zu müssen. Und dafür gibt es wiederum auch empirische Indikatoren, die das stützen. Also selbst wenn Menschen sich in Mittelschichtenverhältnissen erhalten können, was zum Beispiel das Einkommen anbelangt, können sie das nicht mehr mit Sicherheit annehmen oder mit großer Gewissheit. Das heißt, was da steigt, ist das Gefühl der Beunruhigung und gleichzeitig das Gefühl, dass man sich wesentlich mehr anstrengen muss, nicht um, damit es einem besser geht, damit man ein besseres neues Ziel erreicht, sondern eben um seinen Platz zu halten. Also es sind Verunsicherungserfahrungen, die durchaus mit sozialen Veränderungen zu tun haben.
Netz Hat das auch alles damit zu tun, dass früher ja alle in einer Krise auf den nächsten Aufschwung gewartet haben, heute aber eigentlich niemand mehr richtig damit rechnet, dass die wirtschaftliche Lage sich noch mal entscheidend verbessert, also sozusagen, dass auch die gesamtwirtschaftliche Perspektive zum Besseren eigentlich kaum jemand mehr sieht?
Rosa Ja, ich glaube, das ist ein ganz, ganz wesentlicher Gesichtspunkt. Also, auch Verteilungsprobleme in der Gesellschaft, bei der es ja so um Fragen von Schichten und Status ständig geht, die lassen sich lösen mit stabilen Wachstumsperspektiven, zumindest lassen sie sich entschärfen. Und da, wo die nicht mehr vorhanden sind, und das ist in der Tat in unseren westlichen gesättigten, etablierten Gesellschaften so, verschärfen sich Verteilungskonflikte und dann auch Abstiegsängste. Also es ist ja eigentlich sogar eine doppelte Angst, die die Menschen da quält, und ich würde sagen zu Recht quält. Die eine Angst ist die, dass wir überhaupt keine stabilen Wachstumsaussichten mehr haben, das es, dass wir Wachstum kaum mehr in Gang bringen können, und wenn ja, dann nur zu einem hohen Preis und nicht in großem Maße. Und das andere ist, dass Menschen auch das Gefühl haben, dass selbst Wachstum ihnen nichts mehr bringt, zumindest nicht an Lebensqualität, dass sie selbst durch Zuwächse in der Einkommensdimension sich ihr Leben oder das ihrer Kinder nicht wesentlich verbessert, sondern dass die Stressfaktoren und die Verunsicherungsfaktoren sogar dann zunehmen, wenn wir noch Wachstumsprognosen haben, sodass also die Fortschrittshoffnung sich ziemlich verdüstert hat und stattdessen die Anpassungszwänge in der Wahrnehmung immer stärker werden. Und das beunruhigt nicht nur die Mittelschicht.
Netz Stärkere Verteilungskonflikte, sagen Sie Herr Rosa, was kommt denn da auf uns zu?
Rosa Die sozialen Sicherungssysteme und Verfahren, die wir kannten aus der Vergangenheit, die beruhten darauf, dass wir permanente Zuwachschancen hatten und im Umbau nicht nur der Sozialsysteme oder der sozialen Sicherungssysteme, sondern natürlich auch der ökonomischen Verhältnisse im Blick auf globale Wettbewerbsverhältnisse bedeuten, dass die Spielräume für Verteilung, für Umverteilung und Ausgleich erst einmal knapper werden. Und daraus haben natürlich einige mit guten Gründen eine Verschärfung sozialer Kämpfe vorhergesagt. Ich bin gar nicht sicher, ob das passiert, weil man natürlich auch sieht, dass häufig die Exklusion dann, das Zurückbleiben, das Ausgeschlossenwerden von wertvollen Verteilungssphären nicht zu Kampf, sondern zu Resignation führen kann. Also möglicherweise sehen wir auch einfach eine Gettoisierung von Gesellschaften, wo dann große Teile entstehen, die im Prinzip abgekoppelt sind vom sozialen und öffentlichen Leben.
Netz Herr Rosa, wenn ich Ihre pessimistische Prognose so höre, dann ist die Statuspanik der Mittelschicht, von der ich am Anfang sprach, durchaus berechtigt.
Rosa Langfristig gibt es eine ganze Reihe von Gründen für Beunruhigung, wobei man auf der anderen Seite auch sagen muss, dass es immer Gründe für Beunruhigung gab. Also mindestens in modernen Gesellschaften, aber wahrscheinlich war das auch vorher schon so, gab es immer gute Gründe dafür zu sagen, wir müssen aufpassen, da gibt es Krisentendenzen, Krisenphänomene, besonders moderne Gesellschaften waren immer Krisengesellschaften. Insofern weiß keiner so genau, was langfristig passiert. Von der zeitdiagnostischen Perspektive kann man schon sagen, dass die Beunruhigung, also die Idee, dass die sichere Erwartung von Stabilität und Wachstum sich momentan nicht mehr gut begründen lässt, dass also Beunruhigungen, die dadurch ausgelöst werden, in der Tat gerechtfertigt sind.
Netz Sagt Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena.
Hartmut Rosa Ja, das, glaube ich, kann man schon sagen. Also wie Sie ja richtig sagen, gibt es zwar Tendenzen, die da auch, ... die leichten Erosionserscheinungen deutlich machen – und wenn man das akkumuliert, dann kann das langfristig auch wirklich zu einem Problem werden –, aber die gefühlten Ängste scheinen tatsächlich eher das stärkere Problem zu sein. Mittelschichten, insbesondere Mittelschichten, sind sehr beunruhigt über ihre Zukunftsaussichten, was nicht zuletzt sich daran ablesen lässt, dass eben die allermeisten nicht mehr von dem Ziel getrieben sind, dass ihre Kinder es einmal besser haben sollen als sie, sondern von der Sorge, dass sie es schlechter haben könnten als sie selbst.
Netz Sie sagen schon, eigentlich ist es nicht so sehr eine reale als eher eine gefühlte Angst, aber warum ist die denn dann so groß, wenn der Trend der Mittelschicht abzurutschen gar nicht so groß ist?
Rosa Weil Verunsicherungen zugenommen haben, der Grad der Sicherheit, auch der Erwartungssicherheit nimmt ab. Also was wir wissen, ist, dass sehr viel mehr Menschen Angst darum haben, zum Beispiel ins Prekariat abzurutschen beziehungsweise ihren Arbeitsplatz zu verlieren, unter schlechteren Bedingungen leben zu müssen. Und dafür gibt es wiederum auch empirische Indikatoren, die das stützen. Also selbst wenn Menschen sich in Mittelschichtenverhältnissen erhalten können, was zum Beispiel das Einkommen anbelangt, können sie das nicht mehr mit Sicherheit annehmen oder mit großer Gewissheit. Das heißt, was da steigt, ist das Gefühl der Beunruhigung und gleichzeitig das Gefühl, dass man sich wesentlich mehr anstrengen muss, nicht um, damit es einem besser geht, damit man ein besseres neues Ziel erreicht, sondern eben um seinen Platz zu halten. Also es sind Verunsicherungserfahrungen, die durchaus mit sozialen Veränderungen zu tun haben.
Netz Hat das auch alles damit zu tun, dass früher ja alle in einer Krise auf den nächsten Aufschwung gewartet haben, heute aber eigentlich niemand mehr richtig damit rechnet, dass die wirtschaftliche Lage sich noch mal entscheidend verbessert, also sozusagen, dass auch die gesamtwirtschaftliche Perspektive zum Besseren eigentlich kaum jemand mehr sieht?
Rosa Ja, ich glaube, das ist ein ganz, ganz wesentlicher Gesichtspunkt. Also, auch Verteilungsprobleme in der Gesellschaft, bei der es ja so um Fragen von Schichten und Status ständig geht, die lassen sich lösen mit stabilen Wachstumsperspektiven, zumindest lassen sie sich entschärfen. Und da, wo die nicht mehr vorhanden sind, und das ist in der Tat in unseren westlichen gesättigten, etablierten Gesellschaften so, verschärfen sich Verteilungskonflikte und dann auch Abstiegsängste. Also es ist ja eigentlich sogar eine doppelte Angst, die die Menschen da quält, und ich würde sagen zu Recht quält. Die eine Angst ist die, dass wir überhaupt keine stabilen Wachstumsaussichten mehr haben, das es, dass wir Wachstum kaum mehr in Gang bringen können, und wenn ja, dann nur zu einem hohen Preis und nicht in großem Maße. Und das andere ist, dass Menschen auch das Gefühl haben, dass selbst Wachstum ihnen nichts mehr bringt, zumindest nicht an Lebensqualität, dass sie selbst durch Zuwächse in der Einkommensdimension sich ihr Leben oder das ihrer Kinder nicht wesentlich verbessert, sondern dass die Stressfaktoren und die Verunsicherungsfaktoren sogar dann zunehmen, wenn wir noch Wachstumsprognosen haben, sodass also die Fortschrittshoffnung sich ziemlich verdüstert hat und stattdessen die Anpassungszwänge in der Wahrnehmung immer stärker werden. Und das beunruhigt nicht nur die Mittelschicht.
Netz Stärkere Verteilungskonflikte, sagen Sie Herr Rosa, was kommt denn da auf uns zu?
Rosa Die sozialen Sicherungssysteme und Verfahren, die wir kannten aus der Vergangenheit, die beruhten darauf, dass wir permanente Zuwachschancen hatten und im Umbau nicht nur der Sozialsysteme oder der sozialen Sicherungssysteme, sondern natürlich auch der ökonomischen Verhältnisse im Blick auf globale Wettbewerbsverhältnisse bedeuten, dass die Spielräume für Verteilung, für Umverteilung und Ausgleich erst einmal knapper werden. Und daraus haben natürlich einige mit guten Gründen eine Verschärfung sozialer Kämpfe vorhergesagt. Ich bin gar nicht sicher, ob das passiert, weil man natürlich auch sieht, dass häufig die Exklusion dann, das Zurückbleiben, das Ausgeschlossenwerden von wertvollen Verteilungssphären nicht zu Kampf, sondern zu Resignation führen kann. Also möglicherweise sehen wir auch einfach eine Gettoisierung von Gesellschaften, wo dann große Teile entstehen, die im Prinzip abgekoppelt sind vom sozialen und öffentlichen Leben.
Netz Herr Rosa, wenn ich Ihre pessimistische Prognose so höre, dann ist die Statuspanik der Mittelschicht, von der ich am Anfang sprach, durchaus berechtigt.
Rosa Langfristig gibt es eine ganze Reihe von Gründen für Beunruhigung, wobei man auf der anderen Seite auch sagen muss, dass es immer Gründe für Beunruhigung gab. Also mindestens in modernen Gesellschaften, aber wahrscheinlich war das auch vorher schon so, gab es immer gute Gründe dafür zu sagen, wir müssen aufpassen, da gibt es Krisentendenzen, Krisenphänomene, besonders moderne Gesellschaften waren immer Krisengesellschaften. Insofern weiß keiner so genau, was langfristig passiert. Von der zeitdiagnostischen Perspektive kann man schon sagen, dass die Beunruhigung, also die Idee, dass die sichere Erwartung von Stabilität und Wachstum sich momentan nicht mehr gut begründen lässt, dass also Beunruhigungen, die dadurch ausgelöst werden, in der Tat gerechtfertigt sind.
Netz Sagt Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena.